Abschnitt. 1 - ...alles Köstlichste auf einen Schluck: Natur- und Kunstgenuß...

Nächst der Arbeit ist das Reisen der beste Erquicker und Sorgenbrecher auf Erden; es bietet, wenn man es recht versteht, alles Köstlichste auf einen Schluck: Natur- und Kunstgenuß, Freude an den Menschen und Loslösung vom Alltag. Auch ist's ja anscheinend so leicht, es recht zu verstehen: „Wenn du nehmen willst, so gib!“; das ist das ganze Geheimnis. Dennoch treffen's leider die wenigsten; nur eins ist allen klar: „Gib Geld!“, und das ist ja gar nicht das wichtigste; weit schwerer wiegt: „Gib Zeit!“ und am allerschwersten: „Willst du die Seele der fremden Landschaft, des fremden Volksstamms in dich aufnehmen, so gib die eigene Seele hin, freudig, selbstlos, teilnahmsvoll, wie ein weißes Blatt, auf daß das Fremde darauf seine Zeichen schreibe!“ Wer dies nicht kann, mag zu Hause bleiben oder doch um Orte wie Wörlitz einen großen Bogen machen.
Ich sage dies aber nicht selbstgefällig, sondern mit leiser Scham. Denn erst bei meinem zweiten Besuch glaube ich Goethes Wort von den „elysäischen Feldern“ und dies sprossende, blühende „Märchen“ so in meiner Art ein wenig verstanden zu haben, aber das ist nicht mein Verdienst, sondern das dieser merkwürdigen Anlagen. Das erste Mal aber war ich recht enttäuscht, und das lag an mir. Das heißt, scheinbar war's nicht meine Schuld allein, aber eigentlich doch nur die meine. Im übrigen erscheint mir die Historie dieses meines ersten Besuchs in Wörlitz heute lustiger als vorgestern, wo ich sie erlebte, und wenn der treffliche Gelehrte, der dabei eine Rolle spielt, Spaß versteht, so wird er's mir nicht verübeln, wenn ich bei der Wahrheit bleibe.
Während ich also vorgestern um die Mittagsstunde mit dem Küster der Schloßkirche zu Dessau in der Rumpelkammer den Staub von den armen, verstoßenen Bildern blies, stürzte seine Magd herein, ein Herr wünsche das Cranachsche Abendmahlsbild zu sehen, aber rasch, rasch, er habe keine Zeit. „Ich habe keine Zeit“, klang es auch von unten her überaus vernehmlich in nervös zitterndem Tenor. Der Küster stürzte ab, ich ihm nach; warum weiß ich selbst nicht; denn Menschen, die keine Zeit haben, sind doch in unseren Tagen keine Rarität. Allerdings, gar so wenig Zeit haben selbst heutzutage nicht viele Leute, denn als ich nach zwei Minuten vor der Nische anlangte, hatte der Fremde, ein jüngerer, sehr gescheit aussehender Herr, die Besichtigung des figurenreichen Bildes bereits beendet. „Das Bild hängt elend“, sagte er, „ich bin Kunsthistoriker“, und das freute mich; ich war ja schon vorher, wie man weiß, der Meinung gewesen, daß man schöne Bilder nicht in dunkle Ecken hängen soll, aber seine Meinung von einem Fachmann bestätigt zu hören, ist dem Laien immer angenehm. Der Gelehrte aber warf nun Hut und Stock auf den nächsten Kirchenstuhl, brachte aus der einen Rocktasche einen Haufen beschriebener Katalogzettel, aus der anderen einen Bleistift zutage, kritzelte auf eines der Blätter ein Kreuz und machte Miene abzustürzen. „Wollen Sie nicht“, fragte der Küster, „auch die anderen Cranachs ansehen?“ – „Keine Zeit!“ murmelte der Fremde. „Bald eins! Na gut, fünf Minuten!“ – und er warf auf jedes der Bilder einen Blick; Kennerblicke sind eben sprichwörtlich kurz. Dadurch vollends ehrfürchtig gestimmt, wagte ich's, ihm die rätselhafte Signatur des „mittleren“ Cranach zu zeigen. Er machte sich eine Notiz. „Interessant!... Eine Hypothese!...“ Ich fühlte mich sehr gehoben, als er mich nun einlud, mit ihm die Sammlungen im Schlosse zu besehen. „So im Flug! Um zwei Zug nach Wörlitz.“ Den wollte ich auch benützen, sagte ich, und in der Stunde zu Mittag essen. „Tue ich nicht“, erwiderte er, „habe eine Spezialmission. Morgens Wittenberg – Lutherhaus, Stadtkirche – seit ½ 11 Uhr hier – Bibliothek, Amalienstiftung, Schloßkirche, Schloß – nachmittags Wörlitz, abends nach Magdeburg. Also auf Wiedersehen in Wörlitz.“ Und er stürzte ins Schloß, während ich in mein Hotel fuhr. Aber noch während der Mittagstafel mußte ich unablässig über das Rätsel grübeln: was war das nur für eine grausame kunsthistorische Spezialmission, die ihrem Träger eine so unerhörte Häufung von rapiden Kunstgenüssen bei gleichzeitiger völliger Enthaltung von Speise und Trank auferlegte!
Nun, das Rätsel mußte sich mir ja lösen. Aber der Zug nach Wörlitz ging ab, ohne daß der Gelehrte sichtbar wurde. Mein Waggon war dicht besetzt, die Fremden führten belehrende Gespräche über Gasthofpreise, die Dessauer, die nur bis Oranienbaum mitfuhren, schwelgten im Vorgenuß der dortigen Tanzplatzfreuden. Es ist nützlich zu erfahren, wo das Frühstück 80 Pfennig kostet und wo mehr, und die Mitteilung eines Dessauer Jünglings, daß in Oranienbaum „selbst Kanzleiratstöchter“ tanzen, war mir menschlich erfreulich, denn ich sehe es ungern, wenn die Spitzen der Gesellschaft einsam auf ihrer steilen Höhe bleiben, aber auf die Dauer sah ich mir doch lieber die Landschaft an. Man kann dies hier gründlich tun, denn die Dessau-Wörlitzer Eisenbahn humpelt recht behaglich dahin. Nur hat man nicht viel davon; eine Gegend, wie sie zu Dessau paßt, ein bißchen langweilig, aber fruchtbar, wenig Blumen, viel Rettich und Petersilie, zudem überall – womit aber nicht weiter auf Dessau gestichelt sein soll – Zeichen eines tiefen Niveaus: viel Wasser, Bruch, auch etwas Forst und Heide. So schleicht das Züglein von der Mulde gegen Osten, also südlich der Elbe, aber in respektvoller Entfernung von dem zuweilen ungemütlichen Strome dahin, bis Oranienbaum erreicht ist, das Schlößchen, das sich Henriette Katharina, die Mutter des Alten Dessauers, eine Oranierin, erbaut und mit Porträts ihrer Familie geschmückt hat; daneben mögen sie auch Wiese und Wasser, die vielen Windmühlen und das Fehlen jedweden störenden Hügelchens, selbst jeder Erdwelle, wie sie die Mark durchstreichen, an ihr geliebtes Niederland erinnert haben; einen ähnlichen Sommersitz schuf sich ihre Schwester Luise Henriette, die Gemahlin des Großen Kurfürsten, in Oranienburg bei Berlin. „Das Schloß ist zugänglich“, sagte mir der junge Dessauer mit den hohen Tanzkonnexionen, „Fremde gehen oft hin.“ – „Nicht auch Einheimische?“ fragte ich, worauf der ehrliche Jüngling: „Aber wozu denn? Nach Oranienbaum geht man zur Kirchweihe, da ist es lustig, aber auch sehr fein!“... Vom Dorfe her klang Musik, bunte Fähnchen flatterten im Winde; der Jüngling aber und seine Freunde zogen Handschuhe über ihre großen, vom Heringbändigen rot gewordenen Hände. Eine so distinguierte Kirchweih hätte mich gereizt, aber ach, auf was alles muß der Mensch verzichten! So fuhr ich weiter nach Wörlitz; die kleine Bahn biegt nun nach Norden, durch Heide und Ackerland, an Hütten vorbei, die fast so dürftig sind wie die Landschaft. Daß man nur Minuten von einem der schönsten Gärten der Welt entfernt ist, kann niemand ahnen.
Aber es ist auch noch nichts davon zu gewahren, wenn man aus dem kleinen Bahnhof tritt. An der Pforte verteilt ein Knabe rechts Empfehlungskarten des „Grünen Baum“ und einer links solche des „Eichenkranz“; vorn steht die Versicherung, daß das Hotel das beste von Wörlitz ist, und hinten ein schwer lesbarer Plan des Gartens; aber diese Pläne und die botanischen Gasthofschilder sind auch leider zunächst die einzigen Schatten, die der berühmte Garten vorauswirft. Eine breite Chaussee, durch deren fußhohen Staub die mit mir Angelangten im Sonnenbrand ächzend dahinzustampfen begannen, in der Ferne armselige Häuschen und kein grüner Wipfel – seufzend besah ich mir das Bild und fragte dann den „Eichenkranz“, ob es hier keine Fahrgelegenheit gebe. „Bitte ja, bei Bestellung von mindestens zehn Personen“, war die Antwort, die mich nicht erfreute; sogar die Versicherung des „Grünen Baum“, daß er es schon für acht tue, konnte mich nicht aufrichten. „Wie weit ist's zu den Gärten?“ fragte ich. „Zwanzig Minuten“, erwiderte der „Eichenkranz“, während der „Grüne Baum“, der es offenbar in allem billiger macht, tröstete: „Fünfzehn!“ Nun, der „Grüne Baum“ hat die Entfernung freundlicher taxiert, aber der „Eichenkranz“ ehrlicher... Es ist mir immer als die schönste Aufgabe des Schriftstellers erschienen, sich darnach zu mühen, daß den künftigen Geschlechtern das Leben leichter werde auf dieser harten Erde, und darum entringt sich meiner tiefsten Seele die Mahnung: „O ›Eichenkranz‹, o ›Grüner Baum‹, was seid ihr dumm! Stellt doch statt der beiden aufdringlichen Jungen mit den unleserlichen Plänen, die euch nur Geld kosten und nichts nützen, jeder einen Omnibus an den Bahnhof, laßt euch dreißig Pfennige für die Tour bezahlen, und ihr werdet bei dem kolossalen Besuch ein Bombengeschäft machen!“
Aber ich sollte den Marterweg zum mindesten nicht allein gehen. Kaum drei Schritte war ich gekommen, als eine nervöse Stimme an mein Ohr schlug: „Wann geht der Zug nach Dessau zurück? Um vier?“ – „Um sechs!“ erwiderte der „Eichenkranz“, und selbst der „Grüne Baum“ konnte das nicht früher geschehen lassen. „Oh!“ – dann ein kernhafter Fluch. Der Kunsthistoriker! – er war also wirklich nur von seiner Mission satt und mit demselben Zuge gekommen. Aber die Gewißheit, nun unabwendbar über drei Stunden an einem Ort bleiben zu müssen, hatte auch alle Hast von ihm genommen; ich konnte mir, während wir so selbander dahingingen, keinen liebenswürdigeren Weggenossen wünschen. Auch die Rätselhaftigkeit der Mission schwand bis auf einen Rest. Der Gelehrte, ein Mann von Ruf, machte eine Arbeitsreise zwecks Herausgabe eines historischen Porträtwerkes. Die einschlägigen Bilder hatte er aus den Katalogen notiert und wollte jetzt nur feststellen, ob sie in reproduzierbarem Zustande seien. „Aber warum –“ , begann ich und stockte wieder; nein, warum er nicht aß, konnte ich ihn doch nicht fragen.