Abschnitt. 10 - ...in dieses Mannes Brust ist die Lösung der Rätsel von Wörlitz zu suchen.

Das Schloß (von 1773), ein Werk Erdmannsdorffs, der auch die Innendekoration für die Schlösser zu Berlin und Sanssouci leitete, ist von außen und innen das Muster eines schlicht vornehmen Hauses im Stil der Zeit; der runde Vorsaal mit Oberlicht, die Verhältnisse der Gemächer wie ihre Einrichtung, alles fast bescheiden, ohne Prunk, aber von feinstem Geschmack; der einzige Schmuck Kunstwerke, aber welche! Herrliche antike Vasen, Büsten und Statuen, von den letzteren einige leider von Cavaceppi in seiner Art restauriert, andere von schönster Erhaltung. Und die Bilder, nicht eben viele, aber fast alle trefflich, einige Meisterwerke. Es gibt wahrscheinlich nicht viele so kleine Schlösser, wo wir Bilder wie in dem einen Zimmer die entzückende „Venus“ des Domenichino, im nächsten die schönsten Van Dycks und Wouvermanns, im dritten Rubens' herrliche „Vermählung Alexanders mit Roxane“, im vierten zwei prächtige Veronese bewundern können. Ich war der Fügung dankbar, welche die herzogliche Familie in einer anderen Sommerfrische festhielt; in ihrer Anwesenheit ist das Schloß unzugänglich, was wohl begreiflich ist; um so dankenswerter ist, daß die Prinzeß Friedrich Karl, die es jetzt bewohnt, die Besichtigung gern gestattet, „sogar ganz gründlich“, wie mir der Kastellan, nebenbei bemerkt das Muster eines verständigen, taktvollen Cicerone, versicherte. Die greise Fürstin ist auch Malerin; ich konnte zwei ihrer Landschaften sehen; da sie nicht für die Öffentlichkeit schafft, so verbietet sich jedes Wort des Lobes und darum auch des Tadels. Wer dies Muster einer Fürstenwohnung sehen darf, wird das Haus gleich mir mit dem Gedanken verlassen: Wahrlich, der Mann, der diese Räume schmückte, war der Bildung seiner Zeit voll!
So das Schloß. Und der Stein? Landschaften von Canaletto und anderen, im übrigen die trivialste Kuriositätensammlung der Erde, nur die Jahrmarktsbuden (aber nicht alle) abgerechnet. Der Hüter dieser Schätze ist wahrlich noch das Erheiterndste am Hause. „Haben Sie die Nymphe“ – statt Grotte – „der Egeria gesehen?“ beginnt der Alte wörtlich und zeigt dann: ein winziges Amphitheaterchen („So hielten die Griechen Stiergefechte ab!“), eine Blaue Grotte („An Festtagen ist sie auch hier blau, weil wir solche Lampen haben“), eine „Nymphe der Kalypso“ („Eine römische Person mit einem Zauber auf sieben Jahre“), eine Scylla und Charybdis („Bei Rom groß, hier klein“, zwei winzige Klippchen), einen Sterbenden Gladiator („Er schreibt sich Pollux, war ein sehr starker Mann und wurde doch verstochen; Castor, was sein Freund war, hat dann sehr geweint“), einen Vesuv („Ein Berg bei Aetna; nicht bange, meine Herrschaften, hier speit er nur an Herzogs Geburtstag, und zwar Wasser“), eine durch ein Glasfenster von oben matt erleuchtete Höhle als Tempel der Nacht („Vesta tut sie sich schreiben, weil sie die Göttin der Nacht ist; die vom Tag ist hier nicht fertig; sie hat in Pompeji, was die Antike ist, Eris geheißen“), dann einige dunkle Gänge („Der Hochselige wollte Ihnen dadurch die Eingeweide der Erde darstellen“ usw.). Ich fürchte, man wird mir sogar diese Erläuterungen eher glauben als einen solchen Inhalt eines großen Bauwerks desselben Fürsten, der das Schloß und das Gotische Haus schuf, aber ich sage in beidem die Wahrheit.
Wie nun erklärt sich dieses Rätsel? Psychologische Analysen lassen sich nicht präzis anstellen wie chemische; niemand darf mehr geben wollen als eine subjektive Anschauung. Die meine versuche ich so zusammenzufassen: Ein edel veranlagter Jüngling von reichen Gaben, aber auch von brennendem Ehrgeiz besteigt, kaum achtzehnjährig, einen kleinen Thron. Wie gleichzeitig seine Gaben nützen und seinen Durst nach Ruhm stillen? Er zeichnet, malt, fühlt sich im Freien am wohlsten und studiert darum in England und Frankreich die dortigen Parks. Heimgekehrt, faßt er den Gedanken, einen solchen Garten größten Stils in Deutschland zu schaffen. Er geht ans Werk und wählt Wörlitz für seine Schöpfung. Fruchtbarer Boden, viel Wasser, das lockt ihn; daß es zuviel Wasser werden könnte, daran denkt er nicht. Und die Ebene? Gerade die gefällt ihm! Wer darüber lächelt, denke daran, daß noch ein Mann von Goethes Naturempfinden von hier aus 1775 der Geliebten als einen Vorzug dieser „elysäischen Felder“ rühmt: „Keine Höhe zieht das Auge und das Verlangen an einen einzigen Punkt!“ Der Park wird. Aber man spricht nicht viel davon, und der Fürst verfügt ja auch über reiche Kunstschätze, ist selbst Sammler. So weitet sich bald der Plan: auch eine Kunstsammlung ersten Ranges soll hier erstehen. Keineswegs bloß aus Ehrgeiz; diesem Manne ist es innerstes Bedürfnis, allem Schönen und Guten zu dienen, sein Leben mit tausend Fäden anzuknüpfen an das der anderen um sich her. Darum wird er Mäzen, darum Philanthrop, darum ein Vater für seine Untertanen. Sein Ruf wächst, aber auch sein Ehrgeiz stellt sich immer höhere Ziele. Da lernt er durch Winckelmann das Wirken Hadrians kennen, und der Besuch der Trümmer von Hadrians Villa in Tivoli gießt Feuer in seine Adern. „Dort“, erzählt er immer wieder, „hat Hadrian alles zusammengestellt und nachgeahmt, was er auf seinen Reisen an Kunst und Naturwundern gesehen hatte“, jedoch meines Wissens nur einmal läßt sich der Greis das Wort entschlüpfen: „Ich glaube, ich habe an Hadrian gedacht, als ich das Werk hier unternahm!“ – und dies Wort scheint mir wie ein Blitz das tiefste Innere dieser rastlosen Seele zu enthüllen. Freilich, er hat nur begrenzten Raum, beschränkte Mittel – nun, so müssen Klippen wie Morcheln genügen und ein Vesuv wie der im Stein. Und die Leute können's ja in natura nicht sehen und strömen darum nach Wörlitz und rühmen ihn. Er aber ist nicht bloß ehrgeizig, sondern auch wahrhaft leutselig, ja kindlich weich – wittert er doch zuweilen sogar an Goethe „etwas Inhumanität“! –, ihm tut das Vergnügen, das er dem Volke bereitet, innigst wohl; auch die populärste Schöpfung soll sein Wörlitz sein! Für die „Armen im Geiste“ diese Künste, für die Feineren die Kunstschätze und seine eigenen Gartenbilder. Denn er war ja selbst ein Feiner, ein Echter, wenn auch kein Großer. Sein künstlerischer Stil ist der seiner Zeit, der ideale; die Ausdrucksweise immer klar, fast möchte man sagen verständig; das Erhabene, das Leidenschaftliche, das Groteske ist ihm versagt, um so besser gelingt ihm die Idylle, die Elegie. Tut man sich nach den Landschaftsmalern um, denen er zunächst verwandt war, so mag man an die Nachstreber Josef Anton Kochs denken, an diesen selbst nicht, Koch ist ja voll Schwung... Aber wenn man auch von Goethes Urteil über den Herzog: „Eine feine und große Natur“ nur das erste gelten läßt, auch ein Feiner handelt nicht straflos gegen sein Wesen. Als Greis erkennt und bereut der Herzog seine Irrtümer. Da nennt er den Stein unter anderem „verfehlt“ und „ein kostbares Spielzeug“, da beklagt er seine Felschen: „Alles kleinlich und gedrückt!“ Und ihn tröstet nur der Gedanke, daß er auch „einiges für die echte Kunst getan!“. Wahrlich, das hat er! Einiges? Mehr als irgendein Fürst seiner Zeit!
So Wörlitz, so sein Schöpfer – ich sage nicht, wie sie sind, sondern wie ich sie in ehrlichem Mühen, ihnen gerecht zu werden, sah. Und nun will ich meinen Koffer schließen und über Dessau und Bitterfeld nach Westen fahren, in einem Zug so weit, wie der Lokomotive der Atem reicht.
Wörlitz, im August 1901