Abschnitt. 9 - Welche Mühe, welche Kunst, welche – Künstelei!

An der Stelle, wo sich Elbdeich und Feldstraße schneiden, erwartete mich mein Willem; die Ostgrenze befuhr ich wieder. Abermals hübsche Veduten, aber bescheidener; viel Äcker, mitten drin ein italienisches Bauernhaus – hier im Osten sollte der Übergang von der Horti- zur Agrikultur verbildlicht werden, der Tod nahm dem greisen Schöpfer Setzling und Richtmaß aus der Hand. Aber warum sollte auch nach seinem Plan der Westen reicher und farbiger sein als der Osten, warum trifft dies auch bei den meisten anderen Städte- und Parkanlagen zu? Es scheint ein Naturgesetz, aber ein Grund ist nicht zu ergrübeln...
Nun die Südgrenze, die armseligen Gäßchen von Wörlitz, und die Rundfahrt war beendet. Sie hatte mir neben so vielem Schönen und Seltsamen ein Bild der Gestaltung, eine Ahnung vom Wesen dieser Anlagen geboten, nebenbei auch die Frage beantwortet, warum sich ihr Umfang so verblüffend verschieden angegeben findet, 15, 12, ja 8 Kilometer, eben je nachdem die Vorposten, die „Schönheitspflästerchen“, einbezogen werden oder nicht. Je nach dieser Auffassung wird die Gesamtfläche größer geschätzt als die des Berliner Tiergartens oder gleich groß (250 Hektar) oder auch kleiner. Aber auf die mir unendlich wichtigere Frage: „Wie erklären sich die ungeheuren Widersprüche im Geiste dieser Schöpfung?“ hatte ich noch keine Antwort.
„Du mußt mehr, mußt alles sehen“, wiederholte ich mir und trat die Nachenfahrt an. Es ist eine wahrhaft erquickliche Fahrt, namentlich wenn man, wie ich heute, von keinem Friedchen, sondern von einem rüstigen Ruderer geführt wird. Hier hat der überschwengliche Rode recht: ein empfänglicher Mensch wird das nie vergessen. Das Seebecken durchschneidet die Anlagen etwa in ihrer Mitte von Westen nach Osten; schmalere Arme gehen nach Süden und Norden ab, zahlreiche Kanäle durchqueren alle Gärten. Schon ein Blick auf den Plan läßt den dreifachen Zweck erkennen: die Landschaft zu beleben, die unzähligen Bauten leicht zugänglich zu machen, die Gärten zu bewässern – wie trefflich dies alles erreicht ist, lehrt erst die Fahrt. Nebenbei bemerkt, der See, ein abgedämmter Elbarm, hat wenig Zu- und Abfluß, doch hat selbst an glühheißen Augusttagen kein anderer Sinn zu leiden, während das Auge schwelgt; es ist also auch mit dem „Tümpel“ nicht so schlimm. Und wie Schönes kann man da genießen! Mit Überraschung wurde ich gewahr, daß dem Park mit einiger Mühe – man muß eben die Absichten des Künstlers zu erraten suchen und den Ruderer ein wenig dirigieren – von der Seeseite weitaus die schönsten Bilder abzugewinnen sind, schönere als vom Deichweg, schönere als ich vorgestern in Schochs Garten gesehen. Also auch dieser dritte Gesichtspunkt war bei der Anlage maßgebend! Welche Mühe, welche Kunst, welche – Künstelei! Ja, auch dies mußte ich mir zuweilen sagen, namentlich wenn der Nachen nah dem Lande war und die – ich finde kein anderes Wort – raffinierten Mittel zur Erzielung des Effekts deutlich zu erkennen, zu zergliedern waren. Aber, mußte ich mir selbst vorhalten, ist das nicht ein Unrecht gegen den Künstler? Bedarf nicht jedes Bild einer Perspektive? Freilich, der Natur darfst du dich straflos nähern, sie bleibt immer einfach und groß und schön. Aber du bist ja in einem Park, genieße, was er dir bieten kann. Und ich ließ den Nachen weiter vom Ufer halten. Da war wieder alles schön, selbst die Bauten störten nicht mehr, und zuweilen erhöhten sie sogar den Reiz des Bildes. So, als wir am heiter-stillen Schlößchen mit den korinthischen Säulen mitten im hellen Park vorbeiglitten, während zur Linken die Halle des Pantheon grüßte und vor uns ein Grottenbau mit weiß schimmernden Statuen der Flut entstieg – wie soll ich schildern, wie mir da zumut war?! Kein Hauch der Antike mehr streifte meine Stirn, wie da ich vorgestern das Nymphäum zum ersten Mal erblickt; dazu hatte ich diese Tempelchen nun zu nahe gesehen, und ich träumte nicht mehr von Göttern und Hirten. Oder doch, aber anders, als da ich in Hellas wandeln durfte und am sizilischen Strand – so wie ich ihrer gedenke, wenn ich im Wieland lese. Sie sind's, und sie sind's wieder nicht, es ist alles fröhlicher Mummenschanz, das sind keine Götter, auch keine Griechen, sondern diesen klugen Männern fällt auf die Chlamys das gepuderte Zöpfchen im Nacken nieder, und aus dem Himation, in das sich diese anmutigen Frauen gehüllt, blickt ein pikantes Gesichtchen mit Schönheitspflästerchen und ein wenig Rouge auf den Wangen... Ja, dich grüße ich, du liebes, weises, graziöses Jahrhundert...
Lang blieb mir die seltsame Stimmung ungestört, denn erst am Nachmittag kommt der Menschenstrom aus Dessau; auf dem See, in den Gärten begegnete mir kaum ein Mensch. Es sind vier Gärten, verschieden in ihrem Charakter, obwohl sie derselbe Geist schuf, aber wie wandeln uns die Jahre! Der Schloßgarten ist der älteste Teil; da war der junge Fürst noch so heiter, so verliebt in seine feine, kluge, ein wenig gezierte Luise; ihr baute er das schöne Schlößchen, ihr schuf er aus dem steifen französischen Garten, den er vorfand, durch helles Laub und anmutige Blumenterrassen den fröhlichsten Platz, ihr aus Kastanien und Ahorn schattige Alleen zum beschaulichen Wandeln und aus immergrünem, hellem, fremdländischem Nadelholz eine Stätte für stillere Stimmungen. Und wo wieder ließ sich hübscher Ball spielen als auf dem prächtigen Rasenplan vor dem Schlößchen? Aber die Jugend weiß ja gar nicht, wie glücklich sie ist, und es gehört zu ihrem Glück, zuweilen zum Sterben traurig zu sein. Da ist der Englische Sitz, eine offene Halle, von der der Blick auf ein feierlich-ernstes Parkbild geht, oder die Bank, von der man in ein Dickicht düsterer Föhren und Zypressen blickt. Der Schloßgarten ist die Lyrik in dieser Parkdichtung, wie man bei Schochs Garten mit den kräftigen Eichen, den weitgestreckten Wiesenplänen wohl ohne allzuviel Künstelei an das Epos denken kann. Aber der „Neumärkische Garten“ bietet tatsächlich nicht das geringste Häkchen, einen Vergleich mit dem Drama dranzuhängen. Hinter dem seltsamen Eisenhart, der die großen ethnographischen Sammlungen Georg Forsters und dergleichen enthält, öffnen sich da weite, in altenglischer Art durch Kulissen abgeteilte Pläne, dann offene Wiesen und Haine, auch das kindliche Spielzeug eines Labyrinths ist hier zu finden. Hingegen läßt sich die Schöpfung des Herzogs in seinen alten Tagen, der Garten am Weidenheger, wieder zwanglos der didaktischen Poesie vergleichen. Er ist weniger schön als nützlich: Obstbäume, Gemüsebeete, Äcker.
Ein Werk der Jugend wie des Alters, eine Frucht vierzigjähriger Mühen ist der allmähliche Übergang vom stolzen Park zum armseligen Städtchen, den Herzog Franz schuf. Der Gelehrte hat unrecht gehabt; dies schwierigste Problem hat den Fürsten am längsten beschäftigt. Er löste es dadurch, indem er an der Grenze des Parks die Kirche und die Synagoge erbaute, beide – wie bezeichnend ist dies für das Jahrhundert der Toleranz! – zum größten Teil aus eigenen Mitteln, beide sehr geschmackvoll: die Kirche in Anlehnung an den gotischen Stil, die Synagoge ein zierlicher Rundbau; beide durch Gartenanlagen mit dem Park verbunden. Der Wanderer soll – ist der schöne Grundgedanke – aus dem Alltag an den Tempeln Gottes vorbei in die Tempel der Natur und Kunst treten. Auch rein künstlerisch betrachtet, ist die Lösung des Problems vortrefflich zu nennen; wer von der Kirche am Englischen Sitz vorbei zum Schloß geht, trifft auf eine Reihe der schönsten Bilder, die sich scheinbar ganz zwanglos aneinanderreihen. Auch dachte der Herzog an die Verschönerung von Wörlitz, nur starb er darüber hinweg. Man sieht, meine Vermutung war richtig, für den Stadtduft von Wörlitz ist das Zeitalter der Humanität nicht verantwortlich zu machen.
Stadt und Gärten liegen tief; die schützenden, mit Alleen bepflanzten Deiche sind wahrlich kein bloßer Schmuck – und wie oft versagte ihr Schutz! Zerrissene Inseln, versumpfte Wiesen, die nicht wieder zu entwässern sind, zwei kleine Seen (die Wallöcher) sind die Spuren der Elbe. Aber sooft sie ihm sein Werk zerstörte, der Mann mit dem eisernen Willen stellte es wieder her; dem heutigen Schloßherrn eine ungemütliche Nachbarin, war die Elbe dem Herzog Franz eine Todfeindin, aber er hielt ihr stand. Und als ich bei jedem Ruderschlag neue Zeichen dieses tapferen, unerhört zähen Ringens sah, da sagte ich mir: „Nein, nicht im Geschmack der Zeit, nicht in äußeren Einflüssen, in dieses Mannes Brust ist die Lösung der Rätsel von Wörlitz zu suchen. Wer sich nicht der Elbe beugte, der hat sich auch nur mit Willen der Mode gebeugt!“ Zur vollen Gewißheit aber wurde mir diese Erkenntnis, als ich sein feinstes und sein trivialstes Werk kennenlernte. Sein feinstes das Schloß, sein trivialstes der Stein.