Abschnitt. 6 - Und übermorgen wieder nach Wörlitz!

Des Abends saßen der Kunsthistoriker und ich noch ein halbes Stündchen im Garten des „Goldenen Beutel“ beisammen... „Magdeburg, Halberstadt bis Halle“, entwickelte er sein morgiges Programm. „Und Sie?“ Ich wolle in Dessau bleiben, sagte ich, die Sammlungen ansehen. „Und übermorgen wieder nach Wörlitz!“ meinte er lächelnd. „Ich hab's Ihren Augen angesehen, der selige Schoch hat's Ihnen angetan. Jedoch ich warne Sie: alte Kunst ist ewig jung; Claude Lorrain, Ruisdael, aber veraltete Natur – brr! Diese strotzenden Bäume sind dennoch tot, auf diesem grünen Rasen liegt Staub. Und schreiben können Sie ohnehin nichts darüber! Glauben Sie, es ist Zufall, daß man nie was über Wörlitz liest? Es würde die Leute nur langweilen...“ Und fort war er, zum Zug nach Magdeburg. Ich aber blieb noch lange, sehr lange allein sitzen, und während ich immer noch eins trank unter den kühlen, rauschenden Bäumen, versank ich in tiefes Grübeln über ihn, über Wörlitz und über mich. „Sieh“, sagt ich zu mir, „dieser Mann hat ja nur für sein Teil recht. Wie der Schnecke ihr Haus, ist ihm ein Automobil neuester Konstruktion angewachsen, in dem muß er nun dahinsausen. Im Automobil kommt man auf seltsam verschnörkelten Wegen schlecht fort, und den stillen Hainen, dem feinen Muschelkies der Pfade tut wieder das Automobil weh. Dir aber ist – leider oder gottlob, aber so ist's – nichts dergleichen angewachsen, nicht einmal ein hohes Roß unter dem Gesäß; du bist von Natur ein bedächtiger Fußgänger; vielleicht verträgst du dich mit Wörlitz besser. Vielleicht – schon in den wenigen Minuten, da du es heute mit sehnender Seele belauschtest, kam dir flüsternde Antwort. Versuch's also, aber dann auch recht. Wer um das Tiefste eines Kunstwerks wirbt, um seine Seele, darf nichts wollen als dies und an nichts anderes denken, nicht an sich selbst und noch weniger an den Fahrplan und am wenigsten, ob sich dann ein Aufsatz daraus machen läßt. Und um ein Kunstwerk handelt sich's hier; das weißt du schon, oder richtiger, um eine ganze Galerie von Landschaften desselben Künstlers. Denn was die ›alte Kunst‹ und die ›veraltete Natur‹ betrifft, so darf dir dies schon jetzt nach dem wenigen, was du in Wörlitz gesehen hast, mehr als ein Schlagwort der Automobilästhetik, von der heute die Welt voll ist, denn als eine Wahrheit erscheinen – aber du wirst ja mehr, wirst alles sehen... Bis dahin aber glaube dir, daß auch hier ein Künstler zu dir reden wird, und bereite dich vor, ihn mit Andacht und Verständnis anzuhören.“ Wenn ich einem Dichter gegenüber in gleicher Lage bin, wenn ich einzelnes von ihm mit innerer Teilnahme gelesen habe und nun nach seiner Gesamtausgabe greifen will, so suche ich immer vorher einiges über sein Leben zu erfahren, über die Einflüsse, die ihn erhoben oder hinabzogen. Nie hat mir dies die Unbefangenheit des Genießens behindert; im Gegenteil, vieles ist mir erst dadurch ganz aufgegangen. Nur das Gewordene gilt, das Werk, wie es ist, entscheidet, aber kann man ahnen, wie es wurde, so geht's einen näher an. Und darum beschloß ich, es mit diesem fürstlichen Gartenkünstler ebenso zu halten.
Dies habe ich denn auch getan, so gut es gehen wollte. Auf der Dessauer Bibliothek ließ ich mir gestern vormittags einiges über Wörlitz und seinen Schöpfer geben; viel Treffliches war nicht darunter. Denn so unglaublich es klingen mag, eine ordentliche Biographie des Herzogs Franz haben seine Nachfolger bis heute nicht veranlaßt; ein in seiner Art wirklich einzig dastehender Fall... Donnerwetter, dafür wäre ja, da es sich um einen so würdigen und dabei höchst interessanten Fürsten handelt, ein bedeutender Historiker auch ohne Subvention zu gewinnen, es würde also nicht einmal etwas kosten, nur denken müßte man daran... Auch die Literatur über Wörlitz scheint mir nach flüchtiger Durchsicht qualitativ nicht reich. Nun, ich suchte nur Tatsachen, überschlug absichtlich die Urteile; was ich brauchte, fand ich notdürftig in der Schrift von Propst Reil über den Herzog (1845), von Rode über Wörlitz (1818). Gestern abend aber fuhr ich mit dem letzten Zuge von Dessau hierher, übernachtete hier und war heute von der roten Frühe bis zum letzten Tagesschimmer in den Gärten – die Mahlzeiten natürlich abgerechnet, denn ich habe ja keine Spezialmission.
Und das will ich auch gleich im Ernst wiederholt haben. Dieser Aufsatz soll keine Lücke in der Literatur unserer Tage ausfüllen. Diese Lücke besteht freilich; es ist wirklich ein Rätsel, warum wir heute über entlegene Täler Norwegens mehr hören als über diese in ihrer Art einzige Schöpfung von höchstem kulturgeschichtlichen und hohem künstlerischen Wert. Aber dazu würde die erschöpfende, systematische Arbeit eines Kultur-, eines Kunsthistorikers und eines Botanikers gehören; die Mitwirkung eines Literarhistorikers, eines Archäologen und eines Ethnographen wäre zudem auch fast unentbehrlich. Denn dies Wörlitz mit seinen vier Gärten, seinen sieben gewaltigen Kunst- und wissenschaftlichen Sammlungen ist ja eine Welt für sich, ist ja tatsächlich das Spiegelbild, der Inbegriff eines reichen, nach allen Richtungen tapfer ringenden oder doch rührend tastenden Jahrhunderts. Ich aber bin nur ein Schriftsteller, der nie vergißt, wie winzig klein der Kreis ist, innerhalb dessen er etwas weiß und kann, und wie ungeheuer groß alles andere. Und darum will dieser Aufsatz nichts sein als ein Spiegelbild meiner persönlichen Eindrücke an den beiden Tagen, aber wenn er nur ein Teilchen von der Erbauung, der Freude und dem Spaß widerspiegelt, die ich da hatte, so ist er doch in seiner Art, die keine Ansprüche erheben darf und keine erhebt, nicht ganz unberechtigt. Ich erzähle also von meinem zweiten Tage, wie ich's vom ersten getan habe.
Natürlich lag mir zunächst daran, mir die Pläne und den gestern zusammengerafften Notizenkram durch die Anschauung zu beleben, und so fuhr ich heute in aller Gottesfrühe in einem Wägelchen, das ich mir schon gestern abend bestellt hatte, rings um den Park. Dies schien mir zur Erreichung meiner Absicht ein angenehmes und zweckdienliches Mittel, aber ungewöhnlich war es wohl; das erkannte ich schon gestern abend an den verblüfften Mienen der Hotelleute; nun aber, bei der Ausfahrt, wurde ich wieder daran erinnert, wie Unerhörtes ich plante. Die von den Anlagen ausgefüllte Fläche hat die Form eines unregelmäßigen Vierecks; die längste, die Nordseite, wird durch den Elbdeich, die kürzeste, die Südseite, durch die Straßen von Wörlitz, die Westseite durch die Chaussee nach Coswig, die Ostseite durch eine von Wörlitz nach Gehöften der Elbauen auslaufende Feldstraße gebildet. Da nun die Gasthöfe im Süden liegen, so hielt ich's für gleich, ob wir nach Westen oder Osten ausfuhren, und befahl die Richtung nach Coswig. Der Kutscher, ein junger Mensch mit drolligen Pausbacken, glotzte mich aus seinen wasserblauen Augen sprachlos an. „Was ist's denn?“ fragte ich. „Sollen wir lieber umgekehrt gegen Riesigk zu beginnen?“ – „Nee!“ – „Dann vorwärts!“ Wir fuhren aus, am See entlang, über dem noch die dichten Nebel wogten, am Eisenhart vorbei, dessen verwitterndes Erz im Widerschein der roten Sonne magisch glühte, während die prächtigen Eichen- und Tulpenbäume des Neumarkischen Gartens wie in Flammen standen. Es war ein schönes Bild, und der Garten erschien in diesem Licht so fremdartig, daß ich, der ich ihn vorgestern nur bei Nachmittagssonne und von der Seeseite gesehen hatte, den Kutscher fragte, wie diese Partie heiße. Er wandte sich nach mir um, besah mich wieder nachdenklich eine lange Weile und sagte dann: „Der Neumärkische Garten.“ (So sagen alle Wörlitzer, sogar die Pläne der Hotels haben diesen Umlaut.) „Woher kommt der Name?“ fragte ich, obwohl ich's wußte. „Weil in die Neumark lauter solche Gärten sind!“ Man sieht, die Wörlitzer überschätzen die Gartenkunst zwischen Friedeberg und Arnswalde und – ach, was ist der Ruhm! Neumark hieß ein Gärtner des Herzogs; der liebenswürdige Fürst ehrte ihn wie Schoch, indem er seinen Namen für ewige Zeiten mit seiner Schöpfung verknüpfte. Indes, Neumark war nur ein Gärtner, aber in der nach Johann Gabriel Seidl genannten Seidlgasse zu Wien erhielt ich auf meine Frage die Antwort: „Weil ja da vier Wirtshäuser sind und also viele Seidel getrunken werden!“, und in der (übrigens damals noch unbebauten) Fontanestraße in Rixdorf erwiderte mir ein Arbeiter: „Weil hier mal 'ne Fontane herkommen soll – 'n Springbrunnen“, half er meinen Sprachkenntnissen nach. „Aber“, fügte er bei, „bis die Rixdorfer was machen, kann man lang warten!“, und in diesem besonderen Falle hat er gewiß recht... Aber ich habe ja noch zu erzählen, wie mich mein Kutscher ehrte. Als er mit dem heimlichen Kopfschütteln und Anschielen gar nicht enden wollte, zog ich eine Zigarre hervor. „Hier, Willem, aber nun ehrlich: was wundert Sie so an mir?“ Er grinste verlegen. „Weil Sie so kutt deutsch räden, lieber Här, akk'rat wie ein Deutscher!“ – „Aber ich bin ja kein Ausländer!“ – „Im Gasthof sachten se: 'n Engländer!“ Mir ging ein Licht auf. „Dort sagten sie wohl, ich müßte ein verdrehter Engländer sein, weil ich sonst nicht rings um die Gärten fahren wollte?“ Er nickte. „'s dhut's ja ooch sonsten keener!“