Abschnitt. 10 - ...Thüringen das Herz Deutschlands und Erfurt das Herz Thüringens,...

Höher und höher kamen auch Gewerbe und Handel empor. Es war ja kein Verdienst der vierzehn Gefrunden (Patrizier), die die Stadt in dieser frühesten Blütezeit regierten, daß die meistbefahrene Handelsstraße Mitteldeutschlands, die Oberstraße, aus dem Hessischen über Erfurt nach Leipzig führte, daß von Erfurt die Straße nach Dresden abzweigte, von hier die nach Norden, und noch weniger ihr Verdienst, daß Thüringen das Herz Deutschlands war und Erfurt das Herz Thüringens, also die „Mitte der Mitte“. Aber ihr Verdienst, wie sie diese natürliche Lage durch Arbeit und Klugheit ausnutzten und festigten. Das Straßennetz um Erfurt war das besterhaltene des Mittelalters; unablässig wurde es weiter ausgebaut; jede Nebenstraße, jede Fähre war auf Erfurt gerichtet. Und nirgendwo waren die Straßen sicherer; um Erfurt gab es keine Raubburgen, in seinem Gebiet keine Wegelagerer; ein Heer von Söldnern, ein Kranz fester Schlösser schützte den Verkehr. Mit der Hansa und den süddeutschen und sächsischen Städten verbündet, war Erfurt der Brennpunkt des mitteldeutschen Geleitswesens; seine Bedeutung als Stapelplatz habe ich bereits angedeutet. Aus all diesen Gründen, vielleicht ebensosehr aber aus der Kühnheit und dem Unternehmungsgeist der Bürger erklärt sich die Bedeutung der Stadt als deutsche Handelsmetropole des Mittelalters. Von allen Richtungen der Windrose kamen hierher die hochgetürmten Lastwagen gezogen; die aus Rhein- und Niederland durchs Brühler Tor, an der Cyriaksburg vorbei, wo sich heute riesige Gärtnereien dehnen; die Niedersachsen und Engländer um den Petersberg herum durchs Andreastor; die Lübecker und Hamburger über das weite Feld, wo nun ein Arbeiterviertel entstanden ist, durchs Johannistor; die Sachsen und Lausitzer über die Gera und durchs düstere Krämpfer Tor; die Vogtländer und Böhmen die Straße entlang, wo auch heute der Schienenstrang aus Weimar heranführt, durchs Schmidtstedter Tor; die Süddeutschen und Welschen über das Gefild, wo jetzt das Villenviertel ersteht, durchs Löbertor; nur da, wo in unseren Tagen der Fremde vom Bahnhof her eintritt, öffnete sich in der Stadtmauer kein gastliches Tor. Erfurt war ein Handelsplatz wie später Leipzig oder heute Hamburg; nur daß damals nicht bloß die Warenballen sich hier zusammendrängten, sondern auch die Scharen der Käufer und Verkäufer. Und weil hier mit allem gehandelt wurde, darum auch natürlich mit Geld; die Erfurter dünnen Silberpfennige mit dem Bischofsbild galten in jener Zeit unerhörter Münzfrevel als ehrliche, vollwichtige Ware sehr viel. Die Münze stand nie still; Erfurt war der Wechsler und Bankier für Mitteldeutschland wie Nürnberg für den Süden. Aus den Schatullen der Erfurter Gefrunden floß das Geld für Bankette, Turniere und Mätressen deutscher Kaiser, Fürsten und Bischöfe, freilich um dann mit gutem Zins zurückzufluten. Und zu diesen größten Formen des Handels gesellten sich die kleinsten; auch dies war eine Quelle von Erfurts Reichtum und sicherte namentlich neben dem blühenden Handwerk den Bürgern die Wohlhabenheit, daß es zugleich der Hauptmarkt für alle Bedürfnisse Thüringens war. Aus Erfurt ging Salz, Bier, Wein, Mehl und Obst, aus Erfurt Tuch und Hausgerät in die ganze Landschaft zwischen Hessen und Brandenburg, dem Harz und Franken. „Ganz Thüringen nährt und wärmt sich aus Erfurt“, sagt Nikolaus von Siegen.
Hier war Reichtum und darum auch Kultur. Arm waren die größten Menschen, die über die Erde geschritten sind, und ein einzelner Großer kann, auch wenn sein Weg immer durch Kälte und Dunkel geht, in seinem Hirn unsterbliche Gedanken tragen, aber der Durchschnitt der Menschen gelangt nur in der Wohlhabenheit zur Erkenntnis, was Bildung und was Schönheit ist. Die Erfurter konnten es wissen, sie hatten das Geld dazu, und alles, was das Leben jener Zeiten schmückte, was es warm und licht machte, war ihnen zugänglich. Aber zu dem Geld kam auch Stolz, Streben, der Weitblick des Großstädters. Doch nicht daran allein, wenn auch daran vornehmlich, lag es, daß die Erfurter des Mittelalters die Schule pflegten, die Dichter und Gelehrten in Ehren hielten, sondern auch daran, daß mindestens in einigen ihrer Klöster ein guter Geist waltete. Namentlich die Predigermönche, die ersten, die vor Luther den Deutschen das Wort Gottes in der Muttersprache verkündeten, haben unleugbar dem Leben der Stadt einen geistigen Hauch mitgeteilt, unter ihnen als Gewaltigster Meister Eckhart, der Begründer der deutschen Mystik, der vor sechs Jahrhunderten verkündete: „Die Seele, wenn sie vom Leibe ist geschieden, hat weder Vernunft noch Willen... Soviel ein Mensch in diesem Leben mit seiner Erkenntnis näher kommt dem Wesen der Seele, je näher ist er der Erkenntnis Gottes.“ Und ihm auch war schon klar, daß „die Wollust der Kreaturen vermenget ist mit Bitterkeit“... Ohne ihre Predigermönche, ohne die des Petersklosters, welche die getreuen Freunde und Chronisten der Stadt waren, wären die Erfurter doch wohl nicht dazu gekommen, durch die Schaffung der ersten vollständigen Universität in Deutschland ihrer Stadt einen unvergleichlichen Ruhmestitel zu schaffen.
Freilich, warum dachte keine andere deutsche Stadt daran? An gebildeten Priestern fehlte es nicht. Die Kulturtat von 1378 bleibt das Herrlichste von allem Herrlichen, was aus Erfurts Blütezeit zu berichten ist.
Man weiß, die Universität besteht seit fast hundert Jahren nicht mehr; sie ist 1816 auch offiziell aufgehoben worden, nachdem sie bereits seit Jahrhunderten nur noch ein Scheinleben geführt hatte. Nur ihr Schößling, die 1758 gegründete Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften, die jetzt das Prädikat „königlich“ führt, lebt noch; sie wäre die beste in Deutschland, wenn von den Akademien gelten würde, was von den Frauen ein Wahrwort ist; man spricht nicht von ihr. Das soll nicht ihren Mitgliedern zum Hohn gesagt sein; eine gelehrte Akademie in einer Handelsstadt ohne Universität ist wie eine Fassade, der das Haus, eine Wachskerze, der das Wachs fehlt. Ein anderes Überbleibsel ist die Universitäts-, nun Königliche Bibliothek, die jetzt in demselben Rokokohaus am Anger, dem alten Packhof, untergebracht ist, der auch das bereits seiner ungewöhnlichen Einsamkeit und seiner gewöhnlichen Bilder wegen gewürdigte Bildermuseum, daneben aber – das Steueramt birgt. Die Bibliothek enthält viele alte Drucke und über tausend Handschriften; ich suchte sie vergeblich zu sehen; diese Abteilung war eben geschlossen. Andere Bibliotheken sorgen dafür, daß gerade zur Sommerszeit der Reisende mit wissenschaftlichen Interessen ihre Türen offen findet; hier scheint dies nicht Brauch; vielleicht kommen auch zu wenige. Und so mahnt im Weichbild Erfurts nur noch ein Bau an die alte akademische Herrlichkeit, das Universitätsgebäude nahe der Studentengasse.
Ein langgestreckter Bau; auf einem hohen, alten Erdgeschoß mit gotischen Spitzbogenfenstern ein niedriges, in einer nüchterneren und ärmeren Zeit aufgesetztes Stockwerk; nur das Portal – unter dem geschmückten Giebel ein in schönen Verhältnissen nach innen abgestuftes Spitzgewölbe – zeugt von Künstlerhand, aber das altersgraue Haus macht doch Eindruck auf den Beschauer. Freilich „verwahrlost gönnte man fast sachen“, aber das Haus hat manchen Sturm erlebt, von dem großen Auflauf von 1510, da sich die Studenten hier gegen Bürger und Söldner verschanzten, bis zu dem kleinen Unfug, den heute die Realschüler beim Kommen und Gehen an dem bröckelnden Gestein verüben. Ein anderer Inwohner des Hauses zieht um so weniger Besucher herbei: das Thüringerwald-Museum, obwohl es ganz hübsche Kuriosa und Volkstrachten enthält. Das ist das Schicksal der Erfurter Sehenswürdigkeiten, nicht besehen zu werden, und darum ist es einigen nicht zu verübeln, daß sie streiken und sich überhaupt nicht besehen lassen. So zum Beispiel war die, wie es in den Reisebüchern heißt, gut erhaltene Aula zur Zeit nicht zugänglich. „Da müssen Sie in einigen Wochen wiederkommen“, sagte mir ein sehr würdevoller Herr, der eben aus dem Portal trat. Ich bemerkte bescheiden, ich sei ein Fremder. „Das ist nicht logisch“, war die Antwort. „Deshalb könnten Sie doch in einigen Wochen wiederkommen.“ Ich blickte bestürzt an mir hinunter, ob mich der liebe Gott nicht etwa plötzlich in einen Realschüler verwandelt hätte, und erwiderte dann mit der Bescheidenheit, die man Männern der Wissenschaft schuldet: ich würde gern wiederkommen, wenn nur die Aula genügend sehenswert sei. Worauf der Gelehrte mit vernichtendem Lächeln: „Was denken Sie sich denn unter einer Aula? Das ist kein Frauenzimmer: Aula heißt, wie schon bei den Griechen so bei uns, der Festsaal einer Universität.“ Worauf ich: ich sei bisher der Meinung gewesen, die Griechen hätten noch gar keine Universitäten gehabt, ebenso der Meinung, das Wort sei lateinisch und habe bei den Römern den Hofraum des Hauses bedeutet. Er zuckte zusammen: „Sind Sie Philologe?“ – „Nein, Schriftsteller.“ Da erschien flugs wieder jenes Lächeln um seine Lippen: „Das ist alles falsch! Übrigens kümmert sich kein Gebildeter heute um verstaubten Kram!“ Und er schritt erhobenen Haupts, ohne Gruß, von dannen. Ich sah ihm nicht nach; ich trat an die Mauer der Michaelskirche, der Universität gegenüber, prägte mir die Umrisse des ehrwürdigen Baues ein und gedachte der Männer, die einst täglich durch dies Portal geschritten.