Abschnitt. 16 - „Aus dem hohlen, finsteren Tor“

Nein, nicht der Fürsorge ihrer geistlichen Fürsten, nur der eigenen Kraft hatten es die Erfurter zu danken, wenn sachte das Gras aus ihren Straßen wich und die verödeten Häuser wieder Bewohner erhielten; freilich nützten sie nur das Geschenk der Natur, ihren fruchtbaren Boden. Der Handel ging andere Bahnen, und selbst für Thüringen war Erfurt nicht mehr der Mittelpunkt des Verkehrs; Gotha im Westen, Halle im Osten lenkten vieles ihren Märkten zu, die Hochschule gab wenig Verdienst und wenig Glanz, der Festungswall schnürte die Stadt ein, aber Erfurt war noch immer die „Stadt der Ackerbauer“ und seine Bewohner des „Römischen Reichs Gärtner“. Mit der Waid ging's nicht mehr, der Wein wurde immer saurer, aber einen Ersatz bot die Kresse, die hier (im tiefen, wasserreichen Dreienbrunnen zwischen Steiger und Cyriaksberg) zuerst planmäßig gezogen, von hier aus der Lieblingssalat der Zopfzeit wurde. Der Handel mit Obst, mit Blumen und Sämereien brachte keine Reichtümer ein, aber er erhielt die Stadt bei Kräften, und gegen Ende des Jahrhunderts galt sie wieder als mäßig wohlhabend.
Natürlich fehlt's im Erfurt von heute auch nicht an Überbleibseln dieser Zeit. Da stehen noch mitten zwischen uralten Renaissancefassaden und modernen, nicht eben schönen, aber hellen und freundlichen Häusern die häßlichen, öden Nutzbauten der Zopfzeit, einzelne mit einem Barockschmücklein am Dachsims oder unter den Fenstern, wie Philister, die sich was Besonderes ungeschickt an den Rock heften und dann erst recht als nüchterne Philister erscheinen. Auch einzelne Klöster, zum Beispiel das der Ursulinerinnen, scheinen aus dieser Zeit zu stammen; im Inneren aller katholischen Kirchen vollends – nicht bloß im Dom, bei dem ich bereits darauf hingewiesen habe – merkt man deutlich, daß Erfurt lange unter geistlicher Verwaltung stand, und zwar leider eben in den anderthalb Jahrhunderten des tiefsten Standes kirchlicher Kunst. Auch der bereits erwähnte Packhof von 1705 ist trotz seiner geschmückten Fassade oder gerade ihretwegen kein Musterbau jener Zeit, und ebenso das weit stattlichere Regierungsgebäude von 1710, das neben passablen Barockfiguren und Simsen auch einige andere aufweist, die selbst Freunden des Stils – und ein Gegner bin ich selber nicht – sehr geringe Freude machen können. Hier haben die Koadjutoren residiert, nachdem ihnen der alte „Mainzer Hof“ zu unwohnlich geworden, als letzter Karl Theodor von Dalberg.
Dreißig Jahre (1772-1802) hat der liebenswürdigste aller Dilettanten der an solchen Erscheinungen so reichen Zeit in Erfurt residiert und immerhin einiges für die Stadt getan. Zwar arbeitete er sich fast ganz vergeblich ab, der Universität neuen Aufschwung zu geben, sie siechte nur eben langsamer dahin als vor ihm – aber er mühte sich im Sinne seiner Weltanschauung, einer nicht tiefen, aber milden und redlichen Aufklärung, nicht fruchtlos, die Rechts- und Armenpflege zu verbessern, Protestanten und Katholiken fast gleich gerecht zu regieren, Stadt und Land materiell zu heben. Mit allen freien Geistern seiner Zeit befreundet, sah er in seinem Palaste auch Schiller, Wieland und Goethe als Gäste. Daß die Fauststadt Erfurt sich auch gern ihr Teil an Goethes Gedicht sichern möchte, ist begreiflich, und angesichts der Bedeutung, die gerade der Erfurter Sagenkreis für die Ausgestaltung des „Faust“ hatte, läßt es sich ihr ja auch wahrlich nicht bestreiten. Darüber hinaus freilich können die Erfurter Patrioten nicht viel erweisen. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Goethe den Namen Heinrich, der sich sonst nirgendwo überliefert findet, tatsächlich der Erfurter Universitätsmatrikel entnommen habe, die 1522 einen Henricus Faust des Gronenberg, der übrigens nichts mit dem historischen Faust zu tun hat, als Hörer verzeichnet, und gleich unwahrscheinlich ist, daß Goethe bei der Schilderung des Spaziergangs am Ostermorgen („Aus dem hohlen, finsteren Tor“ usw.) an den Platz vor dem Erfurter „Pförtchen“ gedacht habe.
Goethe war oft in Erfurt; allbekannt ist sein Aufenthalt vom Herbst 1808, die Begegnung mit Napoleon. Was alles hatte sich in den Jahren, seit er Dalberg hier zuletzt besucht, gewandelt! Es gab kein Erzbistum Mainz mehr; Erfurt war 1803 an Preußen gekommen, 1806, nach Jena, ohne Schuß und Schwertstreich an Napoleon. Den Vorschlag seines Staatsrats, die neue Erwerbung dem Königreich Westfalen anzugliedern, lehnte der Kaiser ab; er stellte das „Fürstentum Erfurt“ unter seine eigene Herrschaft, weil ihn der alte Ruhm der Stadt lockte, der Gedanke, an derselben Stätte hofzuhalten wie die Salier, Friedrich der Rotbart und Rudolf von Habsburg. Und darum ward hier im Regierungsgebäude der Erfurter Kongreß abgehalten, spielte Talma hier „vor einem Parterre von Königen“. Goethe ist leider nie dazu gekommen, sein Gespräch mit Napoleon (2. Oktober 1808) aufzuzeichnen, wie er es Riemer versprach; „er hat mir gleichsam das Tipfelchen auf das i gesetzt“, sagte er diesem Vertrauten. So wissen wir wenigstens von diesem Gespräch der beiden größten Männer ihrer Zeit; es genügt freilich, um Goethes Ausspruch zu verstehen. Napoleons Kritik von „Werthers Leiden“ geht ins tiefste; seine Auffassung von der Bedeutung des historischen Trauerspiels ist eine großartige, und ebenso trifft sein Wort gegen die Schicksalstragödie ins Schwarze. „Voilà un homme!“ sagte er bekanntlich nach der Unterredung zu seinem Gefolge, während Goethe vollends helle Bewunderung war und der Einladung des Kaisers nach Paris folgen wollte. Nicht anders urteilten ja damals die meisten Deutschen über den Kaiser und namentlich auch alle Erfurter. Die französische Verwaltung war auch hier, mit ihren Vorgängerinnen verglichen, ein großer Fortschritt. Mit einem Schlage wurde die volle Gleichberechtigung der Konfessionen – unter den Koadjutoren zugunsten der Katholiken, in den drei kurzen Jahren preußischer Herrschaft zugunsten der Evangelischen beeinträchtigt – zur Tat; Gesetzgebung und Rechtspflege wurden vereinfacht und trefflich geordnet, Armen- und Krankenpflege zeitgemäß ausgestattet, die Reinlichkeit der Straßen und Häuser mit weiser Strenge durchgeführt und überwacht. Die vielen Behörden, die Napoleon hierher legte, seine glänzende Hofhaltung brachte Geld unter die Leute. Auch schuf die Zugehörigkeit zu einem Riesenstaat neue Absatzquellen für Blumen, Obst und Gemüse. Aber die französischen Behörden, an Tatkraft und Initiative gewohnt, ermöglichten es den Erfurtern nicht bloß, ihre Erzeugnisse besser zu verkaufen, sondern auch Besseres zu erzeugen; sie ermunterten zur Einführung neuer Blumen- und Obstkulturen und lieferten das Material dazu, wie sie andererseits alles, was den Erfurtern trefflich gelang, anderwärts einzubürgern suchten. Um die Verbreitung der Erfurter Kresse war sogar Napoleon persönlich bedacht; er ließ zu Fontainebleau durch Erfurter Gärtner eine Kressekultur anlegen.
Alles in allem, es war keine unverdiente Huldigung, daß die Erfurter zur Feier der Geburt des Königs von Rom einen siebzig Fuß hohen Obelisk errichteten. Aber war's verdient, daß sie wenige Jahre später (1814) diesen Obelisk zerstörten? Ähnliches ist damals gottlob selten in Deutschland geschehen, und eine Heldentat war's gewiß nicht. Freilich hatte die Stadt beim Durchzug der geschlagenen Franzosen viel gelitten, noch mehr, weil sie die Festung sehr tapfer verteidigten bei der Belagerung durch die Preußen, und was die Hauptsache ist: die nationale Empfindung ist eben auch wie jede andere, welche die Natur selbst gebietet, etwas Elementares. Gleichwohl haben die Stadtväter des neuen Erfurt nicht richtig gehandelt, indem sie als Gegenstand des letzten der sechs Freskobilder, die den Festsaal ihres neuen Rathauses schmücken, die Zerstörung dieses Obelisken bestimmten. Die anderen fünf Bilder führen ruhmvolle oder doch wichtige Ereignisse aus Erfurts Geschichte vor (der heilige Bonifacius bekehrt die heidnischen Ackerbauer; Heinrichs des Löwen Fußfall vor Friedrich Barbarossa; Rudolf von Habsburg in Erfurt; das „tolle Jahr“; die Übergabe Erfurts an Mainz); dieses ist weder ruhmvoll noch wichtig.