Abschnitt. 2 - „In Erfurt ist gut wohnen...“

Vor vielen Jahren, so an die fünfzehn mögen es sein, stand ich an einem strahlend schönen Sommertag auf einer Höhe des Thüringer Waldes, auf welcher weiß ich nicht mehr, aber was ich sah, ist mir unvergessen geblieben: zu meinen Füßen das sacht abgestufte Gebirg im dunklen Tannenschmuck, dann eine weite, hellgrüne Ebene, mitten drin ein gewaltiger Haufe grauer, von leichtem Dunst umhüllter Pünktchen, aber über diesen Pünktchen, gleichsam in der Luft über ihnen schwebend und den Dunst durchleuchtend, ein rätselhafter goldner Schein, nun strahlender, nun blasser und oft in der Sonnenglut erzitternd, aber immer, immer zu sehen. Was war dieses Etwas, das noch vom Dunst der Erde umwoben war und doch nicht mehr zu ihr gehörte? „Die Madonna am Erfurter Domgiebel!“ erwiderte lächelnd mein Gefährte...
Ein anderes Bild, das ich 1880 gesehen hatte, und doch war's mir nun, als wär's gestern gewesen. Ein Junitag in Haarlem; ich hatte mich den Tag über an den herrlichen Bildern im Rathaus und im Pavillon müde gesehen und fuhr mit sinkender Sonne zur grauen Stadt hinaus, über die Spaarengracht in die Blumenfelder hinein... ja ganze Felder voll Tulpen und Lilien, Hyazinthen und Narzissen! Welche Farben, so weit das Auge reichte, welche Düfte! – der süße, schwere Hauch preßte mir fast die Brust zusammen, die mir ohnehin zu eng wurde vor Freude, am gleichen Tag auch dies Herrliche schauen zu dürfen... Und Erfurt war auch eine Gartenstadt, da mußte ja ähnliches zu sehen sein...
Diese beiden Bilder haben mich nach Erfurt gebracht. Denn wohl befragte ich noch mein gewöhnliches Orakel in derlei Fällen; ich horchte, was die Waggonräder sagten, aber die sagen ja immer, was man hören will. Und richtig, auch diesmal polterten sie ganz deutlich im Schnellzugstakt: „Freilich nach Erfurt, hübsch ist's in Erfurt, ja, ja, du, tu's!“ Da riß ich mein Kofferchen aus dem Netz und stieg dort aus.
Es hat mich auch nicht gereut, wahrhaftig nein. Nur der Anfang war so so. Vor dem Bahnhof ein enges, von häßlichen Häusern und Holzverschlägen umschlossenes Plätzchen, dann an einem großen, wüst aussehenden Hotel vorbei (es kann kaum dreißig Jahre stehen und ist doch gewiß im 18. Jahrhundert zuletzt getüncht worden) in ein gleichfalls enges, dürftiges Gäßchen, das den Verkehr kaum fassen kann; kleine Häuser, hastende Menschen, fluchende Kutscher; nein, nett war das nicht. Und erst der Ausblick in die Seitenstraßen, die Löber-Gera-, die Schmidtstedter-, die Bußlebergasse, überall Gerüste und Mauern, aber was sie niederrissen, war alt und häßlich, und was sie aufbauten, war neu und häßlich. Dazu die Düfte – und eines der Gäßchen hieß Gartenstraße; in solcher Atmosphäre war Bußlebergasse wirklich der sinnigere Name. Mir tauchten aus Dalbergs Briefen an seine großen Freunde im Apoll die Stellen auf, in denen er von seinen Bemühungen um das Erblühen dieser Stadt spricht... Ist kein Dalberg da? dachte ich... Und als ich ins Hotel trat, fragte der Portier freundlich: „Musterkoffer am Bahnhof?“ – daß ein Mensch nur zu seinem Vergnügen nach Erfurt kommen könnte, lag offenbar außerhalb des Bereichs seiner Phantasie. Auch an der Table d'hôte saßen nur Herren mit Musterkoffern; ich habe nichts gegen solche Herren, und selbst die Anekdoten, durch die sie sich gegenseitig erheitern, gönn ich ihnen, aber – nun ja – aber, dachte ich, es gibt auch nüchterne Geschäftsstädte!
Das war jedoch ein voreiliges Urteil. Erfurt ist keine schöne Stadt, aber hier erzählen die Steine, wenn man ihre Sprache versteht, eine Geschichte, so seltsam und herzbeweglich, so wechselnder Schicksale voll, daß sich auch der Kaltherzige ergriffen fühlen müßte. Und wer sehen kann, muß auf Schritt und Tritt erkennen, wie diese Stadt war und wie sie ist, und recht betrachtet ist die scheinbar so nüchterne Gegenwart womöglich noch fesselnder als die Vergangenheit, auch erhebender, denn was könnte uns in dieser besten aller Welten tröstlicher sein als die Erkenntnis, daß der Mensch zuweilen stärker ist als das Schicksal? Wie diese Stadt allem, was Menschen und Menschenwerk treffen kann, standgehalten und nun langsam wieder aufblüht – dies ist das Interessanteste an Erfurt und wahrlich auch ein Stück Poesie, stärker und schöner und herzerquicklicher, als sich's der Wanderer im stillsten Waldtal erlauschen kann.
Freilich, das weiß ich erst heute, wo ich von dieser Stadt scheide, aber nicht, da ich sie zum ersten Mal durchwanderte. Mir ist's nun lebendige, aus der Anschauung geborene Wahrheit, dem Leser sind's Worte. Vielleicht wären diese Worte auch ihm zwar nicht Leben, so doch ein Abbild des Lebens, wenn ich Aug in Auge zu ihm reden, ihm die tausend kleinen Bildchen, aus denen mir das Gesamtbild erwuchs, schildern könnte. Aber so – durch tote Buchstaben zu malen versuchen und in der Furcht zu ermüden in der Auswahl der Bildchen sparsam und zaghaft, es ist immer ein Wagnis. Und vollends hier, wo so weniges an sich gewaltig ist, das meiste sogar unscheinbar und nur eben durch das Nebeneinander, die Häufung oder den Gegensatz bedeutsam. Schwer ist's in solchen Städten, die Sprache der Steine zu verstehen, und noch schwerer, sie in Menschenworten nachzustammeln.
Nun denn, so versuch ich's, so gut es eben gehen will und in meiner Art. Wie bisher in der Wirklichkeit, so fahre ich nun in Gedanken wieder auf den Steiger und durch die Blumenfelder und gehe wieder über den Anger und den Domplatz und durch das Gewirr enger Gäßchen, bedächtig und andächtig und der Sehnsucht voll, dies fremde Stück Leben recht zu sehen und recht zu verstehen...
Wenn ich in eine fremde, große Stadt komme, so suche ich sie immer zunächst von einer Höhe zu überschauen. Liegt sie in einer Ebene, so ersteig ich den nächstbesten Kirchturm, auch wenn's im August ist. Denn eine Vogelschau bringt auf einen Schlag Antwort auf eine ganze Reihe von Fragen: wo der Kern der Stadt zu suchen ist, wie sie wuchs, in welcher Richtung sie nun die Glieder streckt und wo die Reichen, wo die Armen wohnen. Aber noch mehr vermag hier ein Blick zu erkennen, oft klarer und gewiß anschaulicher, als es die Stadtchronik berichtet: was die Menschen hierher zog, warum auf diesem Boden eine große Stadt erwuchs und wie sie sich behauptete. In Erfurt läßt sich solche Überschau mühelos gewinnen; rings heben ja Hügel ihre dicht umlaubten Häupter; der stattlichste im Südwesten der Stadt, der Steiger, wie derlei einzelne Vorberge in Thüringen so oft heißen. Man kann bis dicht an den schönsten Aussichtspunkt fahren.
Das heißt, wenn man eine Droschke kriegt. Das ist in dieser Stadt von 90.000 Einwohnern nicht so leicht. Zu den Zügen finden sich am Bahnhof einige dieser schweren, plumpen Viersitzer ein, mit denen verglichen eine Berliner Droschke zweiter Güte wie das flügelbeschwingte Gefährt des Sonnengotts erscheint; sonst muß man lange nach ihnen suchen. Endlich kam mir auf dem Anger so ein ehrwürdiges Vehikel mit der Geschwindigkeit von einem halben Kilometer in der Stunde entgegengebraust; ich winkte dem Kutscher, er hielt an, ich stieg ein: „Zeitfahrt. Halb drei. Auf den Steiger.“ Aber so rasch macht man derlei verwickelte Geschäfte in dieser Geschäftsstadt nicht ab. Langsam kletterte der kräftige Mann vom Kutschbock, öffnete und schloß den Schlag, gleichsam um symbolisch anzuzeigen, daß dies seine Sache und Selbsthilfe hier nicht gebräuchlich sei, zerrte seine Taschenuhr von Tellergröße sacht hervor, zog sie auf, stellte sie nach der meinen und fragte dann freundlich: „Also, lieber Herre, wo'ihn soll's denn giehn?“ – „Ich sagte schon, nach dem Steiger!“ – „Ei ja, das is gued. Da haben Sie sihre recht, lieber Herre. Da ward's sihre schiene sihn! Da sollt jeder hihn! Also zuerschte ins Restaurang unn dann zum Aussichtspuhnkte! Jaa, so wollen meu's maachen!“ Die Nase das Mannes hatte einen sanften Rosenschein. „Lieber umgekehrt“, sagte ich. „Aaber das Restaurang is sihre gued!“ – „Eben darum!“ Er kletterte wieder auf den Bock und setzte sein Pferd in Trab; nun war's die Geschwindigkeit von einem ganzen Kilometer in der Stunde.