Abschnitt. 12 - Luther bedeutet für Erfurt unendlich viel...

Doch zurück zu Luther. Auch vom Kloster, in dem er drei Jahre verweilte, sind in der Augustinerstraße noch Reste zu sehen, freilich so verwandelt und modernisiert, daß man zu keinem rechten Eindruck kommt. Die Kirche, seit 1521 evangelisch, hat 1850 das Unionsparlament beherbergt; wer heute das helle, geräumige Schiff betritt, denkt an Radowitz, der hier den glänzenden Scheinerfolg seiner Politik erlebte, oder an Bismarck, der ihn bekämpfte; an Luther zu denken hat er keine Veranlassung. Im Martinsstift, einer Anstalt für verwahrloste Knaben, und im Waisenhause werden noch einzelne Erinnerungen an Luther gezeigt, eine Reihe von Kammern, die von dem Bau des Klosters eine Anschauung geben, seine Zelle, 1872 ausgebrannt und seither mit neuem Gerät im Stil seiner Zeit ausgestattet usw. Der Atem der Persönlichkeit schlägt einem aus diesen Spielereien nicht entgegen.
Luther bedeutet für Erfurt unendlich viel; es gab Zeiten in der Geschichte dieser Stadt, wo nur sein Wort die Gemüter aufrechterhielt. Und darum ist er hier auch noch im Volksbrauch lebendig, der ja nur eine Verkörperung dessen ist, was die Volksseele bewegt; ist dieser Hauch der Seele verflogen, so stirbt auch sacht der Brauch ab. Der Geburtstag Luthers ist auch heute noch ein bewußt begangenes Fest der Erfurter. Außer der Martinsgans gibt's am 10. November auch Martinshörnchen und Martinskringel. Wenn abends um sechs die Glocken läuten, strömen die Kinder auf die Gasse. Die evangelischen singen:
Martin! Martin! Martin war ein braver Mann!
Steckt hier unten Lichter an,
Daß er oben sehen kann,
Was er unten hat getan!

Der Vers scheint mir nicht recht volkstümlich, doch verzeichnen ihn verläßliche Quellen in diesem Wortlaut. Viel echter, aber auch minder gemütvoll klingt, was die katholischen Kinder singen:
Krik! krak! Schnupt doch ab!
Schneidet auch der Gans das Bein ab!
Laßt doch aber einen Stumpf noch dran,
Daß sie recht noch zappeln kann.


Gemeinsam ist den Kindern beider Bekenntnisse ein Brauch und Vers, der nichts mit Luther zu tun hat, sondern auf den heiligen Martin deutet, der ja bekanntlich Wasser in Wein verwandelte. Die Kinder stellen am Vorabend ein Krüglein mit Wasser vor ihre Kammertür und singen dazu:
Martine, Martine,
Mach das Wasser zu Wine!

Natürlich denken sie dabei nur an Luther, wie ihre Vorfahren, nachdem ihnen das Christentum in Fleisch und Blut übergegangen, nur an den heiligen Petrus dachten, wenn sie Sprüche sagten und Bräuche übten, die dem Donar galten. Neue Götter beerben die alten; das ist der Welt Lauf.
Neben der herrlichen Gestalt, in der sich ein Grundzug der deutschen Volksseele, der starke, aus heißer Sehnsucht geborene Glaube verkörpert, wandelt durchs Portal der alten Universität gegenüber der Michaelskirche und durch das enge, graue Viertel um die Schlösserstraße jene zweite, die einen anderen tiefsten Zug dieser Volksseele verbildlicht, den starken trotzigen Zweifel, der die Hölle anruft, wenn sich die Himmel seinem Pochen nicht öffnen wollen, und der doch derselben heißen Sehnsucht entstammt. Auch Faust ist eine Erfurter Gestalt, freilich nicht der Heinrich Faust Goethes, in dessen Gemüt alles Hellste und Dunkelste menschlichen Empfindens widerklingt, aber der Georg Johannes Faust der Geschichte, der landfahrende, gelehrte Abenteurer, Betrogener und Betrüger zugleich, der Bildung seiner Zeit ebenso mächtig wie ihrer niedrigsten Künste und Ränke, ein geistvoller Ausleger der Alten und ein Lüderjan und Trunkenbold. Über diesen Erfurter Faust ist unendlich viel Tinte vergossen worden, wohl noch mehr, als er in seinem Leben an Wein durch die Gurgel gejagt hat; hier nur nach den neuesten Schriften von S. Szamatolski und A. Pick das Wichtigste, was Geschichte und Sage von ihm zu erzählen wissen.
Nicht erwiesen ist die Angabe des ältesten Faustbuchs von 1587, wonach er „eines Bauren Sohn gewesen zu Rod bei Weimar gebürtig“, also ein Thüringer und in der Nachbarschaft Erfurts geboren; die Heidelberger Matrikel bezeichnet ihn vielmehr als „ex Simern“, also aus dem Fürstentum Pfalz-Simmern. Sicherlich aber hat die Angabe des Faustbuchs ihre tiefere Bedeutung; auch Faust sollte ein Thüringer sein, wie es die Reformatoren waren; ihnen rückte der dichtende Volksgeist den fahrenden Zauberer nahe, und zwar aus einer richtigen Empfindung heraus. So wie Luther ist auch Faust das echte Kind der großen, nach Befreiung ringenden Kampfzeit, die nach neuen Wundern und Wahrheiten dürstet; der Schwarmgeist glänzt neben dem Gottesmann nur wie der Komet neben dem Fixstern, aber Licht geben beide! Daneben mag die Sage, Faust sei ein Thüringer gewesen, durch die Tatsache gestützt worden sein, daß er nach historischen Zeugnissen mindestens 1513 in Erfurt war; freilich nannte er sich hier Georg, nicht Johannes, doch scheint seine Identität mit diesem festzustehen. Auch war sein Aufenthalt sicherlich ein längerer und an Abenteuern reicher, sonst hätte er sich nicht gerade hier dem Volksgemüt so tief eingeprägt; wie in Maulbronn sprießt auch in Erfurt die Faustsage; wie dort eine Faustküche und einen Faustturm, gibt es hier ein Faustgäßchen.
Die Erfurter Sage, schon vor dem ältesten Faustbuch in der Chronik des Wolf Wambach aufgezeichnet, nimmt im Kreise der Faustsagen eine besondere Stellung ein; im Kern nicht völlig erfunden, sondern nur eben übertrieben und ausgeschmückt, also den Zeugnissen über den historischen Faust beizuzählen, läßt sie den Abenteurer in edlerem Lichte erscheinen als die anderen geschichtlichen Quellen; hier ist er nicht bloß ein Saufaus, Schürzenjäger und Betrüger, sondern zugleich ein gelehrter Magister und Disputator, der auch Zaubereien höherer Art zustande bringt. So schlagen die Erfurter Mären die Brücke zwischen dem abenteuernden Prahlhans der Geschichte und dem dämonischen Zauberer der Sage und Dichtung.