Abschnitt. 4 - ...triffst du so nebenbei dort auch ganz große Herren – van Dyck, Frans Hals und Holbein...

So ist alles erreicht: der Beschauer sieht Büste und Brunnenfigur auf einen Blick, die Erinnerung an den dürftigen Ursprung der Stadt steht zu dem Bildnis des Mannes, der das moderne Dessau hat schaffen helfen, in einer hübschen inneren Beziehung, und zudem ist durch den Rundbau das häßliche Loch geschlossen. Ich beschreibe dies so ausführlich, weil in Berlin, wenn wir erst darangehen, im neuen Berlin W, in Charlottenburg, in Schöneberg, Wilmersdorf usw. die vielen neuen Plätze auch durch Werke der Plastik zu schmücken – und das ist hoffentlich nur eine Frage der Zeit –, ähnliche Probleme in Hülle und Fülle zu lösen sein werden.
Im übrigen sieht der Funckplatz heute genau so aus wie etwa der Wittenbergplatz vor drei Jahren, und was die umliegenden, bereits ausgebauten Straßen betrifft, so gleichen sie unserer Nürnberger-, Achenbach- oder Schaperstraße wie ein Ei dem andern. Das ganze Viertel ist in den letzten Jahren weit jenseits des Wörlitzer Bahnhofs entstanden. Denn gewaltig reckt und streckt diese jählings anwachsende Stadt ihre Glieder, und die Bahnhöfe liegen längst nicht mehr an ihrer Peripherie. In zehn Jahren wird der hübsche Georgengarten weit draußen vor der Stadt von Häusern umschlossen sein wie heute der Berliner Tiergarten.
Nun, ich gönne es den Dessauern, aber der eine Funckbrunnen macht das Kraut nicht fett; was tun sie heute für die bildenden Künste, die hier einst so schöne Pflege fanden? Aber – „das ist Sache des Hofes!“ wird mir der alte Fachmann für junge Künstlerinnen auch hier erwidern, und hier mit mehr Recht als in Sachen des Theaters oder der Musik. Denn wohl gibt es in vielen Städten, was die Dessauer gewiß interessieren wird zu hören, städtische Museen, die namentlich gute moderne Bilder anschaffen, aber die würdige Sichtung und Gruppierung der vorhandenen Kunstschätze und ihre Mehrung wäre allerdings Sache des Hofes. Wieviel Herrliches ist in Dessau vorhanden! Ich will es hier, wie gesagt, nicht beschreiben; es war nie mein Ehrgeiz, Stoffe zu behandeln, die andere vor mir besser, als ich es könnte, bearbeitet haben, und über die Dessauer Sammlungen gibt es eine ganze Literatur; zudem sind ja die wichtigsten Werke hundertmal reproduziert worden, und Hunderttausende haben sie bewundert. Aber – und hier setzt die bescheidene, aber notwendige Randglosse ein, die ich zu machen habe – leicht wird einem diese Bewunderung wahrhaftig nicht gemacht. Willst du dich an den prächtigen Handzeichnungen von Lucas Cranach und Altdorfer, von Holbein und Albrecht Dürer erfreuen (darunter wahre Kleinodien, die an die Schätze der Wiener Albertina erinnern und allein eine Reise hierher lohnen würden), so mußt du in die Bibliothek in der Friedrichstraße; interessierst du dich für alte Italiener und Niederländer, für Lippi und Tiepolo, Perugino und Garofalo oder – um wieder nur die Meister zu nennen, die besonders schön vertreten sind – für Jan Steen und Netscher, Ruysdael und Wynants, so wandere ins Schloß; erfreut dich Lucas Cranach der Jüngere, so mußt du in die Schloßkirche; willst du so anschaulich wie sonst nirgendwo erfahren, wie reich und schön die vielgescholtene Kunst des 18. Jahrhunderts war, so mußt du in die Zerbster Straße, in die „Amalien-Stiftung“, und auch dieser Gang wird sich dir, um in der Sprache des neuen Dessau zu reden, mit hundert Prozent Nutzen bezahlt machen, denn außer diesen braven, tüchtigen Meistern, den Pesne und Seekatz, den Lisiewsky und Schütz, triffst du so nebenbei dort auch ganz große Herren – van Dyck, Frans Hals und Holbein –, dieselben, die man auch in Wörlitz findet und die in der Phantasie meiner kunstfreudigen Nachbarin mit der neuen Kußtechnik als „Wandick“ und „Halsbein“ fortleben. Gewiß, es ist alles, alles der Mühe wert, aber vier Gänge und viermal aus der Stimmung gerissen sein – man macht das anderwärts den Leuten bequemer und angenehmer. Und anderwärts ist auch die Anordnung der einzelnen Sammlungen eine bessere und die Bestimmung der Bilder sorgfältiger, aber davon werde ich noch, wenn ich von Wörlitz erzähle, ein Wort zu sagen haben. Nun sind aber zudem die Kunstschätze der Dessauer Fürsten nicht einmal in Dessau selbst vereinigt; eine ganz vorzügliche Sammlung, schon für sich allein betrachtet kostbarer und köstlicher als sie die meisten kleineren Residenzen Deutschlands aufzuweisen haben, ist in Mosigkau, 7 Kilometer von Dessau, zu finden; eine sehenswerte Porträtgalerie 14 Kilometer entfernt in Oranienbaum, und 19 Kilometer sind's nach Wörlitz, wo sich wieder 7 – schreibe sieben – zum Teil weit auseinanderliegende Sammlungen finden.
Macht zusammen wohlgezählt dreizehn Sammlungen, und findet man, daß die Schloßkirche keine Bildergalerie ist, auch nicht unter Verletzung religiöser Empfindungen zu Kunstzwecken ihrer Schätze beraubt werden darf, was auch ich wahrlich nicht wünsche, so bleibt doch noch ein volles Dutzend von Sammlungen übrig. Oder richtiger: von Orten, wo die Dessauer Herzoge ihre Bilder und Statuen aufbewahren; denn es handelt sich, genau besehen, hier um keine einzige organisch gewordene, in sich geschlossene Sammlung, sondern um Kunstschätze, die nur deshalb getrennt wurden, weil es an einer einzigen würdigen Heimstätte für sie fehlt. Nur deshalb, betone ich, denn die paar hübschen modernen Bilder im Schloß abgerechnet, die mir nicht eben imponiert haben, weil ich ein halbes Dutzend Berliner Bürgerhäuser aufzählen könnte, wo die Kunst des 19. Jahrhunderts unendlich viel reicher und schöner vertreten ist, ist ja der gesamte Besitz auf zwei Glieder dieser Dynastie zurückzuführen: auf die Prinzeß Amalie, die Gemahlin eines Oraniers, die namentlich die Holländer zubrachte, und den Herzog Franz; die andern haben nur einzelne Bilder gekauft; mehrere gar keine. „Sie haben sich eben nicht dafür interessiert“, wird man mir einwenden, „man kann deshalb doch ein guter Fürst sein.“ Ich sage nicht nein, aber ich meine doch: „Noblesse oblige!“ Der Schatz, den Prinzessin Amalie und der edle Freund alles Schönen zusammengebracht haben, findet leider nur eben in den größten Städten Deutschlands seinesgleichen; aber die Art, wie er aufbewahrt, gruppiert, bestimmt und zugänglich gemacht wird, ist ein Unikum, das gottlob nirgendwo seinesgleichen findet... Wäre ich – Anfälle von Größenwahn hat ja heutzutage jeder Mensch – Sekretariats-Adjunkts-Stellvertreter des Herrn Konservators für die Kunstdenkmäler Anhalts, oder wäre ich gar – mir schwindelt's, aber man weiß ja, daß ein solcher Wahn dann lawinenhaft wächst – der Herr Konservator selbst, ich würde vor Seine Hoheit den regierenden Herzog hintreten und sagen: „Hoheit, so geht es nicht weiter! Lassen wir in Wörlitz, was dorthin gehört, um den Charakter dieser einzigartigen Schöpfung Ihres Urgroßvaters zu bewahren, aber bauen wir für alles andere eine würdige Heimstätte. Dann erst wird ersichtlich sein, wie Herrliches wir besitzen, dann erst bringt dies Herrliche den vielen Tausenden, die hierher strömen werden, gewiß in zehnfacher Zahl wie bisher, den rechten Nutzen, die rechte Labung für Aug und Herz!“ Und haben Seine Hoheit nicht bereits nach diesen Sätzen dem Lakaien geklingelt, um mich hinauszuweisen, so würde ich fortfahren: „Hoheit! Neben Ihrem herzoglichen Schloß steht Ihre herzogliche Hofmühle. Das ist ganz in der Ordnung, kein verständiger Mensch wird was dagegen sagen. Aber auf die andere Seite gehört die herzogliche Gemälde-Sammlung, zu der dann die Menschen andächtig pilgern werden wie zu den Berliner Museen und der Dresdener Galerie. Und tun Sie dies, Hoheit, so reihen Sie Ihren Namen würdig an den Ihres Urgroßvaters!“ Und wiese er mich hinaus, so würde ich diese Rede mutatis mutandis dem Erbprinzen halten, von dem man soviel Gutes hört... Aber das ist ein Traum, ich werde niemals Sekretariats-Adjunkts-Stellvertreter des Konservators für die Kunstdenkmäler Anhalts, geschweige denn der Herr Konservator selbst sein, und zwar, von einer Reihe triftigster Gründe abgesehen, auch deshalb nicht, weil es keine solche Stellungen in Dessau gibt.
Jawohl, und auch keinen Rat für künstlerische Angelegenheit gibt es im Ministerium. Ich würde dies Unglaubliche nicht niederzuschreiben wagen, wenn es mir nicht zwei Dessauer Herren, die es wissen müssen, übereinstimmend versichert hätten.
Nun aber lege ich heute die Feder hin, um sie morgen für Wörlitz wieder aufzunehmen, und gehe zum Abendessen in den „Goldenen Beutel“, wo es kein „eingemachtes Kalbfleisch nach Dessauer Art“ gibt. Auf dem Wege will ich den „Dessauer Marsch“ pfeifen und das schöne Lied vor mich hin summen, das nach dieser Melodie geht: „So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage...“ Ich höre dies Lied hier überall und aus allem heraus: aus den Gesprächen der stattlichen Kaufherren in den Cafés und Restaurants, aus den Unterhaltungen der Herren Rentner in den Anlagen, aus dem Geräusch der elektrischen Bahnen, die rastlos und wohlgefüllt, auch rasch genug, die Stadt durchqueren, aus dem Pusten der Maschinen, sogar aus dem Geklapper der herzoglichen Hofmühle an der Mulde. Nur ist der Text zum Teil ein anderer:
„So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage in der allerrentabelsten Mehl-, Zucker-, Sprit-, Maschinen-, Eisen-, Wollgarn-, Bier- und Tapetenkompanie.“
Metrisch richtig ist mein Text nicht, aber im übrigen stimmt er.
Dessau, im August 1901