Abschnitt. 4 - Vor allem, dieser Kessel zwischen Waldbergen ist überaus fruchtbar, ...

Vor allem, dieser Kessel zwischen Waldbergen ist überaus fruchtbar, es schimmert nur so von Obstgärten, Blumen- und Gemüsebeeten; nur im Norden, wo der Kessel in die Ebene übergeht, wogt ein Ährenmeer; sonst ist der Boden für Getreide zu kostbar. Gewiß hat der Fleiß der Menschen dazu mitgewirkt, aber „so prangt eine Flur“, um mit dem alten Gellert zu sprechen, „nur durch Gottes Odem“. Der Naturforscher drückt es eben nur anders aus, wenn er uns belehrt: dieser Kessel war einst ein Seebecken, der Boden ist Muschelkalk, von einer dicken Humusschicht überzogen; und in diesem ergiebigsten Boden, den man wünschen kann, finden sich zudem auch Salzlager eingesprengt. Dazu der Fluß, die Wälder. Also Holz, Wasser, Brot und Salz in reichster Fülle, wie sonst kaum irgendwo in Thüringen – schon darum muß hier früh eine Siedelung entstanden sein.
Aber noch mehr: dieser Kessel war eine der frühesten menschlichen Wohnstätten in Europa; und er ist, was fast ein Unikum bedeutet, immer besiedelt geblieben. Dies freilich erkannte ich erst in den Sammlungen am Hospitalplatz, die mir Christoph Martin Wieland mit feinem historischen Sinn vor allem zu besichtigen empfohlen hatte. Mit den Funden aus der Steinzeit fängt ja wirklich die Geschichte Erfurts an, nur haben diese „Arforder“ nicht vor „dausend“ Jahren gelebt, sondern vor zehn- oder zwanzig- oder dreißigtausend Jahren, bestimmt kann uns das der gelehrteste Anthropologe nicht sagen. Denn die ältere Steinzeit, dies wirkliche Altertum der Weltgeschichte, wagt niemand aufs Jahrtausend abzumessen, die Zeit, da der Mensch, fast selbst noch ein Tier, in den Pausen von einer Vergletscherung zur anderen im Kampf mit dem anderen Getier, mit Mammut, Höhlenlöwe und Hyäne, sein Dasein fristete, und zudem verständigen sich die Gelehrten eben erst mit wuchtigen Höflichkeiten darüber, welcher Epoche der Steinzeit die hiesigen Funde angehören. Ich habe so viel davon verstanden, daß es sich um die Patina dieser Schaber aus Feuerstein, um die Form dieser Beile aus Bärenkiefern handelt, aber warum die Herren gar so grob zueinander sind, ist mir nicht klar geworden; oft wußte ich beim Lesen ihrer Abhandlungen nicht, handelte es sich noch um den alten Höhlenbären, den ursus spelaeus, oder um den neuesten, den ursus academicus. In der neueren Steinzeit aber waren die Abhänge des Kessels sicherlich schon besiedelt; diese ältesten unzweifelhaft nachweisbaren Erfurter hatten bereits Pferd und Rind gezähmt, waren Jäger und Ackerbauer zugleich, schliffen ihr Stein- und brannten ihr Tongerät. Auf Funde dieser Art trifft man auch anderwärts, die hiesigen sind nur eben durch Zahl und Form merkwürdig; sie erweisen, daß die Siedelung ununterbrochen durch all die Jahrtausende dieser Ära des Mittelalters der Menschheit bestand; an der Keramik läßt sich das Wachsen der Kunst von der einfachen Schnur- zur reichen Bandverzierung, an den Gräbern die Veredlung der Bestattung von der Verscharrung im Erdboden bis zum Sarg und der gemauerten Gruft, von ihr zur Leichenverbrennung verfolgen; ja, so weit waren sie schon um 2 000 vor Christus, wir sind's noch heute nicht. Und dabei blieb's bis heute; als fast beispiellose Erscheinung, sagt ich schon, ist zu verzeichnen, daß die Menschen diesen Boden niemals mehr verließen. Alle Abschnitte des Mittelalters der Menschheit: der Bronze-, der Eisenbronze- (Hallstatt-) Kultur und der Höhepunkt derselben, die La-Tène-Kultur, sind hier vertreten; anderwärts folgen sich die Geschlechter wie Blätter im Sturmwind; wird eines durch den Anprall des Hungers oder den anderer Menschen von seiner Scholle weggefegt, so bleibt diese oft durch Jahrhunderte verödet; hier folgen sie sich wie im Meer Welle auf Welle – hier hungerte niemand; der Boden war zu fruchtbar, um ungenutzt zu bleiben. Mit der La-Tène-Periode, wo sie Waffen aus Eisen, Gerät aus Kupfer und Glas, Schmuck aus Gold und Edelsteinen formten, sind wir in die Zeit gelangt, die uns in der Schule als „Altertum“ bezeichnet wurde; in Wahrheit ist's die neueste Zeit der Menschheit. Nun läßt sich auch aus den Skeletten der Typus der Bewohner feststellen: der „altthüringische“; vermutlich Kelten. Ihnen folgte das germanische Volk der Hermunduren; auf dem Petersberg erhob sich ihre Wallburg, und auf dem Marienberg, wo heut der Dom prangt, opferten sie ihren Göttern. Nach ihnen kommen die Warnen, die Thüringer und ihre harten Besieger, die Franken; aber sie alle ziehen auch aus diesem Kessel ihr Brot. So ist Erbesfort – der Name ist unaufgeklärt – bereits zur Zeit, da der Angelsachse Winfried, dann Bonifacius genannt, der frömmste und ehrgeizigste Priester seiner Zeit, nach Thüringen kommt, das Evangelium zu predigen, die stattlichste Stadt des Landes; hier gründet er darum 741 ein Bistum und baut, nachdem er den heiligen Hain auf dem Marienberg gefällt, an seiner Stelle ein Kirchlein. Eine „Stadt der Ackerbauer“ nennt er Erfurt ausdrücklich, wie um es zu charakterisieren, und eine bessere Bezeichnung läßt sich auch nicht finden bis auf den heutigen Tag, denn „Stadt der Blumen“ will ja im Grunde dasselbe sagen. Anderwärts verliert sich allmählich die Bedeutung. des Bodens für die Entwicklung einer Stadt; hier erhielt sie sich stets und sogar stets als das Wichtigste.
Aus der Fruchtbarkeit dieses Kessels, aus ihr allein kam Erfurt die Kraft, die unsäglichen Stürme zu überdauern, die es gleichfalls nicht bloß nach dem Willen der Menschen, sondern auch nach dem Willen der Natur ereilten. Denn sie hat Erfurt wie zur „Stadt der Ackerbauer“, zur „Stadt der Blumen“, so auch zur Festung gemacht.
Auch dies läßt sich vom Steiger aus leicht erkennen. Der Kessel ist im Süden, Westen und Osten von stattlichen, steilen, anfragenden Vorbergen des Thüringer Waldes umschlossen, nur nach Norden offen. Aber auch hier fehlt ihm der natürliche Schutzwall nicht: vom Westen her kommt die ungestüme Wilde Gera geströmt, durchbraust den Kessel in breitem, gegen Osten ausgeschwungenem Bogen und rollt dann in scharfer Biegung die weißlich-blauen Wogen gegen Norden. Der Mensch brauchte bloß den Kranz steiler Vorberge mit Zitadellen zu krönen, gegen Norden den schäumenden, reißenden Bergfluß auch durch Wälle zu befestigen. Und dies ist früh geschehen. Über ein Jahrtausend eine Stadt mit Wall und Graben, ist Erfurt nicht viel kürzer die bedeutendste Festung Mitteldeutschlands gewesen, „Schild und Pforte Thüringens“. Erst im geeinigten Reich konnte der Panzer fallen, vor einem Vierteljahrhundert erst. Ein Panzer schützt, aber er drückt die Glieder wund, den Schwertstreich wehrt er ab, den Blitz zieht er an. Einiges wenige Gute und viel großes Unheil hat diese Gabe der Natur über Erfurt gebracht.
Aber die dritte ihrer Gaben war der Stadt wieder nur zum Heil; auch zur Handelsstadt, zum Knotenpunkt der Verkehrswege hat die Natur und nicht der Wille der Menschen, nicht das Schicksal der Staaten Erfurt gemacht, und dies enthüllt sich gleichfalls vom Steiger aus mühelos dem Blick. Die Straße vom Westen nach Osten mußte durch diesen Kessel gelegt werden; jede andere wäre ein Umweg oder der Wegebaukunst des Mittelalters unmöglich gewesen. Und ebenso muß hier durch, wer von Süden nach Norden, vom Thüringer Wald nach dem Kyffhäuser und dem Harz will, aus Franken nach Sachsen. Die Bahnlinien, die sich hier oder im nahen Neudietendorf schneiden, folgen uralten Handelsstraßen, gewiß älter als unsere Zeitrechnung.
Noch mehr, auch die Gliederung der Stadt, ihr Werden und Wachsen läßt sich vom Steiger aus leicht erkennen. Was heut vor allem ins Auge sticht, die beiden kühn und schön geformten Berginseln im Westen, hat bereits vor Jahrtausenden die Menschen zuerst in Bann genommen. Darum weihten sie diese Felskuppen den beiden Gewalten, in deren Schutze sie hier wohnen wollten, den Göttern und der eigenen Kraft; auf dem Marienberg, der den Dom trägt, rauschte schon in uralten Tagen der Donarshain; den Petersberg krönte schon damals eine Wallburg wie heute die Zitadelle. Sie sind der Kern von Erfurt. Zu ihren Füßen, aber ehrfurchtsvoll durch einen großen Zwischenraum von ihnen geschieden, erwächst die Stadt und füllt allmählich den weiten Bogen der Wilden Gera voll, übervoll aus. Auf drei Seiten vom Fluß und dem ihn begleitenden Wall, auf der vierten von der Zitadelle geschützt, ist sie zugleich von ihnen umschnürt; wie dicht sind die hohen Häuser geschart, wie eng die Gäßchen, wie klein die Plätze. Um dieses alte Erfurt schießt nun von allen Seiten das neue empor: im Westen und Süden das Villenviertel, im Osten und Norden Fabriken, Arbeiter-, Schlacht-, Lager- und Krankenhäuser. Und endlich als Rahmen dieses Stadtbildes die Blumen- und Gemüsefelder.