Abschnitt 3

Ein Stückchen Rokokohof ersteht mit dieser kleinen Episode vor meinem inneren Auge. Mr. Nugent, ein Engländer, dessen Königin, Queen Charlotte, wie erwähnt, eine Strelitzer Prinzessin war, hat eine sehr ausführliche Beschreibung aus dem Jahre 1766 hinterlassen.

Da bildeten den Mittelpunkt Adolf Friedrich IV. (Durchläuchting) und seine Schwester, Prinzessin Christiane. Täglich hielten sie Hof. Er immer in großer Toilette, bald im blauen, bald im roten, grünen oder gelben Samtrock; das hellbraune Haar von einer Zopfschleife zusammengehalten, immer mit dem blauen breiten Seidenband des Hosenbandordens geschmückt. Sie ungern in großem Hofkleid, lieber im Reithabit, das sie auch häufig bei der Mittagstafel trug, wobei aber die scharlachrote Dekoration des russischen St. Katharinenordens nicht fehlen durfte. Teils absoluter Fürst, soweit dies die ständische Verfassung gestattete, teils patriarchalischer Landesvater, stellt sich die Gestalt des Herzogs dar. Mehr oder weniger hing jeder Mensch in Neustrelitz mit seiner Existenz von Sr. Durchlaucht ab. „Strelitz c'est moi!“ konnte er in gewissem Sinne sagen. Aber er war kein Louis XIV., sondern ein gutmütiger, nicht sehr bedeutender, etwas eitler Herr: „Ich geniere niemand“, pflegte er zu äußern, „aber ich will auch nicht geniert sein.“ Alle seine Hofbeamten, von dem fast achtzigjährigen Hofmarschall von Zesterfleth, der schon seinen Vater erzogen hatte, bis hinab zu den Leutnants seiner Garde und dem Pagen, der vor und nach der Tafel das Tischgebet sprechen musste, waren ihm ganz genau bekannt. Er sah sie alle fast täglich und verfolgte ihre Lebensschicksale sehr eingehend und ohne Zweifel mit Interesse. Die meisten hatten „bouche en cour“; das heißt sie aßen alle Tage an der Tafel und konnten sich die Speisen holen lassen, wenn sie nicht erschienen. Alle Adligen und alle Fremden von Bedeutung, die sich zufällig im Orte aufhielten, wurden ein für allemal eingeladen. Um ein Uhr speiste man zu Mittag. Fremde Gäste wurden mit einer Hofequipage abgeholt und zurückgebracht, dafür gaben sie eine Pistole, das heißt ein Goldstück im Werte von 15,50 Mark als Trinkgeld an die Stallbedienten. Ein wirkliches Hotel nach unseren Begriffen gab es nicht, man stieg beim Bürgermeister, Kaufmann Strübing, ab. Um 7 Uhr abends versammelte man sich wieder bei Hofe, zunächst um die Spieltische, an denen man sich mit Whist oder Quadrille unterhielt; der Herzog liebte das, spielte aber nie sehr hoch. Man brachte ihm währenddessen eine Liste aller Leute, die in den letzten 24 Stunden Neustrelitz besucht hatten, was ihn sehr interessierte. Er wusste infolgedessen von jeder Bauernfrau, die Eier brachte, wie von jedem Reisenden, der die Stadt passierte. Wenn die Prinzessin, was öfter vorkam, des Abends nicht erschien, so führte der Herzog eine der älteren Damen zu Tisch. Übrigens war die Rangordnung für gewöhnlich nicht streng; man setzte Personen, von denen man annahm, dass die Herrschaften sich gern mit ihnen unterhalten würden, den Fürstlichkeiten gegenüber. Es gab mittags wie abends Suppe, drei Gänge und Dessert, dazu viele verschiedene Weine und Bier aus des Herzogs Brauerei, auch englisches. Es waren oft 20 Personen bei Tafel. Ein Trompetersignal rief zur Mahlzeit, und man dinierte etwa zwei Stunden, worauf der Kaffee stehend genommen wurde, und dann zogen sich die Herrschaften zurück. Wir frühstücken um 1 Uhr und dinieren um 7 oder 8 Uhr; unsere Vorfahren waren ehrlicher, sie aßen um 1 Uhr zu Mittag und um 8 oder 9 Uhr Abendbrot. Mittwoch und Sonntag um 6 Uhr war Hofkonzert, wozu sich alles Hoffähige versammelte. Man saß während der Musik an kleinen Tischen und spielte. Auch gab es bisweilen Hofbälle, dann tanzten Durchlaucht und Prinzessin-Schwester ein Menuett. Es waren natürlich fast immer dieselben Menschen, die sich zusammen fanden. Im Sommer boten Ausflüge, auf Wochen oder Tage, nach Adolfslust, Neubrandenburg oder Mirow einige Abwechslung. Wenn dann die im Winter unergründlichen Wege es zuließen, reiste der Herzog, bisweilen nur von einem Kavalier begleitet, nach Hamburg, amüsierte sich und genoss seine Freiheit. Man war übrigens genügsam. Wenn in Altstrelitz Jahrmarkt war, fuhr Se. Durchlaucht dorthin, trank in der Post Kaffee und unterhielt sich, indem er das Treiben in den Straßen beobachtete. Nach unseren Begriffen, die wir uns mit unserem Leben sozusagen kaum auf Europa, wie viel weniger auf einen winzigen Ort, wie Neustrelitz damals war, beschränken mögen, hatte das Dasein dort etwas unendlich Eingeengtes und Kleinliches. Aber die denkenden Geister fanden durch diese Beschränkung auch wieder mehr Zeit, sich zu vertiefen, und man würde doch irren, wollte man das Bildungsniveau dieser Kreise ganz niedrig einschätzen. In der Neustrelitzer Hofgesellschaft lebten viele feingebildete Leute, Mr. Nugent fand davon eine große Zahl, die fertig Französisch sprachen, auch solche, die Englisch verstanden und des Italienischen mächtig waren, nicht minder gelehrte Herren; die Naturalienkabinette und ansehnliche Bibliotheken besaßen und allerlei Interessen pflegten.


Die Gastfreiheit gegen Fremde war weitgehend, denn begierig nahm man jede von außen kommende Anregung auf. Jener Engländer speiste täglich bei Hofe, frühstückte beim Minister und wurde von allen Seiten mit Freuden willkommen geheißen. Er brachte mehr als einen Monat in Neustrelitz zu, und als er abreiste, bezahlte ihm der Herzog nicht nur seine Rechnung bei Strübing, sondern ließ ihm noch eine goldgefüllte Börse zum Abschied überreichen für den Fall, dass er sonst noch Unkosten gehabt habe. —

Seit jener Zeit haben Schloss und Lebensweise sich so wesentlich verändert, dass der gute Mr. Nugent sich ebenso wenig zurechtfinden würde wie Se. Durchlaucht selber. Von dem damaligen Schlosse ist nur noch das Corps de logis vorhanden und wird sicher in nicht zu ferner Zeit ebenfalls dem Neubau, der schon den ganzen rechten Flügel in sich aufnahm, eingegliedert werden. Das Neue verschlingt ja mit Unerbittlichkeit immer das Alte, das ist der Weltlauf, und wunderbar zu beobachten ist es für den denkenden Menschen, wie gerade das, was die vorhergehende Generation schön und geschmackvoll fand, bei der folgenden ganz in Misskredit kommt, oft so sehr, dass man z.B. einst die schönsten seidenen Tapeten von den Wänden riss, um sie mit dem in Mode gekommenen Papier zu bekleben, ja, dass die kostbarsten eingelegten Möbel, die Ölporträts und zierlichen Silhouetten auf die Rumpelkammern wanderten, nur weil man glattes Mahagoni und Kupferstiche geschmackvoller fand. Und dann kommt wieder eine andere Zeit, flugs holen die Enkel den alten Kram herunter und geraten in wahre Ekstase über diese vergessene Schönheit! Gebäude lassen sich ja freilich nun nicht so behandeln, aber sie müssen es sich gefallen lassen, dass man sie zeitweise als schön bewundert und zeitweise als scheußlich verachtet, bisweilen gar modernisiert, wobei dann oft schreckliche Missgeburten zustande kommen. Auch am Strelitzer Schlosse kann man den Wechsel des Geschmacks studieren. Als der linke Flügel ein flaches Dach bekam und mit Karyatiden und Balustraden geschmückt wurde, fand man große, rote Ziegeldächer hässlich, heute dagegen hat man dem rechten Flügel und dem ganzen neuen Bau hohe, steile, rote Mützen aufgesetzt, weil man jetzt dem Barock- und Empirestil wieder huldigt. Freilich, die bescheidene Anlage Adolf Friedrich IV. kann sich mit dem stolzen Schlosse, das jetzt seine vielfenstrigen Fronten, Türme und Türmchen über den ganzen Hügel ausdehnt, nicht messen, aber man hat unwillkürlich das Gefühl, dass man diesen ganzen stolzen Palast, der, durch Nebengebäude eingeengt, für das bescheidene Städtchen und die anmutige, aber nicht großartige Umgebung fast überwältigend wirkt, auf einer weit überragenden Berghöhe sehen möchte, damit man es in der richtigen Perspektive auf sich wirken lassen könnte, mit seinen großen Dachflächen und hellen Mauern über dunklen Massen grüner Laubwälder, durch die sich eine breite Straße in mannigfaltigen Krümmungen zu ihm empor windet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg