Abschnitt. 15 - Reformation

Derselbe Dämon, die „auri sacra fames“, der die rechtliche Sicherung der äußeren Unabhängigkeit verhinderte, zertrümmerte auch im Innern den Frieden und damit die Kraft. Wie in jeder Stadt jener Zeiten standen sich auch in Erfurt Patrizier und Plebejer, Regierung und Volk gegenüber, aber in keiner schroffer als hier. Gegenüber der Zahl der Hinzugewanderten war hier die der alten Geschlechter eine winzige; einige Dutzend Familien waren im Vollbesitz der politischen Macht; die große Masse hatte zu steuern, Kriegsdienste zu tun und schweigend zu gehorchen; nicht einmal zum Schein hatte sie hier mitzureden, was die Geschlechter anderwärts aus Klugheit gestatteten. Nun lag hier zudem in den Händen dieser wenigen, der Bedeutung der Stadt und ihres Gebiets, der ihrer Einnahmen und Ausgaben entsprechend, eine ungeheure Macht, in deren Ausnutzung sie im Grunde niemand beschränken, sogar niemand beaufsichtigen konnte. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn die Verwaltung immer ehrlich oder auch nur immer sparsam geblieben wäre, und Wunder geschehen eben nicht auf Erden. Kostspielige Fehden verschlangen viel Geld, glanzvolle Bauten und Feste, zum Beispiel das Turnier der Erfurter Patrizier von 1496, die durch ihren unerhörten Aufwand in ähnlicher Weise von sich reden machten wie etwa in jüngster Vergangenheit die Schlösser und Separatvorstellungen Ludwig II., kosteten noch mehr, und der Unterschleif einzelner ungetreuer Verwalter beschleunigte den Verfall. Freilich, ohne solche Machtfülle in den Händen weniger hätte Erfurt nicht so rasch den steilen Pfad zur Höhe emporklimmen können; nun ward ihm dieselbe Einrichtung zum Verderben. Die Stadt, die durch Jahrhunderte der Bankier aller geldbedürftigen Fürsten Deutschlands gewesen, war nun selbst in Schulden; die Bürger sollten das Doppelte, das Dreifache steuern, den Ausfall zu decken. Das wollten und konnten sie nicht; die Erregung wuchs immer mehr; der Kampf zwischen Herrschern und Beherrschten, lange nur mit Worten und Schriften geführt, wurde schließlich in den Straßen Erfurts durch Schwert und Axt entschieden. Der regierende Ratsherr, Heinrich Kellner, weigerte jede Rechnungslage, nicht eigene Sünden zu verbergen, sondern weil er sie der misera plebs nach dem Buchstaben der Verfassung nicht schuldig war. „Ich bin die Gemeinde!“ rief er den Bürgern entgegen. Das hat ihn den Hals gekostet, aber entschieden war der Streit schon in dem Augenblick, wo sich die Bürger erhoben, denn bei ihnen war das Menschenrecht, bei ihnen die Zahl der Arme, beim Rat nur die ererbte Satzung und ein Haufe schlecht bezahlter, darum unzuverlässiger Söldner. Der Rat wurde gestürzt, Kellner eingekerkert und 1510 hingerichtet; das „tolle Jahr“ heißt es in Erfurts Geschichte. Es brach die Kraft der Patrizier, aber auch die Kraft der Stadt. Viele der „Gefrunden“ verließen Erfurt; die Regierung kam in plumpe, schwielige Hände, die auch nicht immer rein blieben und zudem nur daran gewöhnt waren, den Hammer oder die Nadel zu führen, nicht das Steuer eines Staatsschiffs.
Das war die entscheidende Wendung in Erfurts Geschichte; die schlimmste Wunde hat ihm der Bürgerzwist geschlagen. Aber Schweres ist auch durch das Schicksal über die Stadt gekommen; furchtbare Brände verheerten sie; ihre Fehden und Prozesse endeten nun fast alle unglücklich. Die Reformation trennte die Bürger in zwei Haufen von Todfeinden; nirgendwo war die Erbitterung heftiger, denn Erfurt war ja mainzisch, eine „Pfaffenstadt“, die Hauptkanzel Tetzels, und doch wehte andererseits hier der lebendige Atem Luthers. Gewiß hatten die Bürger recht, wenn sie sich der neuen Lehre zuwandten, aber recht hatten auch die Mainzer, wenn sie dies in ihrer Stadt nicht dulden wollten, die Jesuiten zu Hilfe riefen, bei Kaiser und Reich Klage führten, jeden Angriff der Bürger auf Kirchen und Klöster durch Angriffe auf die Stadt vergalten, ihre Hoheitsrechte, die sie ja nie aufgegeben hatten, nun voll geltend zu machen suchten. Das ganze 16. Jahrhundert ist von diesem Streit zwischen Stadt und Schutzherren erfüllt; immer grimmiger spitzte er sich zu. Es war keine Rechts-, sondern eine Machtfrage; sobald Erfurt an Kraft verlor, Mainz an Kraft gewann, mußte die Stadt in Wahrheit seine Magd werden.
Da kam den Erzbischöfen, freilich ihnen selbst so unerwartet und unerwünscht wie den Erfurtern, ein Bundesgenosse: die Entwicklung des Welthandels, die Entdeckung der neuen Seewege. Aus Java und Bengalien kam der Indigo und schlug die Waid tot, aus Mexiko und Westindien die Koschenille und verdrängte die Kermes. Das vollzog sich nicht jählings, aber sichtlich. Auch der Binnenhandel schlug neue Wege ein; durch Meßprivilegien und eine kluge Politik seiner Kurfürsten gefördert, blühte Leipzig auf und wurde zunächst der Rivale und dann der Besieger Erfurts als Stapelplatz Mitteldeutschlands. Die Stadt begann sich zu entvölkern und hatte an der Schwelle des Jahrhunderts, das den Dreißigjährigen Krieg bringen sollte, kaum noch 20 000 Einwohner; auch die Hörsäle begannen zu veröden. Erfurt jammerte, Mainz aber jauchzte nicht; es war ihm recht, daß die Stadt herabkam, aber wenn die Henne keine güldenen Eier mehr trug – war sie dann noch des Kampfes wert?
Der furchtbarste Krieg, den Deutschland je gesehen, der es für Jahrhunderte zu einem armen Lande machte, brachte auch diesem Kampf nach unerhörten Zwischenfällen die Entscheidung. Auf und nieder schwankte die Waagschale, in der Gustav Adolfs Schwert lag, und mit ihr das Schicksal Erfurts; durch neun Jahre von den Schweden besetzt und ein Stützpunkt ihrer Macht, fiel es endlich in die Hände der Kaiserlichen und hatte schwerste Drangsale zu erdulden. Hier statt jeder Schilderung zwei Ziffern: als die Schweden 1640 abzogen, hatte die Stadt noch 16.000, als die Katholischen acht Jahre später gingen, kaum 9.000 Einwohner. Der Westfälische Friede hatte Kurmainz die Herrschaft über Erfurt bestätigt; noch einmal, zum letztenmal wehrten sich die Bürger dagegen; nur der Geldmangel, der Kurmainz hinderte, ein Exekutionsheer aufzubringen, gab ihnen noch einige Jahre Galgenfrist. Endlich, 1664, mietete der Kurfürst französische Truppen, die aus Ungarn nach der Heimat heimkehrten, für den kurzen, im vorhinein entschiedenen Kampf. Von der Zitadelle auf dem Petersberg drohten die Kanonen auf die Stadt nieder, im „Mainzer Hof“, wo heute die Gewehrfabrik ist, residierten die kurfürstlichen Statthalter, und die Consules von Erfurt waren die demütigen Häupter einer armen, ihrem Fürsten gehorsamen Stadt. Als 1683 von den rund 13.000 Menschen etwa 10.000 – kein Schreibfehler, so verzeichnen es die Chronisten – an der Pest dahinstarben, da waren viele der Meinung, Erfurt werde eine Ruinenstadt bleiben, ein trauriges Überbleibsel einstiger sagenhafter Größe, wie es etwa heute Bardowiek ist, das ja einst die mächtigste Handelsstadt Norddeutschlands war, bis es Heinrich der Löwe für immer zertrat.
Wenn es mit Erfurt anders und besser kam, so ist dies zum geringsten Teil das Verdienst der kurmainzischen Koadjutoren. Daß die einst so trotzige Stadt ruhig blieb, dafür brauchten sie kaum zu sorgen; das bewirkten die Kanonen der Zitadelle und die starke Besatzung. Wohl aber mühten sie sich, daß Erfurt wieder katholisch werde; freilich war der Stadt die Religionsfreiheit zugesagt, aber alle Stellen mit Katholiken zu besetzen, die Zahl der evangelischen Kirchen zu verringern, die Mönchs- und Nonnenklöster neu zu bevölkern, die Bekehrung durch Jesuitenmissionen besorgen zu lassen, schien ihnen nicht dagegen zu sprechen. Auch die Universität wurde, so gut es ging, im Sinne der herrschenden Kirche verwaltet, was freilich mit dazu beitrug, ihre Bedeutung immer tiefer hinabzudrücken. In dies Stilleben mit Glockenklang und Weihrauchduft klangen zeitweilig während des Siebenjährigen Krieges die preußischen Kanonen (1759); dann ging diese Verwaltung denselben schleichenden, trägen Schlenderschritt wie vordem und wie damals überall im katholischen Deutschland.