Abschnitt. 6 - „Das weeß ech nech!“

Die meisten wären nicht wiedergekommen, ich tat's und fing es diesmal sehr schlau an. Ich kam am Nachmittag, wo der Gourmet bereits gespeist haben mußte, und umstrickte die kleine, dicke Frau, die mir die Karte verkaufte, mit den raffiniertesten Verführungskünsten. Da sie ein Mäulchen zog, weil ich die „Beschreibung“ nicht nochmals kaufen wollte, so erwarb ich flugs ein zweites Exemplar, „als Andenken an Sie!“, aber nun willfahrte sie auch meiner Bitte: „Sie wissen gewiß am besten Bescheid und führen mich selbst.“ Als sich das Portal hinter uns geschlossen hatte und wir allein im Dom waren, da sank ich zwar vor der Holden nicht auf die Knie, aber ich gab ihr eine Mark: „Sie lassen mir aber Zeit, erklären nichts und zeigen mir nur, wonach ich frage.“ Eine halbe Stunde hielt sie den Pakt ein, dann wurde sie ungeduldig: „Andere sind in zehn Minuten fertig!“, und endlich erwiderte sie auf meine Fragen, wo dieses und jenes wäre: „Das weeß ech nech!“ oder: „Das wird nech gezeigt“ oder gar: „Damit is nischt los!“ Da ich aber nicht glauben konnte, daß mit dem in jeder Kunstgeschichte gerühmten „Wolfram“, einem der frühesten Erzeugnisse deutscher Gießkunst, „nischt los“ sein sollte, so ließ ich eine zweite Mark lockend an ihrem Horizont auftauchen. Aber diesmal versagte das Zaubermittel. „Nu müssen meu Goffee drinken, lieber Herre, mei' Mann hält sihre druff.“ O dieser Gourmet!...
Wenn ich all die Kunstschätze und Kuriositäten schließlich doch sehr gründlich sehen konnte, so danke ich dies einem freundlichen Zufall. Auf einer Bank des Steigerparks kam ich mit einem älteren Priester, einem Jesuiten vom Rhein , in ein langes, angeregtes Gespräch. Und wären zwei Menschen durch noch so vieles getrennt, worüber jeder anders urteilt – wirklich trennend sind nie Urteile, nur Vorurteile; und haben die beiden etwas gemeinsam, so finden sie sich ineinander; hier war's die ehrliche Freude an der Kunst... In Begleitung dieses Mannes also habe ich den Dom zum vierten Male betreten und zum ersten Male wirklich gesehen.
Es war der Mühe wert. Ich schreibe ja keinen Reiseführer noch will ich der famosen „Beschreibung“ Konkurrenz machen, ich will persönliche Eindrücke wiedergeben und erzähle daher nur von dem, was im Guten oder minder Guten stark auf mich gewirkt hat. Das Schönste scheint mir jener Erzguß des Peter Vischer – o Henning Göden, was warst du klug! Als Propst rund, als Jurist spitz, hast du den Wittenberger Studenten vor 400 Jahren den Gaium und Ulpianum so fein ausgelegt, daß ihnen die ganze Welt wie ein Stachelgärtlein voll Paragraphen erschien, und über die kleinsten Kontroversen hast du die dicksten Wälzer geschrieben und wärest heute doch mit all deinen Büchern spurlos verschollen, wenn du nicht kurz vorm Sterben den vortrefflichen Einfall gehabt hättest, um ein groß Stück Gold bei dem edlen Nürnberger Meister diese Votivtafel zu bestellen. Wer nun vor das herrliche Werk tritt, denkt freilich zunächst nicht an dich und nicht einmal an den Meister, sondern läßt sich den Glanz dieser stillen, schlichten Schönheit ins Auge leuchten – welche rührende Anmut umfließt die Gestalt und das in seliger Demut geneigte Haupt der Maria, während Gott Vater und Sohn die Krone über ihr halten; oben schwebt die Taube, und unten schalmeien die lieben Englein, und wie ein Widerklang ihrer feinen Musik tönt's uns durchs eigene schönheitsfreudige Gemüt. Schöneres hat selbst Peter Vischer selten gemacht als diese Tafel, nur das Sebaldusgrab und das Regensburger Christusrelief mögen noch herrlicher sein. Aber hat man sich dies alles gesagt, so gedenkt man auch deiner, Henning Göden, der du dich am Fußende mit deinem Schutzpatron, dem Evangelisten Johannes, hast abbilden lassen, und freut sich, wie klug du warst, doppelt klug, da du auch gleich eine Wiederholung für die Schloßkirche zu Wittenberg bestelltest.
Anders der zweite Donator, dem diese Kirche Herrliches dankt. Wir wissen nichts von ihm als den Namen: Wolfram Hilderich, und daß er ein starker Mensch war, stark an Körper, stark im Sündigen und stark im Büßen. So um 1100 mag der Hüne mit dem leidenschaftlichen Antlitz gelebt, genossen und gefehlt haben; es muß Schweres gewesen sein, womit er sich beladen, denn schwer war auch die Buße: er hat sich selbst als Büßer in Bronze formen lassen; die beiden flehend zur Madonna emporgehobenen Hände tragen je eine Kerze, aus dem demütig gesenkten Nacken steigt eine dritte hervor; auf dem Gürtel, der das härene Gewand zusammenhält, ist sein Name eingegraben und die Bitte, ihm flehen zu helfen, daß ihm die Gnade Gottes werde. Sie ist ihm geworden, denn seine Schuld ist vergessen, jedoch seine Buße erschüttert und erhebt noch heute die Herzen. Es muß ein begabter Künstler gewesen sein, der die Gestalt geformt hat, gleichwohl hätte er die Gestalt nicht so beseelen, mit so ergreifendem Ausdruck erfüllen können, wenn ihn nicht die unerhörte Aufgabe und sein unseliges Modell selbst ins tiefste Herz hinein bewegt hätten. Die Reliefs an der Hildesheimer Domtüre, das einzige ebenbürtige Werk aus den Anfängen deutscher Erzgießkunst, das sich mit dem „Wolfram“ messen kann, sind ja in der Erfindung reicher, aber an beseeltem Leben steht der „Wolfram“ auf einsamer Höhe.
Neben diesem Herrlichen enthält die Kirche viel Schönes. So Lucas Cranachs des Älteren „Vermählung der heiligen Katharina“, ein schönes Bild, das nur seine Vorzüge aufweist und namentlich von seinem schwersten Fehler, der Spießbürgerlichkeit, frei ist; das Holzrelief einer Grablegung Christi, das freilich weder von Adam Kraft noch von Veit Stoß, noch von Michael Wohlgemuth herrühren dürfte, denen es abwechselnd zugeschrieben wird, aber doch durch den edelschönen Kopf der Maria, das merkwürdig beseelte Antlitz der Magdalena diese Hypothesen begreiflich macht, während der Christus selbst durch seinen furchtbaren Naturalismus den Gedanken an diese Meister ausschließt; das Grabmal der 1576 ausgestorbenen Familie von der Weser in reichster und edelster Renaissance, rechts die Männer, links die Frauen, in der Mitte aber, ganz einsam, das schöne Kind, mit dem das Geschlecht ausstarb, ein rührendes Bild.
Schön und rührend ist auch ein Erzeugnis des Kunstgewerbes, ein Gemälde in Plattstich, das die heilige Jungfrau in Gestalt eines holden, anmutigen Bürgermädchens des 16. Jahrhunderts darstellt, und vor allem schön ist das Chorgestühl, soweit nicht daran herumrestauriert worden ist. Ernste und lustige, tolle und wehmütige Gesichter und Gestalten, die Tugenden und Laster der Menschen, dazwischen herrliche Arabesken, alles bis ins kleinste ausgestattet und individualisiert – eine ganze Welt im kleinen. Welch ein Künstler muß der Mann gewesen sein, der dies Gestühl im 15. Jahrhundert schnitzte, aber welch ein Stümper der Mann, der's im 19. restaurierte! Welch ein Stümper! – wo er sein Schnitzmesser ansetzte, ging die Schönheit zum Teufel. Wie war derlei möglich, fragt man sich, und nicht hier allein. Auf Schritt und Tritt begegnet man solchen Todsünden aus neuerer und neuester Zeit. Das größte und wohl ursprünglich beste Wandgemälde der Kirche, der „Christophorus“, einige Glasmalereien, dann ein alter mystischer hortus conclusus: „Die heilige Jungfrau, das Einhorn liebkosend“ usw. usw. – sie alle mußten gerettet werden, und sollten sie darüber zugrunde gehen, und sie sind zugrunde gegangen! Restaurieren ist eine heikle Sache, ähnliches hat man auch anderwärts zu beklagen, nur nicht in solcher Fülle.