Abschnitt. 2 - ...die Goethe und Lavater, die Humboldt und Pückler-Muskau...

Wir waren während dieser Gespräche vom richtigen Weg zum Park abgekommen und plötzlich mitten in der „Stadt“ Wörlitz. Diese Gänsefüßchen haben ihre Berechtigung... Ich habe bei meinen Streifereien durch die Mark und Mitteldeutschland manches armselige Ackerstädtchen gesehen und gerochen, ein solches nur selten. Und dieses häßliche, schmutzige Städtchen liegt wenige Minuten vom herzoglichen Schloß zu Wörlitz und ist auf drei Seiten vom herrlichen Park umschlossen! „Da haben Sie“, wetterte der Gelehrte, „die ganze innere Verlogenheit jener Zeit! O du verdammtes Aufkläricht, was war dir die Natur und was selbst die Humanität, mit der du dir die Pausbacken schminktest! Der lieben Eitelkeit wegen der Natur Daumschrauben anzulegen und Theaterkulissen aus lebenden Bäumen und Blumen zu schaffen, dazu waren diesem gelobhudelten Herzog Franz Millionen nicht zu viel, aber weitere hunderttausend Taler den armen Leuten als Beisteuer zu gewähren, damit sie das Nest zum Villenstädtchen umgestalten, fiel dem Mäzen gar nicht bei. Hierher wurden eben die Goethe und Lavater, die Humboldt und Pückler-Muskau nicht geführt!“ Nun bin ich zwar wahrlich kein grundsätzlicher laudator temporis acti und meiner Zeit ein treuer Sohn, aus ganzer Seele bemüht, sie zu verstehen, aber Verständnis schulden wir, meine ich, auch der Vergangenheit, und darum mußte ich über diese Rede heftig den Kopf schütteln, wenn auch, ehrlich gestanden, mit dem Taschentuch an der Nase. Laut aber sagte ich nur: „Ich glaube, daß der Zusammenhang zwischen dem Stadtduft von Wörlitz und den Ideen des 18. Jahrhunderts noch näherer Nachweisung bedarf; vor allem aber schlage ich vor: sehen wir uns die ›Daumschrauben‹ und ›Kulissen‹ doch erst an.“ Und so fragte ich ein graues, kleines Flickschusterlein, das auf dem Bänkchen vor seiner Werkstatt hockte und sich an einem tödlich verwundeten Stiefel abquälte, um den nächsten Weg nach den Gärten. Das greise Männchen fuhr zusammen und sah mich mit verträumten Augen an, wie man sie unter den Zunftgenossen Jakob Böhmes so rätselhaft oft findet. Dann huschte ein Lächeln über das verwitterte Gesicht. „Da hinein“, er wies in die Förstergasse, „an den beiden Religionen vorbei zur dritten, welche vielleicht die beste war.“ Ich sah ihn fragend an: „An der Kirch und der Juddeschul rechts zur Grotte der Egeria!“... Hm, dachte ich, da merkt man doch, daß dies Nest mitten in den Gärten liegt, die der alte Wieland einst „die Zierde und den Inbegriff des 18. Jahrhunderts“ genannt hat, aber im übrigen war auch in der Förstergasse wahrhaftig nichts von Gärten zu riechen. Kaum jedoch hatten wir diese Gasse halb passiert, als mir eine freudige Überraschung wurde; auch der letzte Rest von unheimlichem Mysterium fiel von meinem Gefährten ab. „Wollen wir nicht“, bat er plötzlich, „vorher in ein Restaurant? – mich hungert ganz entsetzlich!“ So gingen wir denn zum „Grünen Baum“, wo er sich sättigte. Aber obwohl er auch dies, wie alles, rasch und energisch tat, schlug es doch vier Uhr, als wir endlich am Ufer des Sees standen, der die Gärten durchzieht, vor dem Haus des Gondoliers, wo jetzt eine rüstige Frau, die dem Schöpfer dieser Anlagen, dem Herzog Franz, wie aus dem Gesicht geschnitten ist, einer Schar von Kähnen und Schifferinnen gebietet. Ich verzeichne diese Ähnlichkeit, die sich mir, der ich vormittags in Dessau einige Bilder des Herzogs gesehen hatte, aufdrängen mußte, aber – „honni soit qui mal y pense“, und das meine ich ernst. Die Tatsache, daß in kleinen Residenzen, in der Umgebung von Lustschlössern usw. jeder zwanzigste Mensch dem Landesherrn ähnlich sieht, mag ja auch – es wäre albern, dies zu leugnen – den Sittenschilderer angehen; die meisten Fälle aber gehen den Physiologen an, der auch die Antwort nicht schuldig bleibt... Nur ein Kahn lag noch am Ufer; die Frau mit dem Herzog-Franz-Gesicht musterte uns und rief dann: „Friedchen!“ Und Friedchen kam; um hier eine Ähnlichkeit herauszufinden, bedurfte es keiner Porträtstudien, sondern eines einzigen Besuches in einer Menagerie; das Nilpferd vergißt niemand. „Um Himmels willen“, riefen wir, „da schlägt ja der Kahn um!“ – „Oh“, lächelte das anmutige Wesen von etwa vierzig Herbsten, „wenn sich beide Herren auf das Bänkchen am Steuer setzen und ganz ruhig bleiben, so geschieht nichts!“
Unter dieser Führung glitt ich zum ersten Mal am Gestade der „elysäischen Felder“ dahin. Friedchen keuchte wie eine Lokomotive und ruderte langsam und unsicher, der Gelehrte aber nahm die armen, alten Anlagen sehr scharf mit, und zu meinem Malheur war er obendrein ein wirklich gescheiter Mann, der in fast allem, was er sagte, recht hatte. Es war zutreffend, wenn er, auf die schwere, dunkle Flut deutend, die wir schwankend durchpflügten, meinte: „Offenbar ein künstlich angelegter Tümpel! Dann hätte aber auch für einen gehörigen Abfluß gesorgt werden müssen!“; zutreffend, wenn er, als wir den kurios geformten, aus Raseneisenstein (einem brüchigen, porösen, leicht verwitternden Erz) erbauten Eisenhart erblickten, äußerte: „Welch ein Gedanke, eigens ein Haus aus einem für solche Zwecke unerhörten Material zu bauen, nur um zu erweisen, daß es wirklich nicht für Häuser taugt!“ – und die Scherze, die er über die vielen Tempelchen und künstlichen Ruinchen machte, waren nicht alle teuer und nicht alle wohlriechend, aber unserem Geschmack entsprechen ja derlei Spielereien wirklich nicht; wir haben eben andere Geschmacklosigkeiten. Am schlimmsten jedoch kam die „verkrüppelte Natur“ bei ihm weg. Trotz Friedchens Geschnaufe und seiner Kritik freute ich mich ganze zwanzig Sekunden, als uns zur Linken die mächtigen, schweren, dunklen Nadelholzgruppen des Neumarkischen Gartens entgegenwuchsen, während sich zur Rechten der zierliche Schloßgarten mit seinen Taxushecken und dem bunt – vom hellsten Goldgelb bis zum tiefsten Schwarzgrün – wechselnden Laubholz dem Blick breitete, aber da rief er: „Eunuchenlandschaft; rechts Daumschrauben und links Kulissen! Und alles auf das Effektchen zugestutzt!“ – und das war wieder nicht ganz, wie die Schwaben sagen, „aus dem hohlen Bauch gesprochen“; auch darin war ein Korn Wahrheit. Und wär's auch ganz winzig gewesen, wer behielte da die Stimmung? Es war mir recht, sehr recht, daß wir schon bald am Gotischen Haus hielten. Da konnte die Holde am Ufer schnaufen, der Gelehrte seinen Porträts nachjagen und ich mir die Bilder ansehen, die mich freuten.
Das Gotische Haus, eine der sieben Kunstsammlungen, die in diesem Park verstreut sind, ist die bedeutendste unter ihnen, aber auch eine der schönsten und wertvollsten Sammlungen Deutschlands. Ich habe leider bei meinen beiden Besuchen in Wörlitz nur sechs Stunden auf sie wenden können, das ist für etwa 700 Bilder und eine Unzahl der schönsten Glasmalereien natürlich lächerlich wenig; aber es genügt doch, um mir den Gewinn dieser Stunden köstlich und unverlierbar zu machen. Um so peinlicher aber habe ich's empfunden, daß dieses seltene Kleinod zugleich an unwürdiger Aufstellung und kritikloser Bestimmung nirgendwo seinesgleichen findet, wenigstens in Deutschland nicht...
Sprechen wir zunächst von dem Schönen und Schönsten. Sind auch unter den Malern die Niederländer, unter den Gattungen das Porträt und die Historie bevorzugt, so ist doch jede Schule, jede Gattung durch Treffliches repräsentiert: die Italiener allerdings nur spärlich, die Franzosen kaum zahlreicher, aber die Deutschen, von Holbein und Dürer, Wohlgemuth und den beiden Cranach bis ins 18. Jahrhundert ebenso köstlich wie reich; die Flandern durch Perlen (die Madonnen von Memling und Hugo van der Goes), und nun erst die Holländer! Wollte ich nur die besten Namen und Werke nennen, die trockene Aufzählung würde eine Spalte füllen – und wem schon Namen etwas sagen, der kennt die Künstler ohnehin! Nur auf einiges möchte ich aufmerksam machen, weil ich es bisher kaum angedeutet finde, wie denn die Wörlitzer Sammlungen überhaupt, im Vergleich zu den Dessauer, von Kunsthistorikern der neueren und neuesten Zeit nicht genug gewürdigt werden; zu Lebzeiten des Herzogs Franz war dies anders, er sorgte auch dafür... Wie schön ist hier das holländische Seestück des 17. Jahrhunderts, diese Welt von Kraft und Schönheit und redlicher Beobachtung der Natur, vertreten. Da ist Bonaventura Peters, der Seesturmmaler, und sein Bruder Jan, da Willem van de Velde, einer der wenigen großen Künstler, die im Leben Lumpe waren; hat er es doch zuwege gebracht, seinen Landsleuten ihre Siege über die Engländer zu malen und den Engländern ihre Siege über seine Landsleute; in Wörlitz ist der erbärmliche Kerl und große Meister gut holländisch gesinnt. Von seinem Bruder Adriaen findet sich eine kleine Landschaft mit einem Reiterobrist als Staffage, vielleicht sein bestes Werk. Daß sich die Holländer hier so ausgezeichnet vertreten finden, ist angesichts der bereits angedeuteten Entstehungsgeschichte der dessauischen Hofsammlungen begreiflich, aber wie mag das halbe Dutzend Porträts, Schlacht- und Prunkstücke van der Meulens hergeraten sein? – der Hof- und Leibmaler Ludwig XIV., seiner sämtlichen Schlachten und seiner sämtlichen Mätressen erscheint hier übrigens nicht minder monoton und manieriert als anderwärts... Albrecht Dürers „Adam und Eva“, von einigen seinem Schüler Hans Wagner zugeschrieben, ist jedenfalls ein schönes Bild. Eine Perle der Sammlung ist auch das Porträt des Großen Kurfürsten von A. Hannemann, das beste dieses Fürsten und für Berlin wiederholt kopiert, vermutlich ein Hochzeitsgeschenk Friedrich Wilhelms zur Vermählung seiner Schwägerin mit Johann Georg II. von Dessau. Beiden Geschlechtern, den Hohenzollern wie den Dessauer Askaniern, war die Heirat mit Oranierinnen wohl bekömmlich; für die letzteren bedeutete es den ersten Schritt nach aufwärts... Einen seltenen Haarlemer des 17. Jahrhunderts, dessen einziges Porträt im dortigen Rathaus sich mir trotz des alles überstrahlenden Frans Hals durch seine wunderbare Lebensfülle ins Gedächtnis eingekeilt hatte, Verspronck, fand ich hier wieder, sogar durch zwei Bilder vertreten, und obwohl ja die Erinnerung alles verklärt, schienen mir diese beiden – ein Mann und ein Weib, beide schwarz gekleidet – noch schöner, weil noch lebensvoller als das Haarlemer. Einen anderen Holländer derselben Zeit kann man nur hier kennenlernen; ich habe seinen Namen bereits genannt, als ich von dem Fund des Küsters in der Rumpelkammer der Schloßkirche erzählte: Abraham Snaphan. Auch er von seltener Lebensfülle, in der Malweise von Anbeginn grundtüchtig und gewissenhaft, dann mit jedem Werk freier und natürlicher; auch in der Farbenwirkung harmonischer. Man kann dies hier, wo all sein Schaffen vereinigt ist, genau verfolgen; 1651 geboren, folgte er in jungen Jahren seiner fürstlichen Landsmännin nach Dessau und ist hier schon 1691 gestorben; sein letztes Bild, die Fürstin Henriette Katharina mit ihren vier blühenden Töchtern, ist sein bestes. Vielleicht ist Snaphan verhungert; er bezog kein Gehalt, nur „Honorare“ für die einzelnen Bilder, für dies letzte – 25 Taler, wie Wilhelm Hosäus in seinem Büchlein über Wörlitz berichtet.