Livland, Dichtung im Bürgerkrieg

Während in Westeuropa die Inquisition, in Deutschland die Reformation bedeutende Fortschritte machte, litt Livland unter den Verheerungen blutiger Bürgerkriege und auch durch diese Periode geleitet uns die deutsche Dichtung. Das 22 Strophen H starke Bruchstück eines Liedes aus dem Jahre 1556, welches (1844 in Dr. F. G. v. Bunges Archiv für die Geschichte Liv-, Est. und Kurlands B. III. Heft 2) durch den als livländischen Geschichtsforscher und Kritiker hochverdienten Herrn Eduard Pabst in Reval mitgeteilt wurde, versetzt den Leser in die Kriegswirren des Riga'schen Erzbischof Markgrafen von Brandenburg und des Herrmeisters Wilhelm von Fürstenberg. Der Verfall des bisher blühenden Ordensstaates brach herein und alle bürgerlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse lösten sich auf.

Aus dem Jahre 1558 überkommen wir ein Spottlied aus den deutschen Orden in Livland, gedichtet zur Zeit des Krieges mit den Russen. Die Strophe ist hier in der Grundform mit eingestreuten Abweichungen ziemlich dieselbe, welche durch Blumauers „Aeneide" zwei Jahrhunderte später wieder populär wurde, auch in dem bekannten Kirchenlied:


„Allein Gott in der Höh' sei Ehr'" noch heute zum protestantischen Gottesdienste gesungen wird. Nicolaus Decius, welcher ums Jahr 1524 im Wolfenbüttelschen, später in Pommern lebte — selbst ein gewandter Harfenspieler, der zu seinen Liedertexten die Melodien setzte — hat diese Singweise dem Volksmunde entlehnt und den bekannten geistlichen Text dazu gedichtet. Die damalige Geistlichkeit suchte durch derartige Ausnahme beliebter Volksmusiken den Kirchengesang zu beleben und die Christenlehre bei den Bevölkerungsmassen zu vermitteln. Beide livländische Lieder, sowohl das plattdeutsche als das zweite satyrische, waren wohl vielleicht nach jener alten Melodie, jedenfalls für den Gesang gedichtet, wie die Schlussstrophen andeuten:

„De vns dyth leth hesst nye gesungen“ etc.

und

„Der vns diß Lidtlein hat erdacht,
Das hatt ein frecher Landtsknecht gemacht,
Von neuen hatt ers gesungen“ etc. *)

Noch ein anderes verwandtes Gedicht von 739 Versen

*) Das Spottlied ändert häufig die Reihenfolge,
fügt dem Schluss der Strophe auch wohl einen achten
Vers hinzu, der manchmal in eine bloße Wiederholung
„Das haben sie geschworen,
(ja) geschworen“
oder in Anklänge, wie:
„So muss sie herunder fallen
mit Schalle"
zusammenschrumpft.

in vierfüßigen Jamben und Daktylen rührt her von Hans von Taube, einem Inländischen Edelmann, der als Gefangener in Moskau zur Zeit Iwan Wassiljewitsch (1565) lebte, später als Rath an den Hof des Zaren gezogen ward. Es enthält eine „Kurtze vnnd Warhafftige Beschreibung Angsannck, Mittell vnd Endt Samvt allem Wandel, gebrauch, Sitten, leben und gewonhandt des Ordenns in Eifflandt wie die Regirtt vnd wiederumb apganngen“ etc.

War das Landsknechtlied in übermütiger Laune gesungen, die doch in manchen Dingen den wunden Fleck traf, war Taubens Reimgedicht, der als Landsasse sich gegen den Orden erzürnt, aus nicht ganz lauterer Quelle geflossen, so deckt das den 24. Dezember in Warschau geschriebene 785 Verse lange: „Kurtzweilich gesprech von Herr Johann Tauben vnd Ellert Kraussen widerkunfft aus der Moschkaw eines Postreuters vnnd Pasquillen“ die verdächtigen Umtriebe dieser Herren ohne Scheu aus.

In allen jenen Dichtungen weht die scharfe Luft des humoristisch-satyrischen Zeitalters der Rabelais, Brandt, Fischart und Rollenhagen, eine Lust, welche allein die Fäulnis der gesellschaftlichen und staatlichen Zustände der Zeit auszukehren vermochte.

In der Residenz des russischen Zaren hatte sich teils durch die ins Land berufenen deutschen Künstler und Gelehrten, teils durch die zahlreichen livländischen Gefangenen aller, namentlich der höheren, Stände geistiges Leben entwickelt, zu dessen Fortbildung die 1564 daselbst errichtete erste Druckerei das ihrige beitrug.

Der Livländer Timann Brackel, welcher um 1556 deutscher Pastor zu Dorpat war und beim Einfall der Russen im nämlichen Jahre gefangen durch Pleskau und Novgorod geführt worden war, errichtete in der großen Zarenstadt einen lutherischen Gottesdienst für die gefangenen Landsleute. Später aus der Gefangenschaft befreit, wurde Brackel aus Oesel, als auch hierher der Krieg sich zog, zu Antwerpen Prediger. An letzterem Orte gab er 1579 sein jetzt höchst seltenes Gedicht heraus: „Christlich Gespräch von der gravsamen Zerstörung in Livland durch die Moskowiter vom 58. Jahr her geschehen" etc. — Wie in diesem Gedichte die jammervollen Schicksale des uneinigen, verunsittlichten Livland und sein Unterliegen unter die Übermacht der aus dem Rohen sich entwickelnden russischen Herrschaft in lebhaften Farben sich wiederspiegeln, so finden wir in Gustav von Mengden, Freiherrn von Altenwoga (schwedischem Generalmajor, seit 1668 ältestem livländischem Landrat und Obersten der livländischen Adelsfahne, geb. 1625, gest. 1688) die religiöse Richtung seiner Zeit verkörpert. Er schrieb: „Der verfolgte, errettete und lobsingende David, d. i. alle Psalmen Davids in Reimen gefasst und aus denen bei der evangelischen Kirche gebräuchlichen Melodien eingerichtet," Riga, 1686. (Vergl. Wetzels Lebensbeschreibung der Liederdichter, Bd. IV. 322.) Außer diesen religiösen Liedern, die sich manchen unserer besten an die Seite stellen dürfen, finden sich in Mengdens Nachlasse einige poetische Versuche, namentlich plattdeutsche Scherzgedichte, von denen eines aus die schwedische Güterreductions-Commission, welche den livländischen Adel zu Grunde richtete, in Gadebusch II. 2. 239—245, ein anderes in Truhart's „Fama für Deutsch-Russland," 1807. IV. 1774—77 abgedruckt wurde. Von dem noch nicht Veröffentlichten wäre noch Manches der Vergessenheit zu entreißen. Gustav Mengden steht mit seinem religiösen Liede dem Felde der schlesischen Schule nahe, welche mit dem dreißigjährigen Kriege aus den Wirren der religiös-politischen Streitigkeiten hervorging.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Dichter in Russland