Abschnitt. 4 - Die pikante Schönheit mit dem unfranzösischen Namen und der bedenklichen Herkunft ...

So tappten wir beiden Besucher zunächst hilflos durch das Dämmer dieser dunkelsten aller Bildergalerien, die sich in unserem irdischen Jammertal finden, und erheiternd waren in den ersten Minuten nur die kunsthistorischen Exkurse unserer Führerin. Nun ja, man lacht über derlei Dinge, aber recht ist's doch eigentlich nicht. Diese Führerin war ein nettes, braunäugiges Ding, das trotz seiner siebzehn Jahre bereits ein herzoglich anhaltinisches Hofamt bekleidete: Stellvertreterin des Fräulein Kastellanin. So stellte sie sich uns würdevoll vor und begann dann: „Nummer 1116. Dieses ist ein Stück von einem holländischen Gonservatorium.“ Nun unterhielten sich auf dem Bild, soweit ich's im Zwielicht unterscheiden konnte, wirklich nur einige wenige Damen und Herren; ein ganzes Konservatorium schien es also tatsächlich nicht zu sein, gleichwohl kam mir die Erklärung so dunkel vor wie das Zimmer, und ich fragte. Aber sie wiederholte nur das bereits Gesagte und fügte treuherzig bei: „So sagt's auch das Fräulein Kastellanin, also ist es richtig.“ Es war aber doch nur annähernd richtig, denn als ich dann im Büchlein von Hosäus das dürftige Kataloglein durchsah, fand ich dort gedruckt: „Nr. 1116. Holländisches Konversationsstück.“ Dann weiter: „Nummer 1172. Dieses ist ein Pariser Fräulein und schreibt sich Matzareng. Sie ist eine Tochter vom Herrn Gardinal Matzareng.“ Daß die pikante Schönheit mit dem unfranzösischen Namen und der bedenklichen Herkunft leider längst tot, und zwar eine Schönheit des 17. Jahrhunderts war, lehrte ein Blick auf ihre Toilette; auch hieß sie, wenn man ihren Namen aus dem Wörlitzer Französisch übersetzt, Mazarin, zudem war mir ja nicht unbekannt, welch skrupelloser Herr der Minister Ludwig XIV. selbst Königinnen, geschweige denn anderen Frauen gegenüber war, gleichwohl erschien mir eine so offizielle Frivolität unglaubwürdig, und ich fragte: „Fräulein, wissen Sie, was ein Kardinal ist?“ – „Aber ja!“ erwiderte sie triumphierend, „aus was die Gadholischen manichmal 'nen Babsten machen!“ – „Stimmt! Aber die dürfen ja nicht heiraten!“ Die liebe Unschuld wurde blutrot. „Aber Fräulein weiß ja alles!“ Nun, das eine doch nicht genau; es ist die Nichte Mazarins, die schöne Maria Mancini... Bei einem dritten Bilde sollte sich uns vollends Schreckliches, und zwar aus dem dessauischen Hofleben, enthüllen. „Nummer 1178. Diese ist die allerscheenste Kabriele, welche der kute Heinrich mit dem Hühnchen im Döppchen dem Fürsten Joachim Ernst geschenkt hat. Wie er dies gedhan hat, war früher in einem Freßgoh an der Decke im Monument zu sehen, aber die Nässe hat leider dieses Freßgoh verdorben.“ Nicht leider, sondern gottlob! dachte ich in ehrlicher, sittlicher Entrüstung, aber die Sache ist in Wahrheit gar nicht so schlimm. Es ist das Porträt der Gabrièle d'Estrées, der blonden, schönen Picarde, die der „kute Heinrich mit dem Hühnchen im Döppchen“ (denn Heinrich IV. wird ja allerdings wohl selbst gehabt haben, was er jedem Franzosen wünschte) so sehr geliebt hat. Dieses Porträt nun soll er nach einer Sage dem greisen Fürsten Joachim Ernst bei einer persönlichen Begegnung als Beweis seiner Huld geschenkt haben, und wie sehr sich die Dessauer Fürsten dadurch geehrt fühlten, erweist, daß noch der Schöpfer von Wörlitz den Schenkungsakt einer Verewigung am Gewölbe des Monuments, eines kuriosen Baues, würdig hielt. Aber die Nässe hat das „Freßgoh“ und die trockene Kritik die Sage beseitigt – nein, die Dessauer Fürsten waren im 16. Jahrhundert noch nicht so mächtig, als daß sie ein König von Frankreich des Bildes einer seiner Mätressen gewürdigt hätte, sondern ein Oranier genoß dies stolze Glück, und als sein Geschenk kam das Porträt hierher... Es ist sehr oft reproduziert. Aber seinem Kunstwert dankt es seinen Ruf nicht, sondern der Schönheit des Originals. Daß das Porträt von dem sinnlichen Zauber des berückenden, dann so jung dahingeschiedenen Weibes eine Ahnung gibt, ist schließlich kein Verdienst des Künstlers, das hätte vielleicht selbst ein Stümper erreicht, wenn ihm das Glück zugefallen wäre, die „heißeste der Blondinen“ malen zu dürfen...
Als ich das Turmzimmer verlassen wollte, wo „das Fräulein Matzareng“ und die „allerscheenste Kabriele“ hängen, um in den Gang nach dem Rittersaal einzubiegen, trat mir das junge Mädchen mit flammenden Wangen in den Weg. „Lieber Herr“, bat sie, „nun müssen Sie warten; das Fräulein Kastellanin ist zum Kaffee bei der Frau Hofgärtnerin; ich habe gleich um sie geschickt; sie muß jeden Augenblick zurück sein. Denn ich habe ja erst seit drei Wochen diese Stellung, und jede Woche kann ich nur ein Zimmer lernen, das sind ja schrecklich schwere Sachen! – und mit den drei Zimmern, die ich schon kann, sind wir fertig.“ Gottlob, dachte ich; laut aber tröstete ich das gute Mädchen, ich würde mir schon selbst weiterhelfen. Und da in diesem Gang die prächtigen Seestücke hängen, von denen ich bereits erzählt habe, so ging's mir zunächst sehr gut. Aber schon im Schlafzimmer des Herzogs Franz kam eine stattliche Dame hereingerauscht, das Fräulein Kastellanin. Ich bat sie, die Störung zu entschuldigen, was sie hoheitsvoll, aber mild mit einem Lächeln der Entsagung abwehrte: „Bitte, wenn Sie schon hier sind – was fingen Sie sonst mit den Bildern an! Ich wäre schon früher dagewesen, aber Minchen bei Hofgärtners hat's nicht gleich gemeldet.“ Und dann begann sie: „Nummer 1309. Dieses Bild ist von dem oft sehr trefflichen und manchmal ganz unbefangenen Kaspar Netscher. Es stellt, wie Sie sehen, einen jungen Menschen mit Locken vor, aber es ist deshalb doch nicht gewiß, daß es ein englischer Prinz ist.“ Dies Wissen, diese Würde... unwillkürlich mußte ich an meinen Gönner denken, den Herrn Kastellan des Zerbster Schlosses, den Mann mit dem rosa Giftkleid und dem Leibspruch: „Dieses ist aufgeschrieben“... „Fräulein Kastellanin“, sagte ich anerkennend, „was Sie da gesagt haben, ist nur zu wahr. Auch ich habe schon junge Menschen gekannt, die Locken trugen und doch keine englischen Prinzen waren, im Gegenteil! Aber wo haben Sie die schönen Worte über Kaspar Netscher her?“ – „Dieses ist aufgeschrieben“, erwiderte sie, und wie dies Zauberwort erklang, da hätte ich ernsthafter Mann in den leidigen „besten Jahren“ fast vor Freude einen Luftsprung gemacht. Übrigens glaubt meine hoffende Seele, wenn sie die innere Stimme nicht trügt, zu wissen, wo es „aufgeschrieben“ ist – o Lübkes „Grundriß“, du kunsthistorisches Evangelium meiner hilflosen Jugend, so lebst du wenigstens noch hier in alter Schönheit und Tiefsinnigkeit fort!... Nachdem ich noch einige ähnliche Beschreibungen genossen hatte, wollte ich in meiner Menschenfreundlichkeit auch meinem Gefährten etwas davon gönnen. „Fräulein Kastellanin“, sagte ich, „drüben ist noch ein Herr, der bestimmte Porträts sucht, der wird Sie nötig haben.“ Sie stürzte ab, und ich hatte Muße, mir andächtig das schöne Triptychon Lucas Cranach des Älteren zu besehen, vielleicht dasjenige Werk des Meisters, in dem ihn sein Streben nach charakteristischer Kraft am wenigsten zum Häßlichen geführt hat. Aber noch stand ich vor diesem Bilde, als sie wiederkam: „Der Herr läßt Sie grüßen; er verzichtet zu Ihren Gunsten.“ Da ergab ich mich in mein Schicksal; bei meinem heutigen Besuch hatte ich den Hosäus mit, und so genügte auf meine Bitte die stumme Begleitung der Stellvertreterin; vorgestern aber bekam ich noch viel Schönes mitgeteilt. So gleich vor dem Bilde, wo sie mich wieder ereilt hatte. „Wissen Sie auch, was das Bild vorstellt?“ fragte sie. „Ich glaube ja!“, und ich benannte einige Heiligen und die Kurfürsten. Sie nickte, fragte dann aber streng: „Und wie heißt es?“ Ich sah sie fragend an. „Dribbdichohn ( ) heißt es!“ rief sie triumphierend. „Warum?“ – „Weil es so heißt! Dieses ist aufgeschrieben!“ Ich gestehe, ich habe von da ab der Trefflichen nur noch halben Ohrs gelauscht; mir drängte sich ein Gedanke auf, dem ich nachhängen mußte, ein humaner Gedanke, aus der Fürsorge für die kommenden Geschlechter geboren. Diese stattliche Dame ist noch Fräulein, dachte ich; wenn der Herr Kastellan in Zerbst noch Junggeselle wäre, wenn sich diese beiden Menschen voll Wissen und Würde und Respekt vor dem Aufgeschriebenen zum Ehebunde zusammenfänden, welches Geschlecht unvergleichlicher Cicerones könnte dann in zwanzig, dreißig Jahren die anhaltischen Kunstsammlungen ins rechte Licht setzen!... Ja, lustig wär's, aber auch vorgestern schon war's im Gotischen Haus lustig genug, auf die Dauer zu lustig. Nur einige Minuten ertrug ich's noch, an einer Stätte über Kleinstes lächeln zu müssen, die ich aufgesucht hatte, mich andächtig dem Großen zu beugen, dann entfloh ich ins Freie.