Abschnitt. 1 - Von Wörlitz nach Erfurt - eine Geschichte voll Torheiten.

Merkwürdig ergeht es mir auf dieser Reise. Da sitze ich nun plötzlich in Erfurt fest, und das scheint mir fein, klug und weise. Aber wie ich, der ich ja von Wörlitz mit der Bahn über Dessau, Bitterfeld und Frankfurt in einem Zuge nach Luzern wollte, in diese Stadt der Blumen geraten bin, ist eine Geschichte voll Torheiten.
Als ich nämlich in Wörlitz zum Bahnhof wollte, da sagte plötzlich mein Herz so scheinbar ganz unbefangen zu mir: „Willst du denn wirklich das Klingelbahnchen nach Dessau zum vierten Mal genießen? Wär's nicht vergnüglicher, wir mieteten uns wieder unseren klugen Willem und kutschierten durch Wald und Heide fröhlich nach Wittenberg zur Station?“ Das war aber nur Heuchelei von diesem Herzen, es war ihm gar nicht um die Fahrt zu tun, sondern um Wittenberg, und in jeder der 46 Wochen des Jahres, wo ich vernünftig sein muß, hätte ich ihm gesagt: „Dummheiten, altes Herz! Ich weiß, du bist einmal in deiner Jugend dort sehr, sehr glücklich gewesen, drei ganze lange Frühlingstage hindurch. Wie auf dem Anger der Flieder blühte und wie am Schwanteich die Hutnadel verlorenging und wie im Stadtgraben die Nachtigallen schlugen – du, Herz, hast ja für all dies ein besseres Gedächtnis, indes ich weiß es auch noch. Aber eben darum, was willst du dort? Tot ist tot, wir finden in der grauen Stadt nichts von unserem jungen lachenden Glück wieder, nicht einmal die Nadel!“ Jetzt aber dachte ich: Dies törichte Herz sehnt sich bei sinkender Sonne an eine Stätte zurück, wo es einst, so recht im vollen Vormittagslicht, glücklich war; es wird, fürcht ich, wenig Freude davon haben, aber sein Wille geschehe! Und ich mietete den Willem, fand mich auch drein, daß er, als mein Koffer aufgeschnallt wurde, dem Hausknecht sagte: „Von Wörlitz zur Station in Wittenberg! Er is doch 'n Engländer!“ – recht hatte er ja.
Im übrigen war's, so in der roten Frühe, wirklich eine fröhliche Fahrt; an dem Park und dem Elbdeich vorbei und schnurgerade gegen Nordosten zur Elbfähre. Viel Besonderes ist nicht davon zu berichten. Von der Fähre betrachtet, sieht das Städtchen Coswig sehr malerisch aus, und namentlich das schöne stolze Schloß auf einem Hügel leuchtete im Morgensonnenschein, und die Wellen des langsam und majestätisch vorbeiwallenden Stromes spiegelten es verklärt wider. Da muß sich behaglich hausen lassen, dachte ich. Aber der Schein trügt, es ist das Zuchthaus für Anhalt. Seltsames Land, dachte ich, das für seine Kunstschätze nicht das kleinste und für seine Verbrecher ein so großes Schloß übrig hat, aber ich schwieg, denn mein Willem war wohl auch ein Kunstfreund, aber doch noch stärker als Patriot. „Hier weeß ich Sie ooch was altes Gemahldes for Ihnen!“ sagte er, als wir durch Coswig fuhren, und hielt vor einem verwaschenen Wirtshausschild, drauf sich tanzende Paare drehten. „Hier jederzeit kaltes und warmes Essen und Tanzvergnügen“; eine Stunde später aber – die Chaussee geht immer durch hübschen Wald zwischen Bahn und Strom – hielt er mitten zwischen den Tannen an und sagte mit einem Seufzer: „Hier is es! Nu kommen wir ins Ausland!“ Die Grenze Anhalts gegen Preußen... Nun, Willem ist nur ein Fuhrknecht, aber vor fünfzig Jahren haben das noch die klügsten Dessauer und Preußen so gesagt und empfunden.
Der Natur sieht man's übrigens auch hier nicht an. Der preußische Wald war ebenso hübsch wie der anhaltsche, und wie wir so dahinfuhren, und in der hellen Morgenluft schwamm der Tannenduft, die Vögel sangen, der Wind rauschte im nadligen Geäst und die Sonnenlichter haschten sich im Moos unten, da fiel meinem Herzen eine zweite Torheit bei. „Du“, sagte es, „wir gehen nach Luzern, gewiß, aber vorher machen wir in einem schönen, tiefen, kühlen Waldtal halt. Wald ist ja doch das Schönste.“ Und ich nickte und fragte nur: „Aber wo machen wir's?!“ – „Nun, natürlich in Thüringen; da kommen wir ja durch. In Oberhof zum Beispiel, da hat es den beiden Schwestern, Frau Grete und Frau Martha, im vorigen Jahr so gut gefallen, und die müssen wissen, was schön ist; sie sehen ja zuweilen gewiß auch in den Spiegel.“ Und ich wieder nur: „Gut, Herz, also Oberhof; da wollen wir's uns fröhlich machen.“
Aber auf dem Marktplatz zu Wittenberg, wohin wir endlich an einigen Dörfern vorbei und durch das langgestreckte Klein-Wittenberg gelangten, da konnten wir das nicht; da wurden wir beide traurig, mein Herz und ich. Wir hatten's zu genau im Gedächtnis, wie es da einst im Mai ausgesehen – und es war alles anders geworden. Die grauen Häuser am Markt waren neu getüncht, und wo früher die alte Karrete zum Bahnhof gestanden, winkte nun eine Pferdebahn; sogar die vierhundertjährige Schloßkirche hatte sich im Innern zwei neue Schiffe beigelegt und einen seltsamen Aufputz des Kuppelturmes, und die fast ebenso alte „Goldene Weintraube“ hatte gleichsam kehrt gemacht und streckte ihr Wahrzeichen nun nicht mehr zum Markt, sondern zur Juristengasse hinaus. Nur der Kellner dort war noch derselbe; wenigstens hatte er genau das gleiche Kellnergesicht und die gleiche Redensart: „Wir haben hier die schönsten Gäste.“ Ach, dacht ich, einen so schönen wie einst kriegt ihr nicht wieder, und in den Lüften roch es nicht nach Flieder, sondern nach getrockneten Blumen, aber nein, nicht einmal darnach roch es in der Wirtsstube.
Da saßen wir eine halbe Stunde, mein Herz und ich, beide stumm, ganz stumm, bis ich endlich leise sagte: „Nun komm zum Bahnhof.“ Auch auf der Fahrt durch die ewig lange Kollegiengasse hatten wir einander nichts zu sagen, nur einmal, als wir am Lutherhaus vorbeifuhren, lauschten wir auf; dort hängt auch das drollig-naive Bild eines Cranach-Schülers „Adam und Eva im Paradiese“, und von diesem Bild her vernahmen wir plötzlich im Vorbeifahren wie aus weiter, weiter Ferne ein silberhelles Lachen... Daß doch die Erinnerung an ein Lachen ein Herz so wehmütig stimmen kann... Am Bahnhof aber schiffte ich mich nach Oberhof ein.
Der Zug war überfüllt, ich fand gleich Bekannte, und wenn ich mich in das Dümmste hätte einlassen wollen, was der Mensch beginnen kann, nämlich in weise Betrachtungen über das Leben im allgemeinen, so hätten sie mir den Stoff dazu geboten. Denn in dem einen Coupé führte ein Kollege sein junges Weib ins Haus ihrer Eltern, daß sie dort ihre schwere Stunde bestehe, stolz wie auf kein anderes seiner Werke und doch in zitteriger Sorge; und im nächsten saß ein feiner, liebenswürdiger Mensch in tiefster Trauer, der geleitete die Leiche seines Vaters zur Verbrennung nach Gotha. Aber ich philosophierte nicht, sondern frühstückte vielmehr mit einem dritten Bekannten, der für vierzehn Tage direkt nach Biarritz sauste, im Speisewagen. Meine Erzählung, daß ich meine Reise in die Schweiz mit einem achttägigen Aufenthalt in Anhalt begonnen und nun durch einiges Verweilen in Oberhof fortsetzen wolle, nahm er mit liebenswürdigem Lächeln auf und fragte dann harmlos, ob ich nicht auch in Weißenfels, Naumburg, Kösen, Weimar und Erfurt anhalten wolle. „Nein“, erwiderte ich, „Weißenfels und Naumburg kenne ich bereits, Weimar erst recht, auch in Kösen war ich schon, aber Erfurt – das wäre wirklich was.“ – „Um Himmels willen“, rief er, „eine nüchterne, langweilige Geschäftsstadt. In die guckt selbst von den Leuten, die ihre Ferien nur in Thüringen zubringen, kaum einer hinein!“
Damit war das Gespräch zu Ende, in mir aber klang es nach: „Erfurt – wie wär's? Eine Geschäftsstadt, ja, aber sie ›macht‹ in Blumen, das ist doch eine hübsche Ware. Und das Dogma, daß eine Geschäftsstadt jedenfalls nüchtern und langweilig sein muß, steht ja nur für Banausen geschrieben, Menschen ohne Sinn für die Poesie unserer Zeit. Hamburg zum Beispiel – wer das langweilig findet, verdiente wirklich, immer nur in toten Nestern mit grasbewachsenen Straßen Kalbsbraten und nie in Hamburg ein Beefsteak zu essen. Zudem ist ja Erfurt uralt, eine Hansastadt, da kann's gar nicht nüchtern sein.“ Ich suchte in meinem Gedächtnis zusammen, was ich von seiner Geschichte wußte. Der heilige Bonifacius und – Bismarck im Unionsparlament und dazwischen die Universität und Dalberg, der Kur-Erzkanzler... viel war's nicht und zudem nur eben toter Kram ohne lebendige Anschauung; das Faßbarste war noch Dalbergs Wort an Goethe: „In Erfurt ist gut wohnen...“ Aber da tauchten mir, während ich so dem Widerklang dieses Städtenamens in mir lauschte, auch Bilder auf, die Farbe hatten und lebten, denn die hatte ich gesehen...