Abschnitt. 13 - Die Sagen vom Faust:

In der einen dieser Sagen erklärt Faust den Erfurter Studenten den Homer und beschreibt ihnen das Aussehen der Helden; die „vorwitzigen Pursche“ verlangen diese leibhaftig zu sehen, um zu vergleichen, ob Faust sie richtig geschildert habe. Faust erfüllt ihren Wunsch, läßt sie Hektor und Agamemnon sehen, zuletzt aber den furchtbaren Polyphem „mit einem langen füerroten Bart“, der Miene macht, die „Pursche“ zu fressen, die nun durch den Schrecken von allem Fürwitz geheilt sind. Man sieht, hier ist Faust noch nicht von dem heißen Drang erfüllt, die Helena zu sehen, sondern benützt als Lehrer die Zauberkraft nur dazu, seinen Hörern zu beweisen, daß er ihnen das Richtige gesagt, und sie zugleich von frevelhaften Wünschen abzuschrecken. Da die Chronik erwähnt, Faust habe nahe dem „großen Collegio“ gewohnt, so wurde lange ein altes Haus, Michaelsstraße 38, als Fausts Haus gezeigt; es findet sich auch oft abgebildet. Vollends nur als Gelehrter tritt Faust in einer anderen Erfurter Sage auf. In einem gelehrten Kreise wird über die „verlorenen Komödien“ des Plautus und Terenz „diskurrieret und geklagt“. Faust zitiert aus denselben einige Stellen und erbietet sich, „wo es ihm ohne Gefahr und den Herrn Theologen nicht zuwider sein sollte, die verlorenen Komödien alle wieder an das Licht zu bringen und vorzulegen auf etliche Stunden lang, da sie von vielen Studenten oder Schreibern geschwinde müßten abgeschrieben werden, wenn man sie haben wollte und nachfolgens möchte man ihrer nutzen wie man wollte“. Die Theologen sind aber dagegen, weil sie fürchten, „der Teufel möchte in solche neuerfundenen Komödien allerlei ärgerliche Sachen mit einschieben“ –, daß Faust die Texte zur Stelle bringen könnte, bezweifeln sie also nicht. Hier ist die Sage wohl größtenteils Wahrheit, denn ähnliche großsprecherische Anerbietungen erzählt Trithemius von Sponheim vom historischen Faust.
Eine dritte Sage berichtet: Faust pflegt im Haus „Zum Anker“ in der Schlösserstraße beim Junker von Dennstedt fröhlich mitzuzechen; als er einmal in Prag ist, will ihn die Gesellschaft bei sich haben und ruft seinen Namen; flugs ist er zur Stelle. „Drauf trinken sie ihm einen guten Rausch zu, und wie er sie fragt, ob sie auch gern einen fremden Wein mögen trinken, sagen sie ja. Er fragt, ob es Rheinfall-, Malvasier-, Spanischer- oder Franzwein sein solle? Da spricht einer, sie sind alle gut, bald fordert er einen Böhrl, macht damit in das Tischblatt vier Löcher, stopft sie alle mit Pflöcklein zu, nimmt frische Gläser und zapft aus dem Tischblatt jenerlei Wein hinein, welchen er nennet, und trinkt mit ihnen daran lustig fort.“ Inzwischen frißt sein unersättliches Pferd einen Scheffel Haber nach dem andern und tut gegen Mitternacht einen „hellen Schrei“, worauf Faust Abschied nimmt und die Schlösserstraße aufwärts reitet. „Das Pferd aber schwingt sich zusehens eilens in die Höhe und führt ihn durch die Luft gen Prag wieder zu.“ Was der Volksgeist in dem uralten, freilich sichtlich wiederholt umgebauten Hause zu Erfurt (Nr. 19 der Schlösserstraße) geschehen läßt, hat Goethe in Auerbachs Keller verlegt, während Lessing eine vierte Erfurter Sage benützte. Faust lädt seine Kumpane nach seiner Wohnung in der Michaelsstraße ein; das Mahl fehlt noch. Da zitiert er dienende Geister und frägt nach ihrer Schnelligkeit. Der erste ist schnell wie ein Pfeil, der zweite wie der Wind, der dritte wie der Menschen Gedanke. Diesen läßt Faust das Mahl rüsten.
Einer fünften Sage liegt wie der zweiten eine historische Tatsache zugrunde. Neben dem Beichtstuhl im Dom zu Erfurt ist der wohlerhaltene Renaissancegrabstein eines tapferen, streitbaren Mannes aufgerichtet, der auch in Luthers Leben eine Rolle spielte. Konrad Klinge hieß er und war Guardian des Barfüßerklosters; einer der wenigen Mönche, die damals katholisch blieben. Daß Luther vergeblich mit ihm disputierte, steht fest, aber wahrscheinlich ist, daß Klinge wieder sich vergeblich mühte, den Faust dem Teufel abwendig zu machen. Die Sage verzeichnet das Gespräch beider knapp und kraftvoll; der Schluß fällt ab: Klinge zeigt Faust, der erklärt, als ehrlicher Mann müsse er selbst dem Teufel sein Wort halten, dem Rektor an, worauf der Zauberer Erfurt verlassen muß. So zahm und prosaisch läßt der dichtende Volksgeist sonst den Zusammenprall zweier Gewaltigen nicht enden; dies war wohl in Wahrheit der Ausgang der Sache.
Diese Sagen, sämtlich wohl schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Erfurt entstanden, kaum zwanzig oder dreißig Jahre, nachdem Faust hier leibhaftig seinen Hokuspokus geübt, zeigen ihn, wie man sieht, im Bund mit dem Bösen, aber als einen Mann von tiefer Gelehrsamkeit und nicht ohne adligen Sinn. Nicht so zwei andere, weit später hier entstandene Sagen. Nur sie sind im Volksmund lebendig, wenigstens wußte weder Christoph Martin Wieland noch der Hausknecht meines Hotels, noch die Hökerfrau auf dem Platze „vorm Grähden“, bei der ich in meinen Erfurter Tagen mein Obst einkaufte, etwas von der Tischplatte, die plötzlich Wein gab; nach der Geschichte vom Polyphem oder den Komödien des Plautus und Terenz habe ich sie natürlich gar nicht erst gefragt. Aber wie Faust „ein armes Määdechen nackendig gemacht hat“, wußten sie alle. Als Faust – „er war ja aach ein Aarforder“, meinte Wieland – einmal über den Platz „vorm Grähden“ mit seinen Studenten spazierengeht, bitten ihn einige Bürger: „Machen Sie uns nu mal 'nen neuen schienen Spaß vor!“ Darauf zaubert Faust zwei Hähne herbei, deren jeder im Schnabel eine mächtige Mühlradwelle trägt. „Da laifd vom Andreasdhor ein hiebsches Määdechen daher, die war'n Sonntagskind und schon zwanzig Jahr, aber noch Jumpfer – das ist Sie nämlich schon über hundert Jahre her, lieber Herre, damals war das noch hiere määglich – und wie sie die Hähne sieht, lacht sie: ›Die tragen ja nur Strohhälme im Maule.‹ Denn als Jumpfer und Sonndagskind hat sie das gesiehn.“ Da aber läßt Faust, sie zu strafen, über den Platz eine Wasserflut hereinbrechen, allen unsichtbar und nur ihr sichtbar. „Da fercht sie sich for ihre Kleider und hebt sie uf, bis man die Schdrompe (Strümpfe) sehen dhut, und dann noch höher, un alle lachen das arme Määdechen aus.“ Ähnlich, wenn auch nicht in so plastischer Ausmalung wie mein Wieland, der Anakreontiker, erzählen gelehrte Bücher die sehr unlogische Sage – denn durchschaut das Mädchen als Sonntagskind allen Spuk, der andere täuscht, so kann auch die Flut sie nicht schrecken – und deuten sie mythologisch aus, denn
Was man nicht leicht erklären kann,
Sieht man als einen Mythus an,

was ihnen auch mit der zweiten Geschichte glückt. Nahe dem Haus „Zum Anker“, zwischen den Häusern Nr. 14 und 15 der Schlösserstraße öffnet sich ein winzig schmales Gäßchen, das Faustgäßchen. Hier jagte Faust einmal seine schnaubenden Rosse mit einem mächtigen Fuder Heu durch, denn die Mauern wichen auf sein Geheiß. Da aber kam Martin Luther daher, sprach einen kräftigen Bannfluch, und die Pferde wurden zu Hähnen, das Fuder zu einem Strohhalm, und sie verschwanden unter üblem Geruch. Ich möchte die Erklärung weniger in Spuren des Donarglaubens als vielmehr in der Enge des Gäßchens suchen – ein dicker Mensch kommt hier buchstäblich nur mühsam durch –, ferner in der Tatsache, daß die beiden Häuser, zwischen denen es sich öffnet, demselben Junker von Dennstedt gehörten, dessen Gast der historische Faust war, vor allem aber darin, daß Luther und Faust hier in der Phantasie wie im Gemüt des Volkes leben.