Abschnitt. 8 - Der Dom zu Erfurt ist sehenswert, aber ...

Geld ist nun da, sag ich, und darum könnten die Herren die Besuchsordnung ebenso würdig und praktisch regeln wie in Köln oder Straßburg. Und auch etwas anderes könnte würdiger geordnet sein; die Cavaten sind als Lagerräume für Porzellan, Eisen, Sämereien usw. vermietet. Das stört nicht, solange die Räume geschlossen sind. Aber sie sind selten geschlossen, und in jedem Raum steht die Geschäftstafel des Mieters, auch Verkäufer mit freundlich einladender Miene werden ab und zu sichtbar. Als der Pater an meiner Seite die Treppe des Doms hinabstieg und diese offenen Lagerräume am Gotteshause sah, blieb er stehen, und glühende Röte schlug über sein edles, durchgeistigtes Antlitz, dann wurde er sehr bleich. Wir gingen weiter, noch einmal blieb er stehen, setzte zum Reden an, schwieg dann aber. Es war auch nicht nötig. Ich verstand ohne Worte, was sein feines, frommes Gemüt dabei empfand...
Der Dom zu Erfurt ist sehenswert, aber seltsam und der Widersprüche voll. In noch weit höherem Maß gilt dies alles von dem Stadtbild. Und nun ich von diesem zu reden beginne, habe ich sowenig wie bei Zerbst und Wörlitz die Unterbrechung zu fürchten: „Aber das ist ja bekannt!“ Denn auch Erfurt kennt man nicht, und es ist mir rätselhaft, daß von den Millionen Touristen, die alljährlich vorbeisausen oder ringsum den Sommer verbringen, so wenige herkommen.
Keine Fremdenstadt; man merkt's überall, nicht bloß an Christoph Martin Wieland und Genossen. Ich sehe davon ab, daß ich in den Sammlungen am Hospitalsplatz der einzige Besucher war, während ich im Museum am Anger leider ein einheimisches Liebespaar störte. Und wenn in Gretchens braunen Augen (so hieß sie; „Gretchen, schnell noch einen Kuß, da kommt der Kerl wieder!“) die bange Frage stand: „Wenn Erfurter junge Liebe sogar im Museum nicht mehr sicher ist, wohin soll sie noch flüchten?“, so antworte ich: „Getrost, Kinder, diese Stellen märchenhafter Einsamkeit bleiben euch erhalten!“ Denn wissenschaftliche Sammlungen sind nicht jedermanns Sache, und im Museum kann man nur erfahren, daß auch in Erfurt mittelmäßige Maler geboren worden sind. Aber warum trifft man hier auch an interessanten Orten so wenig Fremde?
Die Antwort ist schwer. Bauernfeld erwiderte mir einmal auf eine ähnliche Frage – es war von Wien die Rede –: „Wer erwartet hier die Fremden?“ Natürlich ist auch daran was, und in Erfurt erwartet sie niemand. Alles, was man Fremdenindustrie nennt, in argem Gegensatz zur Größe der Stadt; die Sehenswürdigkeiten schwer oder gar nicht zugänglich. Der katholische Dom hat doch mindestens eine, wenn auch recht eigentümliche Besuchsordnung; die evangelischen Kirchen aber – nach meinen Erfahrungen geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr, ehe denn ein Fremder in ihr Inneres gelangt.
Hier einige dieser Erfahrungen. Die Barfüßerkirche, ein massiver, frühgotischer Bau, der Turm ein Prachtstück, das Innere angeblich ebenbürtig, die Türe verschlossen. Ich frage die Vorübergehenden, wo ich den Küster finden könne. Nummer eins, dicker Schlächter, mürrisch: „Weeß nich!“ Nummer zwei, Gebildeter, belehrend: „Hier sieht man sich nur den Dom an!“ Nummer drei, dünner Schneider, lächelnd: „Aber da is ja jetzt keene Katz drinne! Was wollen Sie da siehn?“ Endlich Nummer vier, ein Kanzleirat, oder doch einer, der das Würdevolle an sich hat: „Aber, mein Herr! – Der Eintritt ist ja doch durch dies Gäßchen rechts rum, übern Hof!“ Nun ja, die Fremden sind so unglaublich dumm, sie fragen nach Dingen, die jedes Kind in Erfurt weiß, aber dann muß man sie auch mitleidig zurechtweisen. Ich fand den Hof und da – ja, eine Tafel! – die Besuchsordnung! Aber auf der Tafel stand: „Unbefugten ist der Zutritt zum Schulhof untersagt. Der Magistrat.“ Ich überlege: Das ist also ein Schulhof, diesen zu betreten bin ich unbefugt, aber da hier zugleich der Eintritt zu einem der schönsten Bauwerke dieser Stadt ist, so darf's der Kunstfreund wagen. Nur nützte es mir nichts; auch diese Pforte ist geschlossen; zehn Minuten dauert's, bis ich die Wohnung des Küsters erfrage, weitere zehn, bis ich sie finde – aber „där Häär schläääft seit Ains“, sagt sein Mädchen. Nach der Breite ihres Dialekts zu schließen schläft er behaglich. Küsterschlaf ist heilig, aber es ist fünf, ein Nachmittagsschläfchen von vier Stunden ist für Nicht-Küster genügend, so murmle ich was von gutem Trinkgeld, Kirche besehen usw. „Und darum soll äch ihn wääcken?“ ruft sie entrüstet und wirft mir die Tür vor der Nase zu. So hatte ich ein halbes Stündchen ebenso nützlich wie angenehm verbracht.
Nicht besser erging's mir bei der Predigerkirche. Gleichfalls ein frühgotischer Bau, das Innere ein Juwel nach dem Urteil aller, die es gesehen; nachdem ich mit schwerer Mühe die Wohnung des Küsters erfragt, war er nicht zu Hause. Ich mochte wohl eine sehr betrübte Miene gemacht haben, denn die Frau tröstete: „Aber Sie können's ja uffschreiben! Is es än Junge oder än Mächen?“ Sie hielt mich für einen glücklichen Vater, der ein Kind zur Taufe anzumelden kam. Schüchtern gestand ich ihr meinen Zweck. „So, so!“ sagte sie. „Ja, das will bald alle Monate einer, aber merschtentels is es nischte dermit!“ Auch bei mir war's „nischte dermit“. Was endlich die uralte Reglerkirche von 1135 betrifft, deren Inneres als wohlerhaltenes Muster romanischen Stils gerühmt wird, so mag sie vielleicht auch einen Küster haben, aber – das behaupte ich steif und fest – dieser Küster wohnt nicht, denn sonst hätt ich ihn gefunden; suchte ich ihn doch schließlich mit Hülfe eines mitleidigen Schutzmanns...
Aber, wird man fragen, gibt's keinen Spezialführer für Erfurt, der über derlei Dinge Auskunft gibt? Freilich gibt's einen, sogar einen offiziell von der Stadt geförderten, aber der Herr Verfasser feiert nur eben alles in und um Erfurt mit denselben überschwenglichen Phrasen und in demselben üblen Deutsch; der Mann hat seinen Beruf verfehlt, welch ein schlechter Lyriker hätte er werden können! Sein Führer enthält vielerlei, was kein anderes solches Büchlein bietet, zum Beispiel ein Verzeichnis der Wohltätigkeitsanstalten, die gemütvollen Verse eines geborenen Erfurters, der sich nun „im Sand der Marken“ vergeblich nach seiner Heimatstadt sehnt, weil ihm „das Geschäft gebieterisch in die Zügel fällt“, auch eine Übersicht der Volks- und Bürgerschulen, kurz, was so der Fremde vor allem braucht, aber so nüchterne Angaben, wann und wie man etwas zu sehen kriegt, entstellen das empfehlenswerte, bei Orell Füßli in Zürich erschienene Buch nicht. Auch mit der alten Schablone, wonach den Nummern des Stadtplans immer eine arithmetisch geordnete Erklärung dieser Nummer beigefügt wird, so daß man, wenn man ein Gebäude sucht, seine Nummer finden oder, wenn man nach dem Plane geht, erfahren kann, was Nr. 172 bedeutet, ist hier gebrochen, ein solches Verzeichnis gibt es nicht, und der Plan selbst ist auch was ganz Neues. Sonst ist auf allen Karten und Plänen der Welt rechts Osten, links Westen, oben Norden, unten Süden; hier ist mal zur Abwechslung oben Westen, unten Osten, rechts Norden, links Süden, was für den Fremden, der gewohnt ist, sich gleichzeitig nach dem Plan und dem Sonnenstande zu richten, ein unfehlbares Mittel ist, binnen einer Viertelstunde vor Ärger aus der Haut zu fahren. Das aber wird nur der Choleriker tun; der Sanguiniker hingegen wird nach Baedekers kleinem, aber klaren Plänchen gehen und diesen großen, auf schönem Papier gedruckten Plan einem anderen Zweck zuführen. Ich bin ein Sanguiniker... Noch eins, auch nichts Großes, aber wie bezeichnend! In allen guten, alten Städten gibt's aus den guten, alten Tagen gute, alte Steinbänke auf jedem Platz, auf jeder Stelle, von wo man einen hübschen Blick hat, und in neuester Zeit fügen die Städte mit Fremdenverkehr neue bequeme Holzbänke mit Rückenlehnen hinzu; der Wanderer dankt's ihnen im stillen, der Einheimische vielleicht nicht minder. Ohne Zweifel gab's auch in Erfurt einst viele solche alte Bänke; noch heut sieht man Reste davon, aber die meisten sind entfernt und neue nicht hinzugekommen. Wozu auch? Man läuft hier eben seinen Geschäften nach. Um mir auch einmal ein Superlativ zu gönnen: Erfurt ist die bankloseste Stadt Deutschlands.