Abschnitt. 5 - „Das Bier is gar sihre gued“

In dieser Reihenfolge beschloß ich die Stadt zu besehen. Aber schwer war ich auf den Steiger gekommen, noch schwerer sollte ich hinunter. Als ich in den Biergarten kam, erkannte ich, daß mein Kutscher gleich seinem berühmten Namensvetter Anakreontiker war, aber in seiner Art; er war sternhagelvoll besoffen. „Das Bier is gar sihre gued“, sagte er zu seiner Entschuldigung und reichte mir freundlich sein Glas zum „Probiehren“... Ich äußerte meine Zweifel, ob er sich auf dem Kutschbock werde halten können. „Passiehren dhud nischt! Eech bin dooch von Gudhe her gewohnt, Bierfässer zu fahren!“ Und in der Tat brachte er sich und mich heil auf den Friedrich-Wilhelm-Platz, wie der Domplatz offiziell heißt.
Die Erfurter gebrauchen keinen dieser Namen, ihnen heißt der Platz: „Vorm Grähden.“ – „Warum?“ fragte ich einen Barbier am Platze. „Ich find's in keinem Buch!“
Er sah mich erstaunt an. „Weil es so heeßt“, erwiderte er, und ein „Herr Doktor“ titulierter Kunde lächelte ironisch über den seltsamen Fremden: „So was steht doch in keinem Buch!“ Ich versuchte es nun mit einem Schuster; das sind ja die richtigen Grübler und Sinnierer. In der Tat traf ihn die Frage nicht unvorbereitet. „For gewiß“, sagte der wackere Meister bedächtig, „weeß man's nicht, aber hier duht man viel Fische äßen, besonders die Ghadolschen, und ghadolsch is ja die Girche, und Fische dhun viel Grähden ha'n; ob's nech dadervon kohmen dähte?“ Es kommt nicht davon, sondern ist – ein seltener Fall in Mittel- und Norddeutschland, ein häufiger an Rhein und Mosel – die Verballhornung des einstigen lateinischen Namens: Forum ad gradus hieß der Platz im Mittelalter; es gibt also doch Bücher, in denen „so was“ steht. Der „Platz an den Stufen“, denn eine mächtige Freitreppe führt von hier die Höhe des Marienbergs zum Dom empor. Der Platz ist wohl der größte Deutschlands – ich wenigstens kenne keinen größeren –, und des darf sich der Beschauer freuen; so ist ihm die richtige Perspektive für eines der herrlichsten Architekturbilder gegönnt, die wir in Deutschland haben, und das will gottlob was sagen. Als ein majestätisches Bauwerk wirkt der Dom, von wo immer gesehen, am schönsten erscheint er von der Ostseite dieses Platzes. Über riesigen steinernen Höhlungen steigt von hier aus dem Auge, alles andere deckend, das prächtige Chor empor; auch wer das Straßburger Münster oder St. Stefan zu Wien genau kennt, wird entzückt sein; dieser Teil des Doms gehört zu dem Edelsten und Feinsten, was die Gotik auf deutschem Boden geschaffen hat. Rechts vom Chor, über der Freitreppe, wird das reiche, edle Hauptportal sichtbar, und noch weiter zur Rechten schließen die drei spitzen, metallen schimmernden Türme der Severikirche das Bild ab. Wer es sieht, wird es nie vergessen.
Immer wieder, sooft ich den Dom oben genau besehen hatte, kehrte ich zu diesem Standort zurück, mir den vollen, reinen Eindruck wiederzugewinnen. Denn aus nächster Nähe sind nur einzelne Teile schön, aber andere nicht; weniges stimmt zusammen, und immer wieder drängt sich in die Freude des Genießenden eine Frage. Zwar welchen Zweck das Riesenwerk der „Gefahden“, wie die Erfurter sagen, der zyklopischen Steinbogen (cavatae) erfüllt, ist leicht einzusehen: der Hügel bot eben für ein großes Chor keinen Raum mehr, und so mußte der Boden künstlich erweitert werden; aber warum stößt das Chor in unschönem spitzen Winkel aufs Schiff? Das Chor (um 1350 erbaut) ist ja an sich herrlich, namentlich auch das Steinfiligran der Fenster von bewunderungswürdigem Reichtum der Phantasie, aber daß es, ohnehin viel breiter und höher als das Schiff, obendrein zu diesem schief steht! Auch die drei gewaltigen romanischen Türme aus dem 12. Jahrhundert, der älteste Teil der Kirche, wirken für sich betrachtet wuchtig genug, aber wer kann sie so betrachten? Sie erheben sich über der Stelle, wo Chor und Langhaus zusammentreffen, also gerade über dem spitzen Winkel, und recht sieht man sie nur von der Severikirche aus. Das Seltsamste aber, was man an der Außenseite des Domes gewahrt, ist zugleich ihr schönster Schmuck: das Hauptportal, das „Triangel“; an der Ostseite springt ein Dreieck hervor, in dem sich rechts und links eine Eingangstür öffnet. Beide Portale sind ganz herrlich, sie gehören zu dem Edelsten, was alte deutsche Bau- und Bildhauerkunst geschaffen hat, beide sind im Aufbau gleich; unter dem mit Rosenornamenten überkleideten Giebel die nach innen abgestuften Spitzgewölbe; verschieden sind nur die kleineren Ornamente und die Bildsäulen; am linken Portal die zwölf Apostel, am rechten die fünf klugen und die fünf törichten Jungfrauen und, um die Symmetrie zu wahren, die triumphierende Kirche und die besiegte Synagoge. In den kleinen Zieraten welche Fülle der Erfindung, in den Bildsäulen welche Kraft der Charakteristik; für die frühe Zeit, das 14. Jahrhundert, von wunderbarer Lebendigkeit des Ausdrucks; die Verzweiflung im Antlitz der törichten, der Jubel in dem der klugen Jungfrauen, der Stolz der Kirche, die dumpfe Trauer der Synagoge – wie hat der alte Meister dies alles verbildlicht! Aber es stört sehr, daß die beiden Portale zueinander und zum Schiff schief stehen, und sagt man sich, dieses Rätsel müsse sich eben aus dem beschränkten Raum, aus der Baugeschichte erklären, so hört doch die Empfindung nicht auf die Vernunft. Andere Rätsel wieder bleiben es auch für die Vernunft. Warum haben sie zwischen die alten Bildsäulen des Chors solche von gestern gestellt, warum wirkt von dem neuen Schmuck so weniges künstlerisch? Auch der Eindruck jenes riesigen Mosaikbildes, dessen goldiger Schein mir so unauslöschlich im Gedächtnis haftete, ist von hier aus kein reiner. Es schmückt den Westgiebel. Von tiefblauem Rahmen umgeben ein mächtiger Goldgrund, von dem sich in fünffacher Lebensgröße die Madonna in blaurotem Gewand, das Jesuskind auf dem Arm, abhebt. „Äächtes Gold“, sagen die Erfurter stolz, und daran zweifle ich nicht, aber mir war zumut, als müsse das grelle, gleißende Riesenbild dem feinen, altersgrauen Ornament des Giebels wehe tun. Offenbar eine Nachahmung des uralten Madonnenbildes an der Marienburg, aber derlei Experimente sind immer bedenklich; wir haben andere Nerven, andere Sinne. Ich denke, es ist nicht zu bedauern, daß kein anderer deutscher Dom sich neuerdings solchen Schmuck angetan hat.
Auch im Innern des Doms wird man die Fragen, die zwiespältige Empfindung nicht los. Der erste Eindruck bringt eine Enttäuschung; da ist nichts von der lichten Majestät des Straßburger, dem mystischen Zauber des Wiener Münsters. Ein recht freundlicher Raum, dem etwas Trivial-Behagliches anhaftet; das empfindet man sofort, aber es währt lange, bis man sich über die Gründe klar wird. Vor allem, der Raum ist fast quadratisch, nur winzig länger als breit; die beiden Seitenschiffe zudem viel breiter als das Mittelschiff; diese Form sind wir an Wohnräumen gewohnt, nicht an Kirchen. Auch stehen alle drei Schiffe unter einem Dache, und die Fenster sind in geringerer Höhe angebracht als sonst an Gotteshäusern; so fehlt das feierliche Licht von oben. Endlich aber, das im Winkel anstoßende Chor ist viel höher und heller; so hat man zunächst den Eindruck, als stände man in einem schief angebauten Vorraum des Chors. Erst allmählich überwindet man diesen Eindruck und kann das viele Schöne besehen, das hier zu finden ist.
Man kann es oder kann es nicht... Die Art, wie der Fremde hier behandelt wird, ist wirklich nicht nett und gottlob beispiellos. Es ist ein schöner, tiefsinniger Brauch der katholischen Kirche, die Gotteshäuser immer offen zu halten; am Erfurter Dom ist nur während der Messe ein Pförtchen unverschlossen. Zufällig kam ich das erste Mal zu solcher Stunde, fand das Pförtchen und trat ein. Da stürzte mir ein Bediensteter der Kirche entgegen: Der Eintritt sei nur für Erfurter frei; wenn ich etwa ein Fremder wäre, so hätte ich in der Küsterei eine Eintrittskarte zu lösen; sie koste 60 Pfennige, dazu die „Beschreibung“ 30 Pfennige, zusammen 90 Pfennige, also sehr billig, fügte er bei, „anderswo kostet's eine Mark“. Ich ging und kaufte mir Karte und „Beschreibung“ (das wohlgemeinte Schriftchen eines enthusiastischen Archivars). Mir war seltsam dabei zumut und wahrlich nicht der 90 Pfennige wegen, sondern ich dachte: Du bist nur hierhergekommen, um Schönes oder Merkwürdiges zu sehen, und bringst nur jene pietätvolle Empfindung mit, die jedermann einer Stätte schuldet, die für Millionen seiner Mitmenschen heilig ist, und du schon bist peinlich berührt. Wie erst mag's im Gemüt eines Fremden aussehen, der diese Kirche betritt, um Trost zu suchen, sein Herz aus dem Staube zu Gott zu erheben, und solchen Empfang findet?...
Die Begleitung einer langen, hageren Frauensperson war in den Preis inbegriffen. „Hier is“, begann sie hastig, „die Gröhnung von Peter Vischern“ – und kaum daß ich einen Blick auf den herrlichen Erzguß geworfen hatte: „Bitte, Herre, nu aber weiter, mehr als zwanzig Minuten kann ech nech bleiben.“ Ich bot eine Mark, wenn sie mir Zeit ließe. „Unmaeglich, un wenn's 'n Dhaler wär. De Supp brennt mir sonsten an; d'r Herr Oberkirchner hält auf guedes Äßen.“ Da ging ich gleich, denn weitere neunzehn Minuten durch den Dom gepeitscht zu werden, schien mir kein Vergnügen.