Abschnitt 5

Das Dorf Hohenzieritz dehnt sich längs der dicht am Hofe vorüberführenden Landstraße hin. Marieken Bentschneider, die ich dort aufsuchte, wusste nichts aus der Zeit der Königin Luise. Der stattliche Gasthof, der der Einfahrt gerade gegenüberliegt, ist auch vom Herzog Carl erbaut. Dort nannte mir die Wirtin den Namen einer alten Frau Witthuhn, die nach Neustrelitz verzogen sei, und die ich einige Tage später dort aufsuchte. Ich stieg die halbdunkle Treppe des Hauses hinan, das in einer der stillen Straßen des Städtchens liegt. Ein ältliches Mädchen mit einem guten, freundlichen Gesicht öffnete mir. Durch die saubere kleine Küche blickte ich in ein Schlafzimmerchen, wo eine alte Frau vor einem weiß bedeckten Bette saß. Man hätte sogleich ein Bildchen von ihr malen können. Das sicher ehedem hübsche Gesicht der Sechsundachtzigjährigen blickte mit lebhaften Augen unter einer glatten weißen, von einem Spitzchen umsäumten Stoffmütze hervor. Ein kleines dreieckiges, scharlachrotes Tuch hob sich wirkungsvoll von dem schlichten, dunklen Kleide und der dunkelblauen, weißgestreiften Schürze ab. Über dem Bette hing das Bild des Hohenzieritzer Schlosses. Die Alte wohnte hier mit ihrer Tochter, die längere Zeit in Berlin Schneiderin gewesen war, und diesen Beruf nun in Strelitz fortsetzte; auch jetzt hing ihr ein Zentimetermaß über die Schultern. Sie hatte die Mutter aus Hohenzieritz zu sich genommen. Der liebevolle Ton, in dem sie mit ihrem Mutting verkehrte und mir half, nach alten Geschichten zu forschen, hatte etwas sehr Ansprechendes. Die Greisin war jahrelang Schloßmädchen in Hohenzieritz gewesen und wusste allerlei kleine Geschichten von den fürstlichen Besuchern. Aus den letzten Tagen der Königin erzählte sie, dass ihr Vater als zwölfjähriger Junge die beiden Ärzte, wohl Hironymi und Heim, beobachtet habe, wie sie, an seinem väterlichen Garten vorüberschreitend, sich über die reiche Blüte der Kartoffeln freuten; einer von ihnen habe gesagt: „Für den Tod kein Kraut gewachsen ist!“ - Auch habe die Pächterin ihr am Schlosse noch die Stelle gezeigt, wo der Putz beschädigt war, weil man die Wand unter dem Fenster des Sterbezimmers mit der Feuerspritze besprengte, um der unter der Julihitze leidenden Kranken Kühlung zu schaffen. „Ach“, meinte die alte Frau, „wenn der Kaiser nun, wo es hundert Jahre her ist, nach Hohenzieritz kommt, möchte ich wohl auch noch einmal hin.“ Hoffentlich wird ihr der Wunsch erfüllt; rüstig genug ist sie noch für die Fahrt, denn die Sechsundachtzigjährige kocht täglich das Mittagessen, wie mir ihre Tochter sagte. –

Aber ich war ja noch in Hohenzieritz und suchte dort den Küster auf. Ich störte den musikalischen jungen Mann, der eben erst ins Amt gekommen ist, beim Klavierspiel. Bereitwillig schloss er mir das Kirchlein auf. Es ist ganz im Stil und Geschmack der Empirezeit erbaut. Ein tempelartiges Rund mit schwerer Kuppel und einem Säulenportal, das „allen kirchlichen Bauprinzipien entgegen im Osten steht“, indessen der Altar im Westen liegt. Innen ist es unendlich kahl und nüchtern, ganz weiß getüncht, mit säulengetragenen Chören, die Kuppel durch perspektivisch gemalte Kassettierungen sehr hoch erscheinend. Zwei große, silberne Leuchter, ein Geschenk der Königin Friederike von Hannover (früher Prinzessin Solms) und ein silbernes Kruzifix stehen auf dem Altar, über dem kein farbiges Bild die helle Öde belebt, sondern wo die Kanzel hervorragt. Ein paar Totenkränze mit verstaubten, schlaff herabfallenden Atlasschleifen hängen melancholisch an der weißen Wand.


Die Kirche ist 1806 mit großer Feierlichkeit eingeweiht, worüber noch eine weitläufige Beschreibung existiert. Die Hofkapelle führte dabei eine Weihekantate auf.

Königin Luise schenkte einen schönen silbervergoldeten Kelch nebst Patena. Es war am 5. Oktober, also noch vor dem Unglück Preußens. Originell ist die Inschrift einer großen silbernen Kanne, die von der Großmama Landgräfin gespendet wurde; sie lautet: „Zur Erinnerung des (fehlt das Datum) 1806 als am Tage der Einweihung der neu erbauten Hohenzieritzer Kirche habe ich diese Kanne von selbst ausgedriseltem Silber verehret. Luise verwittwete Landgräfin zu Hessen Darmstadt."

Was heißt „selbst ausgedrieseltes Silber?"

Wahrscheinlich hatte die Landgräfin, die wiederholt von Darmstadt aus in früheren Tagen am Hofe Ludwig XVI. zu Versailles weilte, dort jenen Zeitvertreib der vornehmen Ge- sellschaft kennen gelernt, der darin bestand, Gold- und Silber- tressen, die damals ganz massiv gearbeitet wurden, auf- zudrieseln; und das so gewissermaßen durch ihre Hände gewonnene Edelmetall war zu der Kanne verarbeitet worden.

Als ich aus der Kirche trat, lag das weiße Haus wieder vor mir. Schüchtern stahlen sich grüne Grashälmchen durch das Moos der Rasenplätze, der Schatten eines fliegenden Vogels glitt über den Weg, es war so still und sonnig. Ein Hauch ewigen Lebens schien mir über dieser Stätte der Todeserinnerungen zu schweben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg