Lieder, Dichtung, Bühnen- und Passionsspiele

Hatte in der, Urzeit Orpheus die wilden Bewohner Griechenlands durch seine Laute gezähmt, so bändigte auch in Livland das Lied die heidnischen Esten und Letten. Als nämlich um die Wende des XII. und XIII. Jahrhunderts bei Berennung der Feste Beverin durch das übermächtige Heidenheer die geringe Schaar der Christen vom Kampfe ermüdet und verwundet an Rettung schon verzweifelte, stimmte ein frommer sang-geübter Mönch aus dem Walle zur Harfe ein Lied an, dass die Barbaren erstaunt aufhorchten, bald aber in Entzücken hingerissen wurden. Sie ließen vom Sturme ab, die Belagerung ward aufgehoben und viele Heiden nahmen die Taufe an. So mächtig wirkte die Kraft des Liedes.

Für die Verpflanzung dramatischer Dichtung und des Bühnenspiels dürfen wir eine noch ältere Jahreszahl ausweisen. Bald nach den ersten Besuchen, welche deutsche Kaufleute in Livland abgestattet hatten, war die mitgebrachte katholische, stets praktische Geistlichkeit bemüht, durch alle nur erdenklichen Mittel die Seelen der Heiden aus der Finsternis zu retten und wusste auf sinnreiche Weise bei den Ungläubigen das Interesse für christliche Religion zu wecken. Mit vielem ritterlichen Pompe wurden biblische Szenen, dramatisch zugestutzt, vor den versammelten Heiden aufgeführt. Der Ursprung jener Festdramen oder Mysterien, weil man in ihnen die Geheimnisse der Religion veranschaulichte, wird der frühesten christlichen Kirche zugeschrieben.*) Mit dem Christentum nach Deutschland und aus Deutschland nach Livland, von hier und aus Konstantinopel nach Russland verpflanzt, hatten sie schon im zwölften Jahrhundert glanzvolle Vervollkommnung und weite Ausbreitung erfahren. Diese Schauspiele wurden von den Geistlichen gedichtet, die auch die Rollen der heiligen Personen, wie Gott-Vater, Jesus, die Jünger und andere ähnliche, spielten, während das übrige oft bis aus mehre Hunderte steigende Personal der Gemeinde zur Darstellung überlassen blieb. Diese heiligen Spiele verfielen während der Reformations-Unruhen, wurden aber in neuer prachtvollerer Gestalt in den Jesuiten Schulen und Stiften (vergl. S. 93 Ignazius Feßlers Lebensskizze) aufgefrischt. Die von den Städtern bald vergessenen Mysterien lebten indes bei den einfältig-frommen Landleuten in den friedlichen Hochgebirgstälern der Schweiz, Tirols, Steiermarks, Salzburgs, Oberbayerns und Schwabens bis zum Schlusse des vorigen Jahrhunderts fort, und sind erst in dem unsrigen fast gänzlich ausgestorben. (Zu Mittenwalden, in Oberammergau, wird nach August Lewalds und Eduard Devrients Mitteilung noch heute das Passionsdrama alle zehn Jahre einmal aufgeführt.)


*) Wie auch bei den Indern und Griechen das Schauspiel in seinen frühesten Anfängen aus den mit Tanz verbundenen Gesängen zur Feier großer Götterfeste hervorging. Wir besitzen noch im Gitagovinda aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert n. Chr. einen solchen dramatischen Festzug. Später trat an die Stelle des Gesanges Declamation, oder beide wechselten wie in der modernen Oper ab. In Indien werden noch heute improvisierte Darstellungen aus dem Leben Vischnus oder Ramas aufgeführt, die an unsere mittelalterlichen Mysterien oder deren Travestie, die Fastnachtsspiele, erinnern.

Ein solches Spiel war es, das Ritter und Geistliche zu Riga vor dem staunenden Heidenvolke aufführten. Unähnlich dem modernen Theaterpublikum, dem das nil admirari zur Regel geworden ist, ergriffen die versammelten leichtgetäuschten Zuschauer die Flucht, als die von Simsons Eselskinnbacken getroffenen Philister tot zu Boden stürzten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Dichter in Russland