Abschnitt 1

Vier rasche Pferde zogen uns schnell im offenen Wagen durch die Straßen der Stadt. An der erst vor wenigen Jahren erbauten katholischen Kirche geht es vorüber, auf die Altstrelitzer Chaussee hinaus. Tore und Mauern hatte Neustrelitz niemals, es ist ein freies Kind der Jahrhunderte, in denen die Menschen friedlich nebeneinander leben und sich nicht, wie in der „guten alten Zeit“, mit Sengen, Brennen, Morden und Rauben ungestraft anfallen dürfen. Wer sagt sich heute noch, dass unsere Voreltern glauben würden, wir lebten im Paradiese, wenn sie wüssten, dass man ein ganzes, langes Menschenleben hindurch in unseren Tagen ungestört in Frieden seinem Berufe nachgehen kann und seines Daseins Sicherheit genießen darf. Und doch sollten wir, die wir so viel zu klagen wüssten über die Schäden unserer Zeit, bisweilen dankbar daran denken. –

Wir biegen bald in die links abgehende Woldegker Chaussee und dann in den Wald ein. In tiefem mahlenden Sande geht es etwas langsamer vorwärts, aber es eilt nicht, aus der immer schöner werdenden Waldestiefe fortzukommen. Hügelland ist es, die so genannten Serrahner Berge; unter den rötlichen Stämmen der mächtigen Kiefern, auf denen die Sonnenlichter spielen, kauert das Gnomenvolk der Wacholderbüsche, oben streicht mit leisem Flügelschlag der Sommerwind durch die Baumkronen, die alsbald ihr rauschendes Lied anstimmen. Frischgrüne Waldwiesen, stille kleine Teiche, und dann die majestätischen, weißlichen Buchenstämme mit ihrem herrlich grünen Laubdom. Hin und wieder taucht ein Stück Wild im Unterholz oder am Rande einer Wiese auf, äugt nach dem Wagen und verschwindet im Dickicht. Und nun liegt es vor uns das kleine reizende Haus auf einem Waldhügel, dicht umrahmt von den Bäumen. Zwei Holzbalkons umgeben es und seine Formen, die an die ferne Alpenwelt mahnen, passen doch so gut in die stille Waldeinsamkeit.


Der freundliche Förster, bei dem wir ankehren und dessen kleines Gehöft die einzige menschliche Behausung in nächster Nähe ist, bedeutet uns, dass wir eben noch die Wildschweine, die unweit ihren Futterplatz haben, beobachten könnten. Vorsichtig unter schlanken Buchenstämmen, die ohne Unterholz sich wie eine weite Säulenhalle hinziehen, nähern wir uns dem scheuen Wild und - richtig, da tauchen die schwärzlichen, borstigen Gesellen vor uns auf und stieben dann auseinander, in ihrer wunderlich kurzbeinigen Ungestalt an die Fabel vom wilden Jäger erinnernd. Freilich ohne das knisternde Flämmchen am Bürzel, mit dem man einst in Neustrelitz auf der Bühne dem Wildschwein in der Wolfsschlucht bei Aufführung des „Freischütz“ ein besonders gespensterhaftes Aussehen zu geben trachtete.

Und nun zurück zum Schweizerhaus. Während des Försters Magd die Tür aufschließt, lese ich die beiden, außen am Hause angebrachten Inschriften:

„Nur wen`gen ist`s vergönnt, im Heiligtum der Kunst Den hohen Sinn noch höher zu entfalten. Wem es gelang, dem ward des Schicksal Gunst, Es mußten freundliche Gestirne walten, Doch gibt's ein Heiligtum, das jedem offen steht, Ersetzend, was dem Geist und was dem Herzen fehlt. Du bist`s, Natur! an die mein Ruf ergeht, Dein Altar ist`s, den ich für immer mir erwählt.“

Und die andere, die mir besser behagt:

„Nimm gnädig, Herr, in deine Hand Dies fremde Haus im Vaterland, Dem Weidmann geb` es Schutz und Ruh, Dem Gaste, was er wünscht dazu."

Mit der Andacht, die man dem verborgenen Tuskulum eines bedeutenden Toten schuldet, betrat ich die überaus schlichten Räume des kleinen Hauses. Die ungestrichenen, engen Holztreppen führten mich zunächst in das oberste Stockwerk. Die moderne Welt mit ihrer anspruchsvollen Eleganz und ihrem raffinierten Luxus versank, und ich staunte über die einfache Schlichtheit, mit der ein Fürst sich hier umgab.

Das Wohnzimmer mit dem Ruhebett, dem kleinen Schreibtisch und den Möbeln aus Birkenholz, wo die Bilder seiner Lieben den einzigen Schmuck bilden, kann nicht anspruchsloser gedacht werden. Ein Blick aus dem Fenster lehrte mich freilich begreifen, dass die Natur hier Ersatz für alle Pracht der Innenräume bietet. Der waldumkränzte See, die Dächer der Försterei, weithin die Baumkronen, welch ein reizvolles Bild für den Freund stiller Waldeinsamkeit, der hier dem edlen Weidwerk oblag und, sich im Genusse der Natur als Mensch fühlend, aus der Unruhe des Lebens und von den verantwortungsvollen Arbeiten eines regierenden Herrn zurückzog. Dieser Bruder der Königin Luise war eine feine Seele. Auch wer ihn nicht mehr gekannt hat, wird es hier spüren, wo er den persönlichsten Neigungen seines Wesens so sprechenden Ausdruck gegeben hat. Man könnte das bekannte Wort vom Um- gang dahin wandeln: „Sage mir, womit du dich erfreust und erholst, und ich will dir sagen, wie du bist.“

Großherzog Georg machte seinerzeit das kleine, weitferne Neustrelitz zu einer Pflegestätte des Schönen und des geistigen Strebens. Er war ein Freund Goethes, stand mit ihm im Briefwechsel und überraschte ihn einst an seinem Geburtstage in der sinnigsten Weise. Er hatte zufällig die Uhr wieder aufgefunden, die einst in der Hirschgasse im Arbeitszimmer des jungen Goethe gestanden hatte, und ließ sie nun heimlich so aufstellen, dass ihr Schlag den alternden Dichter am 28. August wecken musste.

Er war aber keineswegs nur Ästhetiker, vielmehr hatte er ein warmes, offenes Herz, nicht nur für seine Nächsten, sondern auch für alle Armen und Hilfsbedürftigen. 1807 schrieb er: „Wenn man so herunter ist wie wir, so fühlt man das bisschen Ruin mehr oder weniger nicht mehr. Wenn es nur den gemeinen Mann nicht oft so empfindlich träfe! Das sind Wunden, die nur verharschen, um stets desto empfindlicher wieder aufgerissen zu werden.“ Aus den Kriegsdrangsalen heraus hat er in pflichttreuer Arbeit seinem Lande eine segensvollere Zeit heraufgeführt, und immer blieb er ein fast zu freigebiger Wohltäter der Armen. „Sind sie's auch nicht wert, so sind sie doch bedürftig“, sagte er, als man ihm einst abriet, zu geben.

Königin Luise hat diesem Lieblingsbruder ihr Herz oft in den schweren Tagen von Königsberg und Memel ausgeschüttet. Einst schrieb sie ihm: „Reich an Erfahrung, arm an Glauben, lege ich mein müdes Haupt an Deine Brust. Ach! Georg, welches Schicksal, welche Zukunft, welche Vergangenheit!“

Ihre Empörung über Napoleon, den sie ein menschliches Wesen ohne Herz nennt, ihr Mitgefühl für den Gemahl, aber auch ihre verständnisvollen Einblicke in die Schwachen und Ungeschicklichkeiten, die sie umgeben, vertraute sie dem Bruder.

Rührend mutet es an, wenn sie ihn einmal bittet: „Lieber Georg, schicke mir doch zwei recht hübsche Nacht- mützen für meine Wochen, dieses ist wahrlich kein Luxus, sondern Notwendigkeit, meine sind Lumpen."

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg