Deutsche Dichter in Russland
Studien zur Literaturgeschichte
Autor: Sivers, Jegór von (1823-1879) livländischer Dichter, Literaturkritiker und Landwirt, Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russen und Deutsche, Russland und Deutschland, deutsche Dichter, Kulturgeschichte, Literaturgeschichte, Sternstunden, Schicksalsstunden, deutsch-russische Beziehungen
An Fräulein Henriette Solmar in Berlin.
So abgeschieden mein jetziger Aufenthalt von den Kreisen westeuropäischen Geisteslebens erscheinen mag, so wenig stehe ich außer Verbindung mit jenen entfernten Zirkeln, so wenig finde ich mich abgeschlossen von den Vorzügen höher gebildeten Umganges, so wenig entbehre ich die Genüsse, welche Kunst und Literatur zu bieten vermögen. Brieflicher Verkehr mit entfernten Freunden nähert mich den Abwesenden, nachbarlicher Umgang mit der geistreichen Frau von Bock, welche hierher aus dem Getümmel der bewundernden Welt sich zurückgezogen, verschafft mir den seltensten Kunstgenuss; und die Muße ländlichen Lebens gewährt Stimmung und Raum für literarische Studien, Unterhaltung und Tätigkeit.
Gestatten Sie, mein Fräulein, dass ich in dankbarer Erinnerung jener Stunden, die ich bei Ihnen im Kreise geistig angeregter Männer und Frauen zubrachte, die Früchte meiner Einsamkeit — einen Beitrag zur Geschichte der Literatur und Bildung, überreiche, wie er sich mir aus den Beziehungen des deutschen Volkes zum russischen Kaiserreiche gestaltet hat. — Von ausgezeichneten Persönlichkeiten, zu denen ich in Ihrem Hause in dauernde nähere Beziehung trat, bleibe die Varnhagen von Enses für alle Zeit als die liebste und bedeutsamste unvergesslich. Seine Art der Auffassung und Mitteilung machte auch bei mündlichem Verkehr in bekannter Weise sich geltend. Unter dem Gehen und Kommen mannigfaltiger Gäste aus Heimat und Fremde schweift eifriges Gespräch über die geselligen politischen, wissenschaftlichen literarischen Ereignisse des Tages und vertieft sich in die Ergebnisse der Vergangenheit, um als endlichen Gewinnst allgemein menschliche Resultate aus den Einzelfällen und Persönlichkeiten empor zu heben.
Während des Streites, welcher gegenwärtig zwischen dem überreifen Westen und dem erst nach Ausbildung strebenden Osten Europas sich erhoben, mag es demjenigen, welcher trotz der politischen Parteiungen unbefangen gemeinsam-humane Beziehungen im Auge behielt, doppelt interessant erscheinen, die Spuren der Bildung in Russland vom frühesten Anfange bis auf die Gegenwart zu verfolgen.
Nachstehende Blätter, welche als eines Mittels hierzu insbesondere der deutschen Dichtung sich bedienen, geben sich weder für vollständig, noch für vollendet; wollen aber diejenige Nachsicht beanspruchen, welche allen Geistes-Erzeugnissen zugestanden werden darf, die unter dem Einfluss eigentümlicher, nicht zu beseitigender Verhältnisse ihren Ursprung nehmen.
Planhof bei Wolmar in Livland, am 16/28 Septbr. 1854.
So abgeschieden mein jetziger Aufenthalt von den Kreisen westeuropäischen Geisteslebens erscheinen mag, so wenig stehe ich außer Verbindung mit jenen entfernten Zirkeln, so wenig finde ich mich abgeschlossen von den Vorzügen höher gebildeten Umganges, so wenig entbehre ich die Genüsse, welche Kunst und Literatur zu bieten vermögen. Brieflicher Verkehr mit entfernten Freunden nähert mich den Abwesenden, nachbarlicher Umgang mit der geistreichen Frau von Bock, welche hierher aus dem Getümmel der bewundernden Welt sich zurückgezogen, verschafft mir den seltensten Kunstgenuss; und die Muße ländlichen Lebens gewährt Stimmung und Raum für literarische Studien, Unterhaltung und Tätigkeit.
Gestatten Sie, mein Fräulein, dass ich in dankbarer Erinnerung jener Stunden, die ich bei Ihnen im Kreise geistig angeregter Männer und Frauen zubrachte, die Früchte meiner Einsamkeit — einen Beitrag zur Geschichte der Literatur und Bildung, überreiche, wie er sich mir aus den Beziehungen des deutschen Volkes zum russischen Kaiserreiche gestaltet hat. — Von ausgezeichneten Persönlichkeiten, zu denen ich in Ihrem Hause in dauernde nähere Beziehung trat, bleibe die Varnhagen von Enses für alle Zeit als die liebste und bedeutsamste unvergesslich. Seine Art der Auffassung und Mitteilung machte auch bei mündlichem Verkehr in bekannter Weise sich geltend. Unter dem Gehen und Kommen mannigfaltiger Gäste aus Heimat und Fremde schweift eifriges Gespräch über die geselligen politischen, wissenschaftlichen literarischen Ereignisse des Tages und vertieft sich in die Ergebnisse der Vergangenheit, um als endlichen Gewinnst allgemein menschliche Resultate aus den Einzelfällen und Persönlichkeiten empor zu heben.
Während des Streites, welcher gegenwärtig zwischen dem überreifen Westen und dem erst nach Ausbildung strebenden Osten Europas sich erhoben, mag es demjenigen, welcher trotz der politischen Parteiungen unbefangen gemeinsam-humane Beziehungen im Auge behielt, doppelt interessant erscheinen, die Spuren der Bildung in Russland vom frühesten Anfange bis auf die Gegenwart zu verfolgen.
Nachstehende Blätter, welche als eines Mittels hierzu insbesondere der deutschen Dichtung sich bedienen, geben sich weder für vollständig, noch für vollendet; wollen aber diejenige Nachsicht beanspruchen, welche allen Geistes-Erzeugnissen zugestanden werden darf, die unter dem Einfluss eigentümlicher, nicht zu beseitigender Verhältnisse ihren Ursprung nehmen.
Planhof bei Wolmar in Livland, am 16/28 Septbr. 1854.
Inhaltsverzeichnis
Liv- und Estland nach ihrem Anschluss an Schweden
Geschichtliche Einleitung.
Versuchen wir die Entwicklung der deutschen schönen Literatur in ihren Einzelerscheinungen, so weit Russland und insbesondere seine Ostseeprovinzen sich beteiligten, von den ersten Anfängen bis aus die Gegenwart zu verfolgen, so werden wir diese, wie jede Geschichte der Schriftwelt, nur in ihrem Zusammenhange mit der — Geschichte der Gesellschaft und ihrer Bildung — und in Verbindung mit der Staatengeschichte verstehen, namentlich die Vorgänge in Liv-, Est- und Kurland nur im Zusammenhange mit den Ereignissen in Russland und in Deutschland würdigen können.
Russland, anfänglich durch den Verkehr mit dem griechischen Kaisertum gefördert, später durch die 240 jährige Mongolenherrschaft im Fortschritte aufgehalten, lernte erst von den Norddeutschen durch ihre Entdeckung Livlands den Weg kennen, auf dem der Segen westeuropäischer Kultur ihm zugeführt werden sollte. — Die Ostseeprovinzen, denen die Mittlerrolle sich darbot, sind seitdem, neben ihrer staatlichen und natürlichen (geographischen) Abhängigkeit vom russischen Festlandgebiete, in stetem geistigem Wechselverkehr mit dem deutschen Mutterlande geblieben, wie noch heute nach 300jährigem Ausscheiden aus den politischen Banden, die es an Deutschland knüpften, und nach 150 jähriger Vereinigung mit dem russischen Kaisertum, dessen Schutz ihm zu Teil ward, das geistige Leben in Liv-, Est- und Kurland blut- und wahlverwandt ist mit dem in Deutschland. Versorgt uns Russland als Amme mit leiblicher Speise, bleibt doch allezeit Deutschland die Mutter, die uns mit geistiger Nahrung erzieht. —
Die deutsche Dichtersprache hatte bereits die ersten rohen Anfänge, deren Ammianus Marcellinus, Tacitus, Diodor, Strabo und Vegetius erwähnen, durch Ulfilas Bibelwerk überwunden; Chlodwigs vereinigende Herrschaft hatte in der fränkischen Mundart zuerst den Grund literarischer Volksbildung gelegt, welcher durch Karl des Großen Bemühungen sich vertiefte und befestigte; Deutschland hatte unter den Königen des sächsischen Hauses einer friedlicheren Entwicklung sich zugewandt; Ottfrieds Evangelienharmonie, das Hildebrandt- und Ludwigslied waren aufgetaucht, das Zeitalter der Minnesänger war angebrochen; während eines 300jährigen Zeitraums hatte die Sprache an Weichheit gewonnen, und unter den schwäbischen Kaisern, aus dem Stamme der Hohenstaufen, war der fränkische Dialekt nach und nach in den bildsameren, formreicheren allemannischen übergegangen, der nun als Hof- und Büchersprache sich geltend machte: da endlich fügten sich die Ostseegebiete, von den Deutschen mit Feuer und Schwert und durch das Christentum unterworfen, als äußerste Ringe der Kette an, die für alle Zeit den Ruhm des deutschen Namens an sich fesseln, und wie durch elektro-magnetische Strömung heil- und fruchtbringend weiter und weiter ausströmen sollte. —
Versuchen wir die Entwicklung der deutschen schönen Literatur in ihren Einzelerscheinungen, so weit Russland und insbesondere seine Ostseeprovinzen sich beteiligten, von den ersten Anfängen bis aus die Gegenwart zu verfolgen, so werden wir diese, wie jede Geschichte der Schriftwelt, nur in ihrem Zusammenhange mit der — Geschichte der Gesellschaft und ihrer Bildung — und in Verbindung mit der Staatengeschichte verstehen, namentlich die Vorgänge in Liv-, Est- und Kurland nur im Zusammenhange mit den Ereignissen in Russland und in Deutschland würdigen können.
Russland, anfänglich durch den Verkehr mit dem griechischen Kaisertum gefördert, später durch die 240 jährige Mongolenherrschaft im Fortschritte aufgehalten, lernte erst von den Norddeutschen durch ihre Entdeckung Livlands den Weg kennen, auf dem der Segen westeuropäischer Kultur ihm zugeführt werden sollte. — Die Ostseeprovinzen, denen die Mittlerrolle sich darbot, sind seitdem, neben ihrer staatlichen und natürlichen (geographischen) Abhängigkeit vom russischen Festlandgebiete, in stetem geistigem Wechselverkehr mit dem deutschen Mutterlande geblieben, wie noch heute nach 300jährigem Ausscheiden aus den politischen Banden, die es an Deutschland knüpften, und nach 150 jähriger Vereinigung mit dem russischen Kaisertum, dessen Schutz ihm zu Teil ward, das geistige Leben in Liv-, Est- und Kurland blut- und wahlverwandt ist mit dem in Deutschland. Versorgt uns Russland als Amme mit leiblicher Speise, bleibt doch allezeit Deutschland die Mutter, die uns mit geistiger Nahrung erzieht. —
Die deutsche Dichtersprache hatte bereits die ersten rohen Anfänge, deren Ammianus Marcellinus, Tacitus, Diodor, Strabo und Vegetius erwähnen, durch Ulfilas Bibelwerk überwunden; Chlodwigs vereinigende Herrschaft hatte in der fränkischen Mundart zuerst den Grund literarischer Volksbildung gelegt, welcher durch Karl des Großen Bemühungen sich vertiefte und befestigte; Deutschland hatte unter den Königen des sächsischen Hauses einer friedlicheren Entwicklung sich zugewandt; Ottfrieds Evangelienharmonie, das Hildebrandt- und Ludwigslied waren aufgetaucht, das Zeitalter der Minnesänger war angebrochen; während eines 300jährigen Zeitraums hatte die Sprache an Weichheit gewonnen, und unter den schwäbischen Kaisern, aus dem Stamme der Hohenstaufen, war der fränkische Dialekt nach und nach in den bildsameren, formreicheren allemannischen übergegangen, der nun als Hof- und Büchersprache sich geltend machte: da endlich fügten sich die Ostseegebiete, von den Deutschen mit Feuer und Schwert und durch das Christentum unterworfen, als äußerste Ringe der Kette an, die für alle Zeit den Ruhm des deutschen Namens an sich fesseln, und wie durch elektro-magnetische Strömung heil- und fruchtbringend weiter und weiter ausströmen sollte. —