Abschnitt. 5 - "Wanderer achte Natur und Kunst und schone ihre Werke"

Die wenigen Minuten, die ich vorgestern allein in der Umgebung des Gotischen Hauses verbrachte, waren so still und schön, wie ich sie von diesem verhasteten Tag nimmer erwartet hätte. Was ich sah, war so lieblich und hell – ich glaubte damals, ein Zufall habe mich mitten in den schönsten Teil des Parks geführt; seit heute weiß ich, daß Schochs Garten, zu dem diese Insel gehört, nur ebenso hübsch ist wie hier alles. Ich ging zunächst der Sonne nach, durch prächtige Wiesen, wie ich sie so smaragden kaum je habe schimmern sehen, an einzelnen hochstämmigen Bäumen vorbei; überall Luft, Licht, scheinbar endlose Weite: hier der breite Seespiegel, dort eine schräg zurückfliegende Laubwand, die wieder den Blick auf große Wiesen öffnet, der Pfad in mächtigem, nach der Hogarthschen Linie gezogenem Bogen – ein echt englisches Parkbild. Aber nun tritt der Pfad in dichtes Gehölz, und wie er ihn schon nach wenigen Sekunden verläßt, ist dem Blicke ein anderes, grundverschiedenes Bild gebreitet, um das trotz seines Ernstes ein Hauch des Südens weht: dicht am Seeufer eine Gruppe prächtiger Zypressen und Platanen, in ihrem Schatten eine graue, halbrunde Steingrotte, rechts und links der breite Seespiegel. Ich will zugeben, als ich näher kam, schwächte sich der Eindruck; nur die Bäume wirkten herrlich wie zuvor (schönere orientalische Platanen erinnere ich mich kaum gesehen zu haben), aber das Grottchen – das Nymphäum – etwas kindlich; nun, war's kein Bild vom italischen Strand mehr, so doch noch immer ein lebendig gewordenes Kupfer zu Wielands Werken um 1780, und auch das sieht man gern einmal greifbar vor sich... Dann wieder der Ausblick auf die weite Wiese, eine andere dünne, dichte Gehölzwand und abermals ein ähnliches Bild, diesmal von Anbeginn nichts mehr als ein solches altes sauberes Kupfer, aber trotzdem aus der Ferne nett: der Dianenhain mit einer Statue aus Sandstein, vermutlich die Göttin; ich weiß es nicht, denn im Hain hörte eben ein Trupp Reisender den mythologischen Exkurs eines Wörlitzer Fremdenführers an, und ich entfloh. Stimmung ist ein Schmetterling, man muß ihn vor plumpen Händen schützen, sonst wird er zum zerdrückten Insekt, häßlich für uns und andere... Ich ging wieder dem Gotischen Hause zu, an einem Altärchen vorbei, auf dem die Worte stehen: „Wanderer achte Natur und Kunst und schone ihre Werke“ – wieder ein hübsches Bildchen, eine Titelvignette, auf meiner Ausgabe von Heinses „Ardinghello oder die glückseligen Inseln“ ist eine ähnliche zu finden. Endlich dicht am Hause abermals ein solches in sich geschlossenes Bild, das aber mehr ist als hübsch; es ist wirklich Stimmung darin, sanfte, elegische Stimmung; wer das komponiert hat, war ein Künstler, mit dem Zöpflein im Nacken – gewiß, aber ein Künstler; schöne Zedern und Zirbeln, hinter denen dunkle gewaltige Hemlockstannen aufragen, umgeben eine Grabstätte; über dem Eingang die Inschrift: „Seiner Hände Fleiß verschönerte diese Gefilde, / Sanft walle dort sein Geist wie hier dieses Gebüsch.“... Auch die Inschrift schmiegt sich dem Ganzen an, alles klingt hier in einen Ton zusammen, eine feine, wehmütige, verzitternde Melodie..., und der liebe Schmetterling umgaukelte mein Haupt und ließ seine Flügel farbig vor meinen Augen leuchten... Da klang eine nervöse Stimme in mein Ohr: „Wissen Sie, wer hier begraben liegt? Herr Schoch samt Familie, der Hofgärtner. Ja, ja, Serenissimus wußte alles, sogar daß die Alten ihre Lieblingssklaven zuweilen in der Nähe ihrer eigenen Wohnstätten begruben, war ihm nicht unbekannt!“... Nun ja, man kann es auch so ansehen, aber der arme Schmetterling war für heute tot, ganz tot, und es war gleich gültig, ob ich mit dem Gelehrten nun zum Bahnhof mitfuhr oder nicht. Und so half ich ihm Friedchen aus sanftem, süßem, auf zwanzig Schritte Entfernung hörbarem Schlummer aufrütteln, und der Kahn stieß vom Lande.
Über den Weg ergab sich zwischen der Holden und dem Gelehrten ein Disput; „der Zug geht oft schon vor sechs“, warnte sie und wollte direkt zur Landestelle; er aber, der mit Recht an diese unerhörte Besonderheit der Wörlitzer Bahn schwerer glauben konnte als an die von Brehm bekundete Bequemlichkeit aller Nilpferde, bestand darauf, daß sie mindestens Schochs Garten umkreise, „denn“, erklärte er mir sehr liebenswürdig, „Sie sollen doch noch etwas von Wörlitz sehen“. Aber ich sah so nicht viel, und an das wenige hing er doch nur immer einen Witz, weil er nicht anders konnte. Zudem rückte der Uhrzeiger bedenklich vorwärts, und Friedchen nahm die Mahnung zu größerer Eile ungnädig auf. „Mein kuder Här“, sagte Sie, „so dicke ich bin, so flinke bin ich, und 'ne faule Liese, wie sie der kottseeliche Här drüben zur Straf hat aushaun lassen, bin ich nich!“ Sie deutete auf eine Grotte, die einen Augenblick links über der Seefläche sichtbar wurde; aus dem Plan der Gärten konnte ich erkennen, daß es die Grotte der Egeria war. „Das war aber eine Art Göttin“, sagte ich, „und keine ›faule Liese‹.“ – „Ja, for die Fremden!“ erwiderte Friedchen überlegen. „Da war sie nämlich zu des kottseelichen Härn Lebzeiten hier in Wörlitz 'ne Liese, soweit 'n hübsches Mächen, aber faul und auch sonsten – na, Sie wissen schon! Und da ließ der Här diese faule Liese halb nackig und liegend als Ekeria in Stein machen, weil die auch so 'ne Person war!“ – „Die Egeria?!“ – „Na freulich! Bei Dache dhat sie nischt, und nachts gab sie 'nem jungen Windbeutel vom Hof beese Ratschläge, zum Beispiel wie er die Leute anpumpen sollte, und davon hieß er Pumpilius...“ Der Kahn kam in bedenkliches Schwanken...
Aber diese Probe, wie sich das Volk in Wörlitz seine Denkmäler und die Mythologie menschlich nahe, sehr nahe bringt, sollte leider nicht das letzte sein, was ich aus Friedchens Munde hörte, sondern etwas Furchtbares – oh, hätt ich es nie vernommen... Man erinnert sich meiner Wandnachbarn im Dessauer Hotel am Bahnhof, und wie Fritz in Wörlitz die Schifferin in die Wade zwickte und dann noch seine arme Clara durch den vielleicht begründeten, aber jedenfalls höchst unzarten Vorwurf der Wadenlosigkeit kränkte. Nun denn, die Schifferin war Friedchen – man glaube es mir, so was ersinnt keine Phantasie. Denn als der Gelehrte nochmals, die Uhr in der Hand, zur Eile drängte, da sagte Friedchen: „Na, sonst sind die Herrschaften kottlob besser mit mich zufrieden. Kestern fuhr ich 'n Ehepaar, da sagte der Herr: ›Fahren Sie sachte, liebes Friedchen, strengen Sie sich nich so an‹, und die Frau, 'ne Hopfenstange, ärgerte sich...“ Fritz, du hast die Grenzen der Menschheit überschritten, und wenn dich zur Vergeltung das Härteste träfe, ja, wenn Friedchen dein Werben erhören würde, selbst diese Strafe wäre nur gerecht.
Als wir die Landestelle erreichten, fehlten nur noch wenige Minuten auf sechs. „Wir müssen laufen“, sagte der Gelehrte, aber da traf er auf einen der wenigen starren Grundsätze meiner sonst lenksamen Natur: ich laufe niemals. So machte er sich allein auf den Weg; „kommen Sie nach!“ rief er, „ich halte so lange den Zug zurück!“ Und noch eh er weit um eine Ecke verschwand: „Verlassen Sie sich darauf!“ Als ich diese Ecke erreichte, da verzitterten gerade die sechs Schläge vom schlanken Wörlitzer Kirchturm in der heißen, schweren Luft. Nun dampft er ab! dachte ich und ging gemächlich weiter. Aber als ich wieder um eine Ecke bog und nun den Bahnhof sah, stand der Zug noch da. Und wieder nach einigen Minuten konnte ich unterscheiden, wie der Stationschef und der Gelehrte vor dem Bahnhof standen und mir heftig mit ihren vier Armen telegraphierten. Da tat auch ich ein übriges und ging etwas rascher. Zehn Minuten nach sechs war ich im Coupé, und der Zug ging ab. „Wie haben Sie das angefangen?“ rief ich. „Mein Geheimnis!“ lachte der Gelehrte, und ich hab's wirklich nicht erfahren. Ich weiß nur: als ich gestern abend hier ankam, grüßten mich die Bahnbeamten so rätselhaft, respektvoll, daß mich's wonneheiß überlief: Am Ende halten sie dich für einen Kommissionsrat, wie hierzulande so viele Lotteriekollekteure betitelt sind!
Auf der Rückfahrt, bei kühleren Lüften und im Rot der sinkenden Sonne, sah die bescheidene Landschaft hübscher aus als auf dem Hinweg, aber sicherlich nicht deshalb waren alle Gesichter in dem überfüllten Coupé heiter, und das fröhliche Gesumme wollte nicht verstummen; das war der Nachklang von Wörlitz. Auch heute fiel's mir im Park auf, und meine Dessauer Bekannten sagen, das sei immer so. Kein Wunder, zu allem übrigen ist Wörlitz auch sehr amüsant, und jeder Geschmack, vom feinsten bis zum leutseligsten, findet dort seine Rechnung... Nur ein Antlitz war düster, und vielleicht fiel's mir zunächst nur des Gegensatzes wegen auf, dann aber bannte mir auch die Schönheit der Züge und eine Ähnlichkeit den Blick. Eine liebe junge Frau in tiefster Trauer, blond und der Gabrièle d'Estrées ähnlich, soweit ein keusches, ins tiefste Herz getroffenes Weib überhaupt an eine lachende Buhlerin erinnern kann. Ihr Gatte, ein schneidiger Herr mit kühnem Haby-Schnurrbart, sprach unablässig von all den heitern Sächelchen von Wörlitz; sie nickte zuweilen, so, um seinen guten Willen zu ehren, aber die tiefen Winkel des rührend blassen Mündchens hoben sich nicht, und der Blick blieb starr. Solche Trauer erfüllt ein so junges Weib nur um einen Verlust. Er erzählte von Interlaken, wo sie übermorgen sein würden, und dann könne sie nach Luzern, an den Genfer See, wohin sie wolle... Mann, dachte ich, du meinst's ja gut. Aber sieh doch ein, wie vergeblich jetzt noch das alles ist. Und liefest du mit deinem armen jungen Weib die Welt zu Ende und zeigtest ihr alle irdischen Paradiese, vor ihrem Blick steht doch immer nur ein einziges Stücklein Erde: das kleine Grab auf dem Friedhof der Weltstadt, wo ihr einziges Kind so ganz allein schläft...