Abschnitt. 2 - Wie alt und dabei wie unhistorisch! ...

Das wird jedem an Dessau auffallen: wie alt und dabei wie unhistorisch! – und ich, der ich eben in Zerbst das kräftig schöne Perfektum durchkonjugiert hatte, mußte vollends auf Schritt und Tritt daran denken. Welcher Gegensatz des Stadtbilds bei einer durch Jahrhunderte parallelen Geschichte; beide Städte wendisch-deutschen Ursprungs, beide günstig gelegen, beide demselben Fürstengeschlecht untertan und bis ans 19. Jahrhundert seine Geschicke fast bedingungslos teilend. Zunächst überglänzt Zerbst das als Stadt um dreihundert Jahre jüngere Dissouwe weitaus; es wird fast gleich nach seiner Begründung Residenz, während Dessau, im 15. und 16. Jahrhundert der Sitz der älteren Dessauer Linie, nach deren Aussterben zeitweilig von Zerbst aus regiert wird. Und diese älteren Dessauer Askanier gleichen zudem den älteren Zerbstern; braver Mittelschlag, der sich in keiner Weise hervortut, auch für seine Stadt nur das übliche tut; darum kann sich Dessau noch immer nicht mit Zerbst messen, denn an der Nuthe waltet die größere Tradition, der stärkere Gemeinsinn und Bürgerstolz; so sagt's das Stadtbild, so bestätigt's die Geschichte. Da tritt mit der neuen Teilung Anhalts von 1603 eine Wendung ein, die allmählich das Zünglein der Waage ins Gleichgewicht bringt; an der Nuthe residieren nur die Diener ihrer Mätressen, an der Mulde gesunde nüchterne Männer, auch in ihren Heiraten glücklicher. Da ist Johann Georg II., der durch seine Verschwägerung mit den Oraniern den Grund zu den Kunstsammlungen legt, die Dessau nun zieren, da sein Sohn Leopold, der Alte Dessauer, der durch seine derbe, rotbackige, breithüftige Anna-Lise, die Apothekerstochter, frisches gesundes Blut ins Haus bringt, vielleicht sein bleibendstes Verdienst um sein Geschlecht. Ich sage dies nicht im Scherz, obwohl auch ich weiß, daß der tapfere Haudegen seinen Namen zu einem Weltruf gebracht und sich in den Zeiten, da ihn Friedrich der Große daheim rasten und rosten ließ, sogar ein wenig um das Nest gekümmert hat, von dem er ausgeflogen. Diese Heirat war ein Glück für die Dessauer Askanier – man denke an das Schicksal der anderen Zweige dieses Geschlechts –, und der alte Brummbär hat vielleicht unrecht gehabt, daß er seinen Erstgeborenen von der Thronfolge ausschloß, weil er es dem Vater nachtat; freilich freite Wilhelm Georg gar nur eine Bauerstochter, aber zwischen der und der „Hofapothekerischen“ war ja doch, aus der Vogelperspektive eines Thrones gesehen, kein Unterschied. Nun, auch die anderen Nachkommen Anna-Lisens schlugen gut ein, am besten ihr Enkel Franz, unter dessen langer gesegneter Regierung (1758–1817) endlich auch die Stadt Dessau ihre alte Rivalin überholte. Zunächst machte der edle, aufgeklärte Fürst seine kleine Residenz zu einer Großstadt im Reiche des Geistes; er häufte den unter seinen Vorgängern begründeten, durch eine Schenkung der Prinzeß Amalie vergrößerten Schatz an Kunstwerken zu seiner heutigen Höhe; er zauberte das Märchen von Wörlitz aus reizloser Gegend empor; er war stolz darauf, der Landesherr des Juden Moses Mendelssohn zu sein, und nannte ihn seinen Freund; unter seiner Ägide, von ihm berufen, konnte der viel gehetzte „Rousseau der Teutschen“, Basedow, seinen Träumen im Philanthropin Gestalt geben; er half die hundertfach vergeblich angeregte Buchhandlung der Gelehrten schaffen; er mühte sich rastlos, mindestens einen großen Dichter hierher zu ziehen, und daß ihm dies nur eben bei dem braven Matthisson gelang, war nicht seine Schuld. Und sein Verdienst war es, daß er, der Fürst, der alles, buchstäblich alles mit seinen feinen, nervigen Händen anfaßte, auch in seinen Dessauern den Sinn für Industrie zu wecken suchte. Als er starb, war seine Residenz eine berühmte, noch immer arme, aber aufblühende Stadt. So er, wie aber seine Nachfolger? Der Ruhm verbleicht, die Kunstschätze bleiben ungemehrt, kein berühmter Gast weilt mehr im Schloß, aber das materielle Gedeihen wächst in Stadt und Hof; die Industrie macht Dessau allmählich zu dem, was es nun ist. Seit 1885 hat sich die Bevölkerung verdoppelt und dürfte nun etwa 55 000 Köpfe betragen; eine Verdoppelung in sechzehn Jahren, das erinnert an Amerika. Ich bin überzeugt, komme ich nach Ablauf von wieder zwanzig Jahren des Weges gefahren, so werden die ersten Hunderttausend längst überschritten sein.
Aber vor 1921 wünsch ich's mir gar nicht. Denn als ich 1881 hier war, habe ich mich über den dicken Onkel gewundert, weil er, seiner Jugendzeit vergessend, nur noch Ziffern in sein Notizbuch schreibt und zwischendurch mit der Goldkette über dem Spitzbauch spielt, und bis jetzt hat er sich nicht gebessert; in zwanzig Jahren tut er's vielleicht. Im Ernst – was könnten Stadt und Hof mit ihren vielen, vielen Millionen für die Pflege künstlerischer Interessen tun, und wie wenig geschieht da! Ach, so wenig! Ich weiß, daß ich damit in ein Wespennest greife, denn die Dessauer, sonst nicht eben große Lokalpatrioten, sind begreiflicherweise, wie alle rasch reich gewordenen Leute, gerade in diesem Punkte sehr empfindlich – aber wahr ist's doch! „Wir tun sehr viel für die Kunst“, sagte mir einmal in Berlin ein Dessauer Geldgreis, „ich selbst bringe große Opfer.“ In der Tat hatte er im Lauf seines Lebens schon so viele Armbänder an junge Künstlerinnen verschenkt, daß er nur noch auf ganz dünnen Beinen einherzitterte, aber ich mußte ihm trotzdem einwenden: „Ihr Theater ist doch recht mittelmäßig!“ – „Oh, es gibt da sehr talentvolle Schauspielerinnen“, erwiderte er. „Übrigens ist das Sache des Hofs.“ – „Ich habe anderwärts recht gute Stadttheater gefunden!“ – „Dazu ist die Stadt zu klein. Das geht nur den Hof an!“ – „Ihre Konzerte sind gut, könnten aber besser sein.“ – „Das ist ohne ein vortreffliches Orchester, ohne große Sängerinnen“ – für den Mann gab es keine Künstler männlichen Geschlechts –, „kurz, ohne eine ausgezeichnete Oper nicht zu machen. Das könnte nur der Hof... Was uns, die Stadt, die Bürger betrifft – sehen Sie sich einmal unsere neuen Denkmäler an, da werden Sie Augen machen!... Ein großer Professor hat mir gesagt: dem Hof sind die Gemäldesammlungen zu danken und die Schloßkirche, aber euch diese Denkmäler! Hof und Bürgerschaft, ihr wetteifert heute beide würdig miteinander!“ Dieser letzte Satz enthält ein Korn Wahrheit, o ja! Aber daß ich damals auf meine Frage den Namen des „großen Professors“ nicht erfuhr, bedauere ich noch heute; wir haben so wenig originelle Köpfe in Deutschland, und da muß man auch noch einem dieser wenigen vergeblich nachforschen!...
Und nun will ich, der ich nicht einmal ein kleiner Professor bin, trotzdem freimütig sagen, welche Meinung ich mir über diese Kunstschätze während meines hiesigen Aufenthaltes gebildet habe.
Zwar von den Sammlungen will ich nicht eingehend sprechen, weil dies bereits andere reichlich und vortrefflich getan haben, und das wenige, was ich darüber zu sagen habe, will ich später vorbringen, aber über die Schloßkirche möchte ich gleich hier einiges bemerken, schon weil sie lange nicht so viel besucht wird, wie sie's verdient. Das ist begreiflich; gäbe es ein großes Museum in Dessau, so behielte man auch Zeit und Laune für diesen Gang; heute tun's die meisten nicht. Schade, denn wohl ist der alte gotische Bau von 1554 an sich kaum je imponierend gewesen und ist es heute infolge zahlreicher, nicht eben geschickter Zu- und Umbauten vollends nicht mehr, aber das Innere enthält viel Interessantes und bietet zudem merkwürdige Beiträge zu dem Kapitel, das der „große Professor“ durch sein lapidarisches Diktum erledigt hat... Man weiß, die Kirche enthält ein Hauptbild Lucas Cranachs des Jüngeren, „Das heilige Abendmahl“, mit den Porträts der bedeutendsten Fürsten und Gelehrten, die die Reformation gefördert haben – ein schönes, auch historisch wichtiges Bild. Aber hat es seit langen Jahren schon jemand ganz genau und bis in die kleinsten Details betrachten können? Ich glaube: nein, denn es hängt an einer Stelle, die immer fast dunkel bleibt, selbst um die Mittagsstunde eines sonnigen Augusttages. Das kann ja nicht immer so gewesen sein, sonst hätten wir keine so genauen Beschreibungen und Reproduktionen des Bildes; gibt es, muß man sich unwillkürlich fragen, keinen Mann in Dessau, der sich von Amts wegen darum zu kümmern hat? Dann fände er es doch gewiß auch sinnwidrig, ein so schönes und berühmtes Bild an eine Stelle zu hängen, wo man es nicht sieht! Eines der anderen Bilder desselben Meisters ist nun hier nur in Kopie vorhanden, das Original kam in die Kirche einer ganz kleinen Stadt des Herzogtums. Man pflegt es sonst umgekehrt zu machen, vielleicht nicht mit Unrecht... Wer die Kirche besucht, versäume nicht, nach dem Sarkophag des Fürsten Joachim Ernst zu fragen. Er ist eine schöne Arbeit (von 1586), namentlich die Arabesken sind sehr fein; die Frauengestalten, die an dem Sarge Wache halten, freilich fast so plump wie die zwölf preußischen Grenadiere in Zinkguß, die unten in der Gruft der Schloßkirche am Sarkophag des Alten Dessauers zu sehen sind. Kein Katalog verzeichnet die schöne Arbeit, kein Mensch weist auf sie hin, warum?!... Ein anderes, rein sachliches Rätsel, das ich nicht zu lösen weiß, verzeichne ich hier, damit ein Berufener der Sache nachgehe. An der Wand des Schiffs zieht sich eine Reihe von 53 Tafeln, die heilige Geschichte von Adam und Eva bis zum Jüngsten Gericht darstellend, hin; sie gelten als ein Werk Lucas Cranachs des Jüngeren und seiner Schüler, aber auf der letzten Tafel steht deutlich: „Lukas Kranach der Mittler. Mal.“ Meines Wissens ist von einem mittleren Cranach sonst nichts bekannt... Ich war mit dem sehr verständigen und für die Bilder seiner Kirche interessierten Küster stundenlang allein; da er meine Freude an den Werken sah, so bat er mich, ein eben in der Rumpelkammer von ihm aufgefundenes männliches Porträt anzusehen; es ist eine gute Arbeit des 17. Jahrhunderts und würde eine Restaurierung wohl verdienen; außer dem Küster kümmert sich kein Mensch darum. Ein anderes Porträt, gleichfalls von ihm aus der Rumpelkammer erlöst, konnte er mir nicht zeigen, beschrieb mir aber das Zeichen des Malers – ich habe es dann in Wörlitz an den Werken des Holländers Abraham Snaphan wiedergefunden und dies dem Küster mitgeteilt. Snaphan ist ein bedeutender Künstler, und in Wörlitz kann man erkennen, daß er jedes Bild mit Einsetzung seines vollen Könnens gemalt hat; das Werk in der Schloßkirche kann gar nicht unbedeutend sein, und hier hängt es in der Rumpelkammer, aus der es der Küster hervorzieht, weil es ihm auffällt, um dann von einem Fremden zu erfahren, daß es von einem trefflichen Künstler ist...