Abschnitt. 1 - Gegen Dessau kann niemand was haben...

Noch ehe mich die Zerbster Pferdebahn mit der Rapidität einer galoppierenden Schnecke zum Bahnhof befördert hatte – wir waren nun unser drei Passagiere, welche Verdreifachung des Verkehrs dem Sonntag zuzuschreiben war und mich mit Neid auf die Aktionäre dieses lukrativen Unternehmens erfüllte –, stand mein Entschluß fest: Dessau und Wörlitz, dabei bleibt's. Vernünftiger wäre es ja wohl, sagte ich mir, in einem Zug weiterzureisen und morgen abend in einem kühlen Bergtal zu sein, aber so gibt's wohl mehr Pläsier. Und zwar entfielen in meiner Erwartung etwa neun Zehnteile von diesem Pläsier auf die „elysäischen Felder“, die Goethe in Wörlitz entdeckt hatte, und ein Zehnteil auf Dessau, das ich bereits kannte, freilich nur durch einen Besuch vor etwa zwanzig Jahren.
Aber man darf daraus nicht schließen, als ob ich von damals her etwas gegen Dessau gehabt hätte. Gegen Dessau hat niemand was, gegen Dessau kann niemand was haben; ich kann mir das ebensowenig denken wie finsteren Haß gegen einen dicken, gemütlichen Onkel. Denn die Verkörperung der Stadt an demjenigen ihrer Denkmäler, das ihr schlechtestes wäre, wenn ihr nicht seither die Freigebigkeit des verstorbenen Baron Cohn das geschmackloseste Kaiser-Wilhelm-Denkmal im ganzen Deutschen Reich beschert hätte – diese Verkörperung von Dessau am Jubeldenkmal scheint mir arg verfehlt. Eine empfindsamer zimperliche, gleichwohl wenig bekleidete Jungfrau von erbarmungswürdig kargen Formen, die in eine Lyra greift, um, nach ihrem Gesichtsausdruck zu schließen, etwas sehr Sentimentales vorzutragen, bewahre, das ist Dessau nicht, sondern ein behaglicher, wohlgenährter Geschäftsonkel in den besten Jahren, leidlich anständig, wenn auch nicht eben sorgfältig gekleidet, auch nicht gerade der kurzweiligste Sterbliche, aber honett, freundlich und sogar von leidlicher Bildung. Die hat er freilich aus seinen jüngeren Jahren, wo er für alle neun Musen schwärmte, nicht überschwenglich, aber ehrlich; damals war er auch noch ein hagerer Mensch. Seither hat er die Schwärmerei für die nützlichen Sachen gelernt, denen er sein Vollmondsgesicht und die schwere, auf das Spitzbäuchlein niederbaumelnde Goldkette verdankt: für Tapeten und Zucker, Bier und Mehl, Eisen und Sprit, Wollgarn und Maschinen. Lauter notwendige Sachen, gegen die sich nichts sagen läßt – aber kann man sich, frag ich, in die Arme dieses dicken Onkels sehnen und anderen zumuten, eine eingehende Schilderung seiner Reize zu lesen?
Schon deshalb kann ich hier nicht in derselben Art von Dessau erzählen wie von der „verschollenen Fürstenstadt“, aber nicht deshalb allein. Zerbst ist trotz Brägenwurst und Bitterbier ein richtiges Dornröschen, und niemand nimmt sich seiner an; Dessau hingegen blüht als die reiche Hauptstadt eines der wohlhabendsten Länder Deutschlands, von den Strahlen höfischer Gunst, aber noch kräftiger von dem Feuer zahlreicher Maschinenkessel durchwärmt, und ist genau nach Verdienst bekannt und besucht. Der ungeheuren Mehrzahl der Menschen wird immer ein Fluß, der Mühlen treibt, lieber sein als der versprengte Tautropfen im Grase, zu dem man sich mühselig bücken muß; ich aber habe nach dieser Hinsicht, vielleicht aus angebotenem Trieb, vielleicht durch das Schicksal erzogen, immer aus ganzer Seele zu der Minderheit gehört, und für die Mühe des Bückens war mir stets die Erkenntnis tausendfacher Lohn, daß sich die Sonne, die über uns allen ist, im kleinen Tropfen viel farbiger und wundersamer spiegelt als im Flusse. In dem armen, romantischen Nest hat mir altem Knaben ordentlich das Herz vor Freude geklopft; in der reichen Rentner- und Industriestadt ist mir das nicht passiert. Und so sei mir gestattet, nur zu versichern, daß es Onkel gut geht, daß er noch immer stark zunimmt, aber nicht kurzweiliger geworden ist, und zu berichten, was er sich so in den letzten Jahren an hübschen und minder hübschen Sachen beigelegt hat.
Schon vom Bahnhofsportal bietet sich ein anderes Bild: in den Anlagen sind die Bäume und hinter ihnen neue Hotels emporgewachsen. Das eine ist nett und das andere notwendig, ein Erzeugnis des modernen Reiseverkehrs, der ja nicht etwa bloß stärker, sondern vor allem auch hastiger wird, das sehe ich ein. Aber diese Bahnhofshotels gefallen mir nicht, und wo sie die stillen, alten, vornehmen Gasthöfe im Herzen des Weichbilds totschlagen, da hasse ich sie. Dieser Prozeß vollzieht sich in den meisten Mittelstädten Deutschlands geräuschlos – ich erinnere mich nicht, je einen Hinweis darauf gelesen zu haben –, aber mit unerbittlicher Wucht; ab und zu haben bereits die entthronten Patrizier vom Markt oder der Hauptstraße vor den Parvenüs draußen die Waffen gestreckt; die anderen kämpfen noch, aber viele werden unterliegen. Das ist schade – o diese Bahnhofshotels! Schon das Gepfeife des nahen Bahnhofs ist bei Tage unangenehm und des Nachts lästig; freilich wollen viele Leute nachts reisen, aber andere wollen schlafen. Dazu der Verkehr im Hause; die dünnen Wände dieser zumeist rasch, billig und schlecht aufgeführten Karawansereien gewähren einen Einblick in das Treiben der Nachbarn, der ja vielleicht psychologisch interessant, aber jedenfalls schlafraubend ist. Und das Essen ist fast immer schlecht; die Gäste bleiben ja ohnehin höchstens einen Tag. Weil ich dies alles weiß und weil ich vor zwanzig Jahren in einem guten alten Haus, dem „Goldenen Beutel“, nahe am Schloß, vergnüglich gehaust hatte, ging ich vorgestern in ein Hotel am Bahnhof. Freilich hatte mich Zerbst müde gemacht, aber ich habe diese Inkonsequenz bitter bereut. Allerdings kann ich nun aus eigener Wahrnehmung versichern, daß der nächtliche Lastzugsverkehr dieser Industriestadt ein erfreulich reger ist, auch lockten mich meine Nachbarn rechts und links in tiefes Grübeln über das menschliche Leben hinein, aber das erste hätte ich mir auch so denken können, und über das menschliche Leben habe ich auch ohne das alte Ehepaar rechts und das junge links wirklich schon genug gegrübelt. Beide Paare kehrten eben aus den „elysäischen Feldern“ zurück, aber in wie verschiedener Stimmung! Aus dem Zimmer links erklangen zunächst einige so dröhnende Schmätze, daß ich zusammenfuhr, dann fragte Trudchen: „Wilhelmchen“ – Schmatz –, „was hat dir denn im Gotischen Haus besser gefallen“ – Schmatz –, „der Wandick oder der Halsbein?“ Worauf er: Schmatz – „Du Trudchen“ – Schmatz –, „am besten“ – Schmätze in infinitum... „Oh, daß sie ewig grünen bliebe...“, aber sie bleibt ja gar nicht grünen. Im Zimmer rechts warf Frau Klara ihrem Fritz vor, daß er bei der Kahnfahrt im Wörlitzer Park die Schifferin heimlich in die Wade gezwickt und dann am Bahnhof sieben Glas Bier getrunken habe, obwohl er nicht zwei vertrage, worauf Fritz leider durch seine Antwort die Richtigkeit dieser Ansicht bewies, denn er rückte seiner getreuen, doch gewiß nur von der Sorge um ihn verzehrten Ehehälfte vor, daß sie überhaupt keine Waden habe; „auch nie gehabt“, grölte er, „niemals!“, worauf sie unter blutigen Tränen die einstige Existenz dieses spurlos dahingeschwundenen Körperteils beteuerte. Und dies Gespräch dauerte zwei Stunden; die Küsserei links nahm überhaupt kein Ende. Waren da Breitmäuler selig, oder hatten sie eine besondere Kußtechnik, aber es klang wirklich wie Böllerschüsse... Nun, für all dies kann das Hotel nichts, aber welch ein Diner habe ich da gestern genossen! Zu einem Zwecke, der mir human scheint, teile ich zum mindesten das Rezept des zweiten Ganges mit, der mich nach einem Teller voll warmen Wassers, das hier „Kraftbrühe“ heißt, erfreute. Das Gericht nennt sich „eingemachtes Kalbfleisch“, und zwar, wie der Kellner beim Servieren stolz beifügte, „nach Dessauer Art“. Es wird wie folgt zubereitet: Man nehme recht zähes, grobfaseriges Kalbfleisch, koche ihm drei Stunden lang das bißchen Kraft und Geschmack, das etwa darin sein sollte, völlig aus, richte dann eine dicke Soße an, die aus Wasser, Kleister, Mehl, Zucker und Kapern besteht, und richte das Ganze lauwarm an, so daß die Soße schon eine Kruste zeigt. Ich teile dies Rezept mit, weil ich eben im Café dieses Hotels bei einer Tasse echten Mokkas aus den Plantagen von A. Zuntz sel. Witwe in Berlin den Aufsatz einer geistreichen Kollegin gelesen habe, der sich scharf gegen das neue Bürgerliche Gesetzbuch kehrt, das den „Millionen Frauen“, die ihre Männer los sein wollten, die Scheidung erschwere; wolle der Tyrann nicht, so gehe es überhaupt nicht. Wohlan, ihr Millionen Märtyrerinnen, setzt euren Peinigern wöchentlich einmal „eingemachtes Kalbfleisch nach Dessauer Art“ vor, und die Zähesten werden nach einem Monat die Scheidung selbst betreiben. Aber mit Maß! – nicht etwa täglich, das wäre Mord und brächte euch vor die Geschworenen...
Während man „eingemachtes Kalbfleisch“ in dieser oder doch ähnlichen Güte zwischen Mulde und Werra häufig findet, gibt es, um nun wieder was Hübsches zu nennen, in Mitteldeutschland keine Stadt von annähernd dieser Einwohnerzahl, die einen so stattlichen Straßenzug aufzuweisen hätte, wie er hier vom Bahnhof durch die Kaiser-, dann die Friedrich- und die Kavalierstraße ins Herz der Stadt führt. Man sieht sofort: hier ist viel Geld da, bei Privatleuten, Regierung und Hof, und zuweilen, wenn auch nicht überall, zeigt sich auch Geschmack. Schon die Kaiserstraße ist im ganzen nett ausgebaut, die Post, das erbprinzliche Palais, das neue Rathaus können sich sehen lassen, auch in den anderen Stadtteilen trifft man manches hübsche Haus. Aber nur in den neuen Straßen zeigt sich etwas wie ein bestimmter Charakter, so annähernd der von Berlin W, an das man immer wieder erinnert wird, eben der Charakter des Wohnviertels einer reichen, modernen Stadt; daß der Stil der Wohnhäuser buntscheckig ist, gehört ja mit dazu, denn wir stecken in dieser Hinsicht noch in dem Zeitalter der Experimente, aber der überwiegend talentvollen – nur Geduld, es wird sich schon was Rechtes daraus entwickeln. Auch das viele Grün der zahlreichen Anlagen wirkt erfreulich. Unerfreulich aber, weil so ganz unhistorisch, so ganz charakterlos und nur eben unmodern und zum Teil arg unschön mutet das alte Dessau an. So war mein Eindruck vor zwanzig Jahren, und meine Wanderung von gestern und heute hat ihn nur gefestigt. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, als ob sich nicht auch hier ab und zu manches fände, was den Freund der Baukunst interessieren kann; schon das herzogliche Schloß an der Mulde ist ein solcher Bau. Interessieren sag ich, nicht als Ganzes erfreuen. Der westliche Flügel (von 1532) ist ein sehenswertes Werk der Frührenaissance, der östliche von 1750 für diese Zeit und der Mittelbau von 1874 in modernster Renaissance wieder für unsere Zeit respektabel, aber das Ganze wirkt so unruhig, daß man den Versuch, einen Totaleindruck zu gewinnen, ordentlich bedauert; er verdirbt die Freude am Einzelnen. Und das Einheitliche wieder ist selten interessant, noch seltener schön; zwei alte Bauten, wie sie das kleine Zerbst an seinem Schloß und seinem Rathaus besitzt, wird man hier vergeblich suchen. Vor allem aber, die Bürgerhäuser sind so häßliche, dürftige Nutzbauten; man kann lange Straßenzüge passieren, ohne den unerquicklichen Eindruck zu verlieren: das ist ein etwa 1750–1800 schlecht und billig erbautes Städtchen. Nirgendwo ein hübscher Giebel, eine geschmückte Fassade, ein paar übermütige Kartuschen oder ein lustiges Erkerchen; nur nüchterne Häuser aus dürftiger Zeit, und über jedem könnte der Spruch stehen, den ich einmal vor langen Jahren an einem Haus in einem thüringischen Flecken so oder ähnlich gelesen habe: „Ach Gott, es ist dir wohl bewußt, / Ich baut aus Not und nicht zur Lust.“ Wohnen muß man irgendwo... Kurz, diese älteren Stadtteile sind weder reinliche Gegenwart noch farbige Vergangenheit, sondern die richtige charakterlose Halbvergangenheit. Das Imperfektum ist ja überhaupt ein zwitterhaftes Tempus, und der Volksinstinkt hat recht, wenn er sich sprachlich dagegen sträubt, aber ein deutsches Städtebild im Imperfekt ist vollends unerquicklich.