Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste. Reformation

Die Wiederbelebung der Wissenschaften und Künste, welche während des Mittelalters in den Klöstern ein kümmerliches Leben gefristet, hatte zuerst in Italien durch Macchiavelli, Ariosto, Tasso, Leonardo da Vinci, Buonarotti, Raphael, Correggio, Titian und von dort auswandernd im übrigen Europa neue Regsamkeit des Menschengeistes entfaltet. Agricola, Reuchlin, Erasmus belebten in Deutschland das Studium des Altertums. Nach den Mustern von Paris und Boulogne wurden zu Prag, Wien, Heidelberg, Erfurt, Leipzig Universitäten gegründet, und die erworbenen Kenntnisse fanden durch die Buchdruckerkunst raschere Verbreitung. Bisher unbestrittene Glaubenssätze wurden der Untersuchung unterworfen. Da die Päpste den Wünschen der Völker nach einer Läuterung der Kirche hinderlich in den Weg traten, schaffte sich der durch die Anmaßung, Unwissenheit und Unsittlichkeit der Geistlichen empörte Volkswille aus eigenen Kräften Luft. Der Protestantismus fand auf dem durch katholische Missbräuche gelockerten Boden ein fruchtbares Feld und mit Bildersturm feierte er 1524 in Riga, Reval und Dorpat förmlichen Einzug.

In sprechenden Bildern führt uns Burkard Waldis, der berühmte Fabeldichter, die Gebrechen seiner Zeit vor, mit beißendem Spott geißelt er die vorgebliche Keuschheit der Nonnen und Mönche. Die überraschte Äbtissin, welche Nachts Convent hält und statt mit ihrem Schleier mit den Beinkleidern des Priors ihr Haupt bedeckt, ist eine bekannte Gestalt; und dass das sittliche Zartgefühl damals noch nicht so nervös ausgebildet gewesen sei, als in unsern Tagen, erfahren wir aus der Vorrede zu den Fabeln, welche der Autor „der lieben Jugend, Knaben und Jungfrauen zu Dienst und Förderung ausgehen lassen, und fast an allen Enden dermaßen zugesehn, dass er ihnen hiermit zur Besserung dienen möchte, und die zarten keuschen Ohren der lieben Jugend an seinem Schreiben sich nicht zu ärgern hätten.“ Die 70ste Fabel des 4ten Buches enthält eine Beschreibung der Stadt Riga, deren Bürgermeister Johann Butten der Dichter seinen deutschen „Aesop" widmete. Von seinen Schriften ist ferner anzumerken das von Höfer 1851 herausgegebene plattdeutsche Fastnachtspiel „Der verlorene Sohn.“ Erwähnung verdient endlich des Waldis Beteiligung an dem ersten Riga'schen Gesangbuche vom Jahre 1537: „Kurtz ordnung des Kirchendienstes sambt zweyen Vorreden, die erste an den Leser, die ander von Ceremonien, An den Erbarn Radt der löblichen Stadt Riga in Levfflandt. Mit den Psalmen und Göttlichen lobgesengen, die jn Christlicher versamlung zu Ryga ghesungen werden, auf's neve corrigert vnnd mit vleyß gemert."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Dichter in Russland