Abschnitt. 7 - Kein Zoll ...ist zufällig und absichtslos.

Nun, verrückt komme ich mir selbst dieser Fahrt wegen auch jetzt nicht vor. Sie erfüllte meinen Zweck und war auch, so in der Frühe eines herrlichen Sommertags, an sich vergnüglich. Freilich, als wir die Westgrenze entlang, die schnurgerade Chaussee gegen die Coswiger Elbfähre zu trabten, war die nächste Umgebung nicht eben schön. Links Acker und Heide, aber auch auf der rechten, der Parkseite, große Getreidefelder. Da hatte ich gleich eine Probe von dem künstlerischen Grundsatz des Herzogs: den Park nirgendwo abzugrenzen, ihn möglichst zwanglos in die Umgebung verlaufen zu lassen, während sein Rivale Pückler-Muskau ebenso starr das Gegenteil durchführte. Als ich gestern Rodes Verteidigung des Wörlitzer Prinzips überflog, dachte ich, es komme doch wohl auf die Gegend an; in reizloser Landschaft ist der stark markierte Abschluß vorzuziehen, und nur in reizvoller, die das Material dazu bietet, der allmähliche Übergang in die freie Natur. Was ich vorgestern von der Umgebung von Wörlitz gesehen hatte, weckte mir die sehr naheliegende Befürchtung, daß hier ein an sich bestechendes ästhetisches Prinzip in der Ausführung gescheitert sei. Dies Getreidefeld sprach nicht dagegen, und ich habe den gleichen Eindruck auf der ganzen Rundfahrt gehabt: der Herzog hat auf die vorgeschobenen Büsche, Baumgruppen und umsäumten Sümpfe unendlich viel Kraft, Geld und Zeit gewendet und doch Hübsches nie, Passables selten und zumeist das Gegenteil seiner Absicht erreicht. Daß einige anders denken, kann mich, der ich immer nur meinen persönlichen Eindruck geben will, nicht hindern, dies zu sagen. Diese Vorposten scheinen mir wie Schönheitspflästerchen, und die heben nur ein hübsches Gesicht; ein unhübsches machen sie erst recht häßlich. Jedoch auch auf einen Grundzug der ganzen Anlage weist uns schon dies Detail hin: Herzog Franz war ein echter Künstler von nicht eben eng begrenztem Können, aber eigensinnig war er und hatte – wie die meisten Talente seiner Zeit auf allen Gebieten – viel zuviel Theorie im Leibe.
Freilich, in der roten Frühe ist selbst ein Getreidefeld schön, und vollends hoben an seiner Grenze die Pinien und Platanen in Schochs Garten ihre Wipfel wie Flammen in den Himmel; so rot war noch der Ton in den Lüften, daß das große rote Backsteinhaus, auf das wir zufuhren, wie gelb erschien. Es ist die Hofgärtnerei, und da die Gewächshäuser gerühmt werden, stieg ich ab, sie zu besichtigen. Aber im Hofe fand ich nur eine mürrische junge Magd, die Geschirr wusch, und die bedeutete mich, die Gehilfen seien schon weg, der Herr Hofgärtner noch nicht zu sprechen, auch würden die Treibhäuser nicht jedem gezeigt. So ging ich denn auf eigene Faust weiter, guckte durch die Glaswände und bedauerte, so wenig von Botanik zu wissen. Denn wohl hatte ich immerhin einige Freude, hier an stolz und kühn geschwungenen Blättern, dort an einer Blüte von seltsamer Farbenpracht, aber nur so ein bißchen Freude, rechten Genuß hat man nur von dem, was man versteht, wofür der Blick geschärft ist. Besser schon ging's mir zwischen den Blumenbeeten, da waren doch meist alte Bekannte beisammen, freilich im Feiertagsstaat, während man sie in den gewöhnlichen Gärten nur im Werktagskleid sieht; welch herrliche Rosen und Geranien, Lilien und Narzissen! Auch eine hübsche Spielerei ist da zu sehen: ein ganzes bunt schimmerndes, betäubend duftendes Blumentheaterchen. Mitten zwischen den heimischen Pflanzen stand eine Kaktee von unerhörter Seltsamkeit der Formen; ein alter Gärtnerknecht arbeitete dicht daneben, ich fragte ihn nach dem Namen der Fremden. „Das kann ich Sie leider nich sagen“, erwiderte der gute Alte, „aber“, fügte er wichtig bei, „sie hat 'nen lateinischen Namen, dadruff kännen Sie sich verlassen, lieber Här!“ Ich zwang mich zu einer erstaunten Miene. „Warum einen lateinischen?“ – „Weil sie doch“, erläuterte er, „aus Asien is, wo die Neger wohnen!“ Nun wußte ich's und konnte weiter zum Floratempel gehen.
Das ist ein nettes, freundliches Tempelchen, wohl irgendeinem spätrömischen Vorbild und sicherlich en miniature nachgebildet; mit solchen Nippes gaben sich die Römer nicht ab. Indes, auch die Umgebung ist leidlich dazu abgetönt, und so gibt das Ganze wieder ein sauberes Kupfer, pseudoantik wie Wielands „Musarion“. Auch im Innern bin ich gewesen. Die untere Halle ist gähnend leer: der Herzog starb, eh er sie füllen und dekorieren konnte. Die obere Halle erreicht man auf einem künstlichen Felsenwege. Hu! welch schauerliche Felsen; ich hielt sie für Schweizerkäse, aber es sind wirklich Granitblöcke, die man in Fünfkilopaketen versenden könnte. Auch die fast lebensgroße „restaurierte“ Statue der Flora, die in der Halle aufgestellt ist, zwingt uns ein Lächeln ab: ein Arm ist antik, alles andere neu, und weiß Gott, wozu dieser eine echte Arm gehörte... Wie erklärt sich diese arge Geschmacklosigkeit? Der Herzog sei, sagte ich schon, im Gefühl für die Antike trotz engen Anschlusses an Winckelmann nicht ganz sicher gewesen; daneben aber wurde ihm bei dieser wie einigen anderen, freilich nicht gleich argen „Restaurierungen“, denen wir im Schloß begegnen werden, gerade die Pietät für den großen Stendaler zum Unheil. Als Winckelmann 1768, von dem Bildhauer Cavaceppi begleitet, die Heimreise nach Deutschland antrat, war Wörlitz beider Hauptziel; in Wien kehrte Winckelmann bekanntlich in einem Anfall dunkler Schwermut um und endete dann in Triest durch das Messer eines Banditen; so kam Cavaceppi allein nach Wörlitz, vom Herzog als das lebendige Vermächtnis des über alles verehrten Freundes mit offenen Armen empfangen, durch größtes Vertrauen ausgezeichnet. Aber sei's nun, daß es Cavaceppi an künstlerischem Ernst oder dann, nach Winckelmanns Tode, an der Führung fehlte, er hat sich in Wörlitz durch sonderbare Denkmäler verewigt, unter denen diese „Flora“ das sonderbarste ist... Da sind die Wandmalereien des Tempelchens noch vorzuziehen, ganz brave Arbeiten im Zopfstil. Das relativ Beste aber in dieser kleinsten der sieben Wörlitzer Sammlungen sind die Blumenstücke eines sonst kaum genannten Malers, Johann Drechsler.
Auf dem Rückweg zu meinem Wagen kam ich wieder an der Magd des Hofgärtners vorbei; träge und verdrossen spülte sie nun ein großes Kaffeeservice. Strafe muß sein, dachte ich, und trat auf sie zu. „Minchen“, sagte ich vorwurfsvoll, „vorgestern war der Kaffee bei der Frau Hofgärtnerin, und heute spülen Sie die Tassen! Minchen, das kann mir nicht gefallen!“ Puterrot, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Munde starrte das Mädchen den wildfremden Mann an, der ihren Namen und sogar ihre Sünden kannte. Noch als ich weiterfuhr, stand sie auf demselben Fleck... Ich fürchte, ich werde in Wörlitz nicht bloß als Kommissionsrat und als verrückter Engländer, sondern auch als Hexenmeister fortleben.
An der Stelle, wo die Coswiger Chaussee den Elbdeich durchschneidet, stieg ich aus, um den Deich, die Nordgrenze des Parks, zu begehen. Der mit schattigen Bäumen bepflanzte, mit allerlei hübschen oder doch amüsanten Bauten geschmückte Deich ist an sich ein angenehmer Spazierweg, aber das Beste daran ist die Galerie schöner, abwechselnd weiter und begrenzter und immer malerischer Bilder, die er bietet. Dies gilt von der Park-, also bei meinem Gang der rechten Seite; zur Linken sieht man freilich nur die sumpfigen Elbauen mit den „Schönheitspflästerchen“, aber darüber hinaus die dunklen Forste am linken Stromufer. Zur Rechten jedoch – da hat man wirklich immer, immer, bei jedem Schritt und Blick seine Freude: hier eine heitere, dort eine düstere, dort wieder eine mild-ernste Landschaft, oder hier ein kleiner See, dort nur ein gewundener Kanal, und zwischendurch immer der ganze Park und See, an einzelnen Punkten darüber hinaus ein weites Stück Ebene mit ihren Wäldern, Helden und Dörfern bis Oranienbaum hin. Überflüssig zu sagen, daß all diese Bilder und Bildchen Erzeugnisse der Kunst sind, und welcher fleißigen, mit unsäglicher Geduld und Hingebung geübten, mit Wissen und Erfahrung gepaarten Kunst! Natürlich dient dem Endzweck, dem Wanderer hier oben die da unten geformten Bilder so zu zeigen, wie sie am malerischsten wirken, jede Fußbreit des Deichs; kein Zoll seiner scheinbar willkürlichen Windungen, seiner Erhöhungen und Senkungen ist zufällig und absichtslos; auch jedes hohe Gebüsch an seinen Rändern, das die Aussicht ganz hemmt, jedes niedrigere, das sie nur unter Verdeckung des nächsten Vordergrundes gestattet, ja jeder einzelne Baum dient dem einen Zweck. Aber Hand in Hand mit dieser Nebenarbeit mußte ja die Hauptsache vollbracht werden: das Stellen und Formen der Bilder, und sie mußten ja auch jedes an sich, da unten besehen, schön sein.