Abschnitt. 3 - „Der Plan is nech gued.“

Wir fuhren eine breite Straße entlang, dann durch ein enges Gäßchen, über eine Holzbrücke auf einen winkeligen Platz, den große, altersgraue Häuser umstanden. „Wie heißt dieser Platz?“ fragte ich und zog den Plan hervor. „Der Plan is nech gued! Da werds nech druuf stihn!“ Aber da las ich selbst an der Ecke. „Hospitalsplatz“, und ein Blick auf den Plan orientierte mich, warum mein Kutscher diesem braven, klaren Kärtchen so unhold war. „Mann“, rief ich, „da kommen wir ja nie zum Steiger!“ – es war, als wollte man vom Potsdamer Platz nach dem Zoologischen Garten über die Chausseestraße gelangen. „O doch!“ beteuerte er. „Aber ech daachte, Sie määchten doch auf dem Weeche was siehn! Hier is doch Knappen sihne Sammlung, was als Generalgonsul die schwarz-weiß-rote Fahne gegen die nackichten Wilden in Samoa geschwungen hat, unn denn unsre städtischen Altertümer, lieber Herre, steinerne Messer unn Dohbackspfeifen aus die Steinzeit, was die Arforder vor dausend Jaahren gebraucht haben. Allens aus Stein, es heeßt auch dorum die Steinzeit. Unn jetzt fahre meu also –“ – „Nach dem Steiger“, fiel ich ein, denn selbst durch die Tabakspfeifen aus der Steinzeit schien mir der Abstecher nicht ganz gerechtfertigt. Er gehorchte, brümmelte aber immer vor sich hin: „Der Plan is nech gued.“ Ähnliche Erfahrungen habe ich mit Erfurter Droschkenkutschern immer wieder gemacht. Nicht bloß die Steine, auch die Droschken reden, und diese hier sagen: „Wenig Vergnügungsreisende; eine durchschnittlich arme Stadt von anspruchsloser Lebensführung, in der sich selbst der Wohlhabende selten das bescheidene – ach, wie bescheidene! – Vergnügen einer Fahrt in solcher Droschke gönnt, und der Fremde darum ein sorglich ausgenutztes Geschenk des Himmels...“
Mehr und Erquicklicheres erzählt der Ausblick vom Steiger. Schon früher freute mich was: Das ganze Löberfeld, die weite Fläche im Süden der Stadt zwischen dem alten Erfurt und dem Steiger ist ein freilich derzeit noch zum geringsten Teil bebautes Villenviertel. Diese Villen sind freundlich, aber bescheiden, sichtlich Wohnhäuser von Leuten, die gleichermaßen vor Not wie vor Neid bewahrt sind, der einzige Schmuck der reiche Blumenflor in Fenstern und Vorgärten, und das ist nett – warum sollten nur reiche Leute in Villen wohnen? Auch an den Gassennamen, die freilich zum großen Teil das einzige sind, was schon von der Gasse existiert, hatte ich meine Freude. Sie sind fast durchweg nach Komponisten und Dichtern getauft. Sonderbare Schwärmer, diese Erfurter, wissen sie denn nicht, daß solche Namen nur dann in Deutschland als kümmerliche Lückenbüßer angewendet werden dürfen, wenn kein General, kein Stadtrat und kein Nest der Nachbarschaft mehr unverewigt ist? Mein Kutscher kam meinem Interesse an diesen Namen liebenswürdig entgegen, indem er mich nun kreuz und quer durch das ganze Viertel fuhr. Diesem Umstand verdanke ich die Erkenntnis, daß die braven Stadtverordneten von Erfurt der deutschen Literatur gegenüber ihren besonderen Standpunkt einnehmen: Geibel hat eine Hauptstraße, während sich kleine Leute wie Lessing, Kant und Uhland eben mit Nebengäßchen begnügen müssen; mancher leuchtende Name ist vergessen, aber nicht Voß und Simrock. Gleichviel, brave Leute sind's doch. Als ich endlich den Kutscher an unser Ziel erinnerte, bat er: „Nor noch meine Gasse“ – die Wielandgasse. „Eech heeße Wieland“, sagte er stolz. „Christoph Martin?“ – „Christoph Martin Wieland.“ Und dabei fährt der Mann „nor zur Aushülf in Arford Droschke“. – „Eech bin aachentlich bei Gudhe (Gotha) for Bierfässer gedingt.“ Überhaupt geht's den Klassikern heut nicht gut. Johann Goethe war vor dreißig Jahren Schuster in Wien und flickte hauptsächlich studentische „Kanonen“; da er dadurch vollends ins Ideale gekommen war, so hieß sein Ältester Johann Wolfgang; dieser ist dann Zwiebelhändler in Kroatien geworden. Noch immer besser als Friedrich Schiller, der ein berüchtigter Wucherer in Graz war. In der relativ günstigsten Lage traf ich Heinrich Heine; als er mich zuletzt in Eisenach rasierte, entwickelte er mir seinen Plan, Zahntechniker in Wiesbaden zu werden.
Sacht wächst die bewaldete Anhöhe des Steiger aus dem wenigen Land empor und erstreckt sich dann weithin gegen Süden, meilenweit. Auch die der Stadt zugekehrte Nordseite ist so breit und mit so zahlreichen Aussichtspavillons besetzt, daß ich den Kutscher fragte, wo's denn den schönsten Ausblick gebe. „Vom Restaurang“, erwiderte Christoph Martin Wieland mit solcher Innigkeit, daß ich ihm glaubte; ich will auch nicht behaupten, daß er log, es war aber eine individuelle Ansicht; vorm „Steigerhaus“ kann man wirklich nur gefüllte und leere Bierkrüge sehen. Ein stattliches Hotel, ein riesiger Biergarten, daneben andere große Wirtschaften, „Felsenkeller“ genannt; die Keller so groß, daß man die Felsen nicht sieht; aber mindestens ebensoviel Zeichen gesunden Durstes weist jede deutsche Stadt auf. Nicht jede aber hat einen so schönen Park dicht am Weichbild; herrlicher, auch prächtig gehaltener Hochwald, Laub und Nadel in buntem Gemisch, namentlich Eichen und Edeltannen, wie man sie selten findet, auch viel wohlgepflegtes Gesträuch und vor allem entzückende Blumenbeete – der Steiger ist ein Park, wie er dieser Gartenstadt würdig ist. Von schattigen Wegen und Pfaden durchzogen, bietet er, eben weil der Hügel sanft, aber stetig zu ziemlicher Höhe ansteigt, eine Fülle leicht erreichbarer und schöner Ausblicke. An künstlerischem Schmuck ist nur eine Säule vorhanden, welche die Kaiserin Augusta in guter Absicht stiftete und die nun ein bescheidenes Denkmal der verewigten Fürstin ist – aber wie dekoriert hier die Natur!
Ich bin an jedem meiner Erfurter Tage einige Stunden im Steigerwald gewesen, habe täglich Neues gesehen und doch gewiß im ganzen nur weniges von all dem Schönen. Wie malerisch ist der Ausblick gegen Westen, auf das Hochheimer Tal; steigt man höher, so sieht man bei sinkender Sonne in der Ferne eine langgestreckte, rötlich schimmernde Wolkenwand den Horizont begrenzen; sie liegt dem Aug bald näher, bald ferner, flammt auf und wird dunkler, zittert wohl auch in den Lüften und zerrinnt doch nie; es sind die Höhen um Friedrichroda bis Liebenstein. Ähnlich wenn man bis zu dem „Waldhaus“ im Süden geht; nur ist die Wand, von dort aus gesehen, weiter geschwungen und schimmert dunkler, vom satten Blau bis ins tiefe Schwarz, je nach dem Sonnenstand und der Trockenheit der Lüfte: das sind die Höhen des Thüringer Waldes von der Wartburg zur Linken bis an die Höhen des Saaletales zur Rechten. Aber am schönsten ist der Ausblick nach Norden, auf das Geratal und die Stadt Erfurt.
Um etwas zu erkennen, zu erfassen, hatte ich dies Bild gesucht, aber ich will's nur sagen: als ich's zuerst sah, grübelte ich über gar nichts, sondern da hatte ich nur eben meine helle Freude dran. Welche bunten, heiteren Farben: rot die Dächer, weiß die Häuser, grün die Gärten, golden die Äcker und blau die Flüsse, und welche Häufung anmutiger oder doch besonderer Formen, die vielen Hügel und die unzähligen Türme: Erfordia turrita, wie die Humanisten ihre stattliche Heimstätte nannten, das vieltürmige Erfurt... Was mir dann zunächst in die Augen stach, war ein Stück Feldes im Westen zwischen dem Cyriaks- und dem Petersberg, von dem ich lange nicht wußte, was es sein könnte; das schimmerte nur so von Farben, und selbst mit dem Feldstecher besehen, war's wie ein Regenbogen, der dort vom Himmel gesunken und nun festgebannt auf der Erde lag – so aus der Ferne ein phantastisches Bild, aber noch wundersamer aus der Nähe; es sind die Blumenfelder vor dem Brühler Tor... Dann der Dom; ich hatte ihn, ehe ich die Höhe des Steigers erreichte, schon vom Vesperplatz aus gesehen, sie haben dort eine Schneise ins Eichenlaub geschnitten, und in der steht nun, ähnlich wie man durch die Schneise bei der „Hohen Sonne“ ob Eisenach die Wartburg sieht, scheinbar einsam aus tiefem Wald aufragend, das graue, gewaltige Münster; auch dies ein märchenhaftes Bild, aber schon von dieser Höhe noch schöner, wo man den Dom aus der alten Stadt zu seinen Füßen emporwachsen sieht, und am schönsten vom Domplatz.
Erst nun, nachdem ich das Gesamtbild und vieles einzelne betrachtet hatte, suchte ich mir Antwort auf meine Fragen. Was die Menschen an einen Ort gezogen hat, ist oft schwer, zuweilen unmöglich zu erkennen, weil es auch Städte gibt, die gleichsam gegen den Willen der Natur, nur durch die Kraft der Menschen und durch das Erblühen eines Staates groß geworden sind; das merkwürdigste Beispiel dafür ist Berlin. Anders Erfurt; hier war's der Wille der Natur, eine große Wohnstätte zu schaffen; vom Steiger aus läßt sich dies klar erkennen.