Kapitel 11 - Christian Holzwart - nach dem Neuen Pitaval.

Christian Holzwart

Am 29. Dezember 1845, in der Morgenfrühe, kam ein Mann von der Sudenburg, einer Vorstadt Magdeburgs außerhalb der Ringmauern, und passierte in Eile durch das eben geöffnete Tor. Er war sonderbar anzusehen; ein Schlafrock hing über seinem Körper, er war ohne Stiefel, ohne Strümpfe, ohne Kopfbedeckung, und Haar und Bart waren von Flammen versengt. Seine Schritte waren ungleich und zeugten von großer Ermattung. Bei einem Hause an der Johanniskirche, wo der Wundarzt Koch wohnte, machte er endlich halt und zog hastig die Klingel. Die Straßen waren noch leer, die Leute schliefen noch, und erst auf sein wiederholtes Klingeln wurde ihm das Tor aufgemacht. Er taumelte in das Wohnzimmer und fiel ohnmächtig auf das Sofa nieder. Der Chirurgus Koch und seine Frau, die ihm beide erschrocken entgegengetreten waren, fragten gleichzeitig, was geschehen sei und von wo er in einem solchen Aufzug herkomme. Der Wundarzt nahm das Licht vom Tisch, beleuchtete ihn und sah, daß nicht nur sein sonst wohlgepflegter Bart verkohlt war, sondern daß auch seine Hände blutig waren. „Um Gottes willen, Holzwart, was ist geschehen?“ fragte er entsetzt, doch der Mann stammelte nur verworrene Antworten, sprach von Flammen und daß seine Familie, die Frau und seine fünf Kinder wohl erstickt seien. Der Wundarzt schickte seinen Sohn und den Lehrer Zimmermann sofort nach der Sudenburg hinaus, und sie kamen mit der Unglücksbotschaft zurück, daß man dorten sechs Leichen aus dem Schutt des niedergebrannten Hauses geschafft habe. Es war auch schon eine amtliche Anzeige eingegangen, und die Kriminaldeputation fand sich bei dem Wundarzt Koch ein, um von Holzwart Auskunft über die furchtbare Katastrophe zu erhalten.


Sie trafen Holzwart krank und hinfällig durch den erlittenen Blutverlust, aber doch imstande, ihren Fragen Genüge zu leisten. Er erzählte, daß ihm in der Nacht ein Mensch in seinen Verkaufsladen eingetreten sei und ihm zwei Stiche in die Brust versetzt habe; er sei mit dem Menschen ins Ringen gekommen, habe ihn verfolgt, habe neue Stiche erhalten, sei dann umgekehrt und habe sein Haus in Flammen stehend gefunden. Er sei zurückgewichen und fast ohne Besinnung in die Stadt gelaufen, und da sei er vor dem Kochschen Hause angelangt.

Das alles klang weniger wie Lüge, als wie die unzusammenhängenden Reden eines Fiebernden. Die Kleidungsstücke, die Holzwart am Leibe hatte, waren nicht durchstochen, und die Schnitte am Hals sprachen eher für einen Selbstmordversuch als für Verwundungen von fremder Hand. Das Haus war nicht nieder-, sondern ausgebrannt; Türen und Fenster boten den Anblick einer gewaltsamen Zerstörung. Die verkohlten und verstümmelten Leichname der Frau, des Sohnes und der vier Töchter wurden in dem Zimmer neben dem Laden gefunden, und es erwies sich bald, daß an ihnen ein zwiefaches Verbrechen begangen worden war. Die Körper zeigten deutliche Spuren der Ermordung; ihr Blut färbte die Dielen der Zimmer, tränkte die Polster des Sofas, hing in schweren Tropfen noch ungetrocknet an den Stühlen, hatte die Geschenke des Christabends, die Spielereien der unschuldigen Kleinen überspritzt.

Sollte also der Vater dieser schönen, gesunden und wohlgeratenen Kinder ihr Mörder sein? Aus welchem Grund? Aus Hass? Aus Habsucht? Aus Not? Hätte er sie gehasst, so wäre es ja leichter gewesen, sich von ihnen zu entfernen. Die Welt ist groß, und es hat schon mancher die ihm lästig gewordenen Familienbande abgeschüttelt, seine Kinder der Willkür des Geschicks preisgegeben und mit leichtsinnigem Mut in der Fremde Vergessenheit seiner Pflichten gesucht. Auch waren die Kinder schon über die Hilflosigkeit der ersten Jugend hinaus; die älteste Tochter war sechzehn, die zweite vierzehn, die dritte zehn, der Sohn neun Jahre, und nur das jüngste Kind, ein Mädchen im Alter von vier Jahren, stand in der ersten, ganz hilfsbedürftigen Jugend. Das Gerücht, daß die Kinder hätten erben sollen, erwies sich als falsch. Sie waren arm, hatten nie etwas besessen und auch keine Hoffnung auf Besitz. Dass sich die Familie in Not befand, war gewiss. Man wusste, daß Holzwarts Verhältnisse von Jahr zu Jahr zurückgegangen seien, ja daß er ein vollständig ruinierter Mann und sozusagen am Ende seiner Bahn angekommen war. Dies konnte aber keinen ausreichenden Anlass bilden, fünf Kinder und eine Frau zu ermorden und zu verbrennen. Schon nach den ersten Tagen nannte man ihn Mörder und Mordbrenner, und daß er selbst tödlich verwundet im Gefängnisse lag und nach den Berichten der Ärzte einem Verhör noch nicht ausgesetzt werden durfte, glaubte niemand. Woher sollten ihm die Wunden gekommen sein? Sie hätten ihn in ein tragisches Licht gestellt, und man wollte von ihm nur als von einem verworfenen Mörder wissen. Was er gelitten und noch zu leiden hatte, darum kümmerte sich kein Mensch. Aber der Tag kam, wo viele in sich gingen.

Am Morgen des sechsten Tages begab sich der Untersuchungsrichter zu ihm ins Gefängnis. Der Arzt hatte seinen Zustand soweit gebessert gefunden, daß eine schonende Vernehmung möglich war. Doch lag er noch im Bette, sein Äußeres zeigte große Erschöpfung. Nachdem ihn der Richter mit einigen Fragen über sein körperliches Befinden hingeleitet hatte, erkundigte er sich, ob er sich zu erinnern vermöge, was für Aussagen er am Morgen seiner Verhaftung gemacht. Ohne Zögern bejahte Holzwart, fügte aber sogleich hinzu, daß man ihm noch einige Tage Zeit gönnen möge, dann würde er sich vollständig über die ganze Begebenheit aussprechen. Der Richter wendete ein, es wäre besser, wenn er sich sogleich ausspräche, namentlich wenn er etwas auf dem Herzen hätte, und machte ihm bemerklich, daß er in seinem Richter nicht den kalten Menschen suchen solle, der mit Nichtachtung auf den Gesunkenen herabblicke, sondern einen Teilnehmenden, der mit schmerzlichem Gefühl die Herzen der Verbrecher auszuforschen beflissen sei. Ganz ruhig richtete er daran die einfache Frage: „Haben Sie sich vergangen?“ Holzwart richtete sich von seinem Lager auf, stützte sich auf den rechten Arm und sah den Richter stumm an. „Sind Sie schuldig?“ setzte der Richter hastig hinzu. Holzwart legte sich zurück, sein Auge ruhte fest auf dem Gesicht des Richters, und eine tiefe Bewegung malte sich in seinen Mienen, als er antwortete:
„Ja, ich bin schuldig.“

Mit dieser Erklärung mußte sich der Richter vorerst begnügen, wenn er das Leben des Gefangenen nicht in Gefahr bringen wollte, und erst nach mehreren Tagen schritt er zu einer eindringlicheren Forschung. Holzwart zeigte von der Stunde ab ein unbedingtes Vertrauen zu seinem Richter, und seine Aussagen stimmten so völlig mit allen Ermittlungen überein, daß man seine Wahrhaftigkeit nirgends in Zweifel ziehen konnte.

„Ja, ich bin schuldig,“ sagte er mit festem und ruhigem Ton; „es ist aber mein Verbrechen nicht das Werk eines augenblicklichen Einfalls. Jahrelang hatte ich erfahren müssen, daß ein Unglücksstern über mir und meiner Familie war. Diese Überzeugung hat mich geleitet, als ich die Hand gegen die Meinen erhob. Kein andrer Grund als die Liebe hätte mich veranlassen können, eine so schreckliche Tat zu begehen. Die Liebe gab mir die Kraft, sie alle, die nach meiner Einsicht bald hilflos und erniedrigt dastehen würden, auf die schnellste und schmerzloseste Weise aus der Welt zu schaffen. Sie haben unbewusst und froh die letzten Minuten ihres Daseins herannahen sehen. Ich begann die Tat mit meiner Frau und endete sie mit meiner jüngsten Tochter.“ Bei dieser Erklärung durchzuckte ein furchtbarer Krampf den unglücklichen Mann, er presste die Augen zu und war unfähig, seine innerliche Erregung mit der Kraft zu bewältigen, die er bis dahin gezeigt hatte. Erst am nächsten Tage konnte man das Verhör fortsetzen.

„Ich bin an Entbehrungen gewöhnt,“ sagte er, „aber zur Niedrigkeit bin ich nie hinabgesunken, habe mich nach meiner Denkungsweise immer fern von Gemeinem gehalten, und da es zuletzt mit mir so schlecht stand, daß nur Wohltaten und Almosen mir und meiner Familie das Dasein fristen konnten, sah ich keinen anderen Ausweg. Wenn mir auch nur der entfernteste Hoffnungsstrahl geleuchtet hätte, würde ich nicht die Kraft zu der Tat gefunden haben. Mit dem ersten Januar trat der Zeitpunkt ein, wo wir als Bettler vor der Welt dastanden; der Entschluss, den ich schon lange in mir trug, mußte also vor dem ersten Januar ausgeführt werden. Je näher mir die schauerliche Notwendigkeit trat, desto mutloser wurde ich, bis endlich beim Anblick des letzten Talers, den ich vor mir liegen sah, die Gewalt der Not entschied. Jetzt mußte ich.“

Dieser letzte Taler, von dem er sprach, war in dem Schutt der verbrannten Wohnung wirklich gefunden worden. Er war geschwärzt und als Münze kaum zu erkennen.

Der Richter wendete ein, daß er doch willens gewesen sei, nach Magdeburg zu ziehen und sogar schon ein Quartier für hundertdreißig Taler gemietet habe; wie das mit seinem Vorsatz, die Seinen durch Mord gegen Not zu schützen, zu vereinen sei. Er antwortete, dies sei nur zur Beruhigung seiner Frau geschehen; er habe nie geglaubt und nie die Absicht gehabt, das Quartier wirklich zu beziehen. „Meine Existenzmittel waren verbraucht, ich sollte bedeutende Zahlungen leisten, und es lagen nur noch drei Tage vor mir, der Sonntag, der Montag, und der Dienstag. Mein Entschluss schwankte schon seit dem Weihnachtsfeste; von einem Tag zum anderen schob ich die Ausführung hinaus. Ich hatte schon überlegt, ob ich nicht allein aus der Welt gehen sollte; mir war dann wohl nach dem fürchterlichen Kampf, aber ihnen? Ich sah sie in der Armut, der Gemeinheit und dem Laster verfallen. Nein, zusammen aus der Welt, zusammen in den Frieden. Am Sonntag erhob sich der Gedanke in mir in seiner ganzen Stärke. Um neun Uhr machte ich den Verkaufsladen zu. Meine Familie hielt sich gewöhnlich in dem Zimmer hinter dem Laden auf, ich hatte meine Wohnung daneben. Ich ging aus meiner Kammer durch den Laden und rief meine Frau. Sie folgte mir in mein Zimmer, und dort gab ich ihr einen Brief meines Bruders zu lesen. Sie saß mit dem Rücken gegen mich gewendet, ich ergriff die Axt, die ich mir bereitgestellt hatte, und schlug ihr den Schädel und die Schläfen ein. Sie war augenblicklich tot und hatte auch nicht die leiseste Ahnung ihres nahen Endes gehabt. Ich legte die Leiche auf mein Sofa, wo schon mein Bett gerichtet war, doch so, daß es den Kindern nicht auffallen konnte. Dann ging ich wieder hinüber und holte meine älteste Tochter. Unter dem Vorwand, daß ich ihr etwas diktieren müsse, was sie mir aus der Apotheke holen sollte, gebot ich ihr, sich auf denselben Stuhl zu setzen, auf dem ihre Mutter gesessen war. Ich diktierte ihr, ich weiß nicht ob Kremortartari oder sonst so etwas; in dem Augenblick, wo sie sich über den Tisch bückte, schlug ich ihr ebenfalls den Schädel ein. Sie endete wie ihre Mutter ohne ein Schmerzgefühl. Ich trug die Leiche über den Flur in die Küche, und zur Sicherheit schnitt ich mit meinem Rasiermesser die Halsmuskeln durch. Dann rief ich die zweite Tochter und tötete sie auf dieselbe Weise, auf demselben Stuhl, mit demselben Beil. Die übrigen drei Kinder erschlug ich in ihrer Schlafkammer, wo sie in ihren Betten lagen und schliefen. Allen schnitt ich die Kehle zur Vorsicht durch, damit sie auf keine Weise noch einen Lebensfunken in sich spüren und Schmerz empfinden sollten. Jetzt war das Werk vollbracht und mir war leicht. Nur ich fehlte noch, nur ich und alles war gut.“

Er erzählte nun, wie er die Betten angezündet, sich daneben hingesetzt und seinen Hals durchschnitten habe. Aber er starb nicht, er atmete weiter. Sein Arm erschien ihm plötzlich wie gelähmt und zurückgehalten. An Mut und Entschlossenheit habe es ihm nie gefehlt; hatte er bis dahin Kraft bewiesen, so mußte es ihm doch auch gelingen, sein eigenes Leben zu zerstören. Er versetzte sich noch zwei Stiche in die Brust; es war umsonst. Sein Blut floss, aber das Leben fühlte er nicht schwinden. Von diesem Moment trat ein Zustand bei ihm ein, über den er keine Rechenschaft geben konnte. Er wusste nicht, wie lange er bei den Leichen gewesen, der Qualm, der sich verbreitete, trieb ihn schließlich auf und hinaus. Es war ihm, als fliehe ihn der Tod, als müsse er den Tod verfolgen. Du stirbst nicht, rief es in ihm, du kannst nicht sterben. Er lief fort, weg- und steglos, irrte lange durch einen Garten und kam endlich an das Haus des Wundarztes Koch.

Der Richter fragte: „Was erwarten Sie denn nach einer solchen Tat?“ Holzwart schaute mit einem heiteren Blick empor und antwortete ohne Zaudern: „Den Tod erwarte ich. Mit Freuden erwarte ich ihn, ich wollte ihn mir selbst geben, aber es ist mir leider nicht gelungen.“

Der Richter nennt Holzwart einen ungewöhnlichen Menschen, der sich meist gewählt ausdrückte und bisweilen sogar in ein gewisses Pathos verfiel. Er war groß und von stattlichem Körperbau. Sein Gesicht war voll Ruhe, sein Blick frei, sprechend und sanft.

Im Publikum erhoben sich Stimmen, die die Liebe zu den Seinigen in Zweifel stellten. Es wurde gesagt, er habe seine Kinder mit großer Strenge behandelt und barbarische Züchtigungen über sie verhängt. Bei näherer Beleuchtung verschwanden diese Anklagen. Was den Schein von Härte hatte, war Konsequenz gewesen, und es erwies sich auch, daß Holzwart von den Pflichten eines Vaters ganz andere Begriffe gehabt hatte als mancher ehrbare Bürger. Man erinnerte sich eines Aufsatzes, den er viele Jahre vorher in der Magdeburger Zeitung hatte drucken lassen und worin er die Unerlässlichkeit und heilsame Folge strenger Zucht betont hatte. Darüber waren alle Zeugen einig, daß es keine artigeren und besseren Kinder gegeben habe als Holzwarts Kinder, insbesondere das jüngste sei ein höchst anmutiges Geschöpf gewesen, der Liebling des Vaters, wurde gesagt. Dies erklärte auch die tiefe und mächtige Bewegung, die ihn durchzittert hatte, als er bekannte: „Das jüngste Kind war das letzte, das ich tötete.“

Der Fleischer Wothge, der Holzwart oft Beistand in seinem Geschäftsbetrieb gewesen ist, bekundete die bemerkenswerte Tatsache, daß Holzwart nicht fähig gewesen sei, ein Schwein zu schlachten. Wenn er dabei behilflich sein sollte, so bebte er vor innerer Aufregung und Beklemmung. „Er war überhaupt ein sonderbarer Mann,“ äußerte sich dieser Zeuge; „ich kann mich darüber nicht so ausdrücken, wie ich möchte, aber es scheint mir, als hätte er sich Vorbilder nach Büchern zum Muster aufgestellt. Ich habe ihn von Abd-el-Kadr, von Faust, von Ibrahim Pascha mit Lebendigkeit und Begeisterung sprechen hören. Das waren seine Leute. Er meinte immer: Großartig sterben müsse der Mensch.“

Und weiter erzählte Wothge: „Im vergangenen Jahre, als das fürchterliche Gewitter über uns stand, schlachtete ich eines Abends um elf Uhr bei ihm. Mitten unter dem schauerlichen Donner sagte er zu mir: ›Ich wollte, alles wäre hin; was ich auch anfange, das Unglück ist immer hinter mir her.‹ Es war eine oftmals wiederholte Rede von ihm: ›Man muss nie müssen, sondern nur wollen. Aber alle im Staate müssen, nur einer will, das ist der König.‹ Ein andermal fragte er mich über Glaubenssachen, und als ich ihm entgegnete, ich glaubte das, was im Katechismus stehe, rief er: ›Dann sind Sie ein Tor!‹ und ging von mir fort. Er war übrigens ein sehr reeller Mann, wusste sich in Respekt zu setzen und führte immer durch, was er sich vorgenommen hatte. ›Bricht’s, so bricht’s‹, pflegte er zu sagen. Seine Lieblingsbeschäftigung war das Schachspielen. Drei Freunde aus Magdeburg haben ihn öfters besucht, bloß um mit ihm Schach zu spielen. Eines Tages kam er auf sein Elternhaus zu sprechen, und da erzählte er mir, daß zwischen ihm und seinem Vater oft wilde Szenen vorgekommen seien. Einmal bei einem Streit habe sein Vater ihm geflucht, und von diesem Augenblick an sei sein Glücksstern untergegangen.“

Holzwarts Bruder erklärte dessen Vermögensverfall aus unglücklichen Konjunkturen und bekräftigte, daß er mit redlichem Willen und unermüdlichem Eifer stets danach gestrebt habe, sich und seine Familie zu ernähren. Er sei niemals arbeitsscheu gewesen, sondern es habe immer den Anschein gehabt, als solle seine Tätigkeit vergeblich sein. Er schrieb ihm eine Anlage zum Tiefsinn zu, die er vom Vater ererbt hatte. Es sei ihm nicht möglich gewesen, sich an einen Menschen zutraulich anzuschließen. In Güte hätte man aber alles von ihm erlangen können; wenn er aber Widerstand gefunden, wo er im Recht zu sein geglaubt, oder wenn er sich verkannt gesehen, habe ihn der heftigste Zorn ergriffen.

„Er hatte einen streng rechtlichen Sinn und ein feines Gefühl,“ äußerte sich weiterhin der Bruder bei einer Zeugenvernehmung. „Es lag ein Stolz in seinem Charakter, der es ihm unerträglich machte, die Hilfe anderer in Anspruch nehmen zu müssen. Ebenso unerträglich war ihm der Gedanke, seine Kinder, die er sehr liebte, nach seinem Tode dem Mitleid fremder Leute preisgegeben zu sehen. Außerdem hatte er die Idee gefaßt, daß seinen Sohn ein ebenso unglückliches Dasein erwarte, wie er selbst es geführt. Wie großmütig und redlich seine Denkungsart war, zeigte sein Benehmen, als er vor einigen Jahren in der Lotterie spielte. Bei der Klasseneinzahlung bot er in einer Anwandlung froher Laune und gewiss in der Überzeugung, daß er nichts gewinnen werde, seiner Schwägerin die Hälfte des Gewinnes an. Das Los kam in der letzten Ziehung mit einem Gewinn von tausend Talern heraus. Holzwart hielt sich seinem Versprechen gemäß für verpflichtet, der Schwägerin die Hälfte davon zu zahlen, obgleich sie kein Recht geltend machen und die Abmachung nur für Scherz angesehen werden konnte. Er blieb dabei, er müsse das Geld teilen, weil er es versprochen habe, und er bräche niemals sein Wort. Als ich ihm vor Jahresfrist aus einer Verlegenheit half, sagte er bewegt zu mir: „Glaube mir, es wird mir schwerer, dein Geld zu nehmen, als es dir vielleicht ist, es zu geben.“

Die Geschichte seines Lebens, die Holzwart vor dem Richter erzählte, trug das unverkennbare Gepräge der Wahrheit und folgt hier mit seinen eigenen Worten.

„Mein Vater hatte mich zum Seifensieder bestimmt, und da ich nun einmal nicht studieren sollte und durfte, war mir das recht. Mein Vater hatte mich so sehr an Gehorsam gewöhnt, daß es mir nicht eingefallen wäre, mich gegen seinen Befehl zu sträuben. Die Wahl des Meisters war nicht günstig für mich. Ich merkte bald, daß ich unter solcher Anleitung nichts vom Geschäft begreifen würde. Ich klagte es meinem Vater, daß mich der Lehrherr mehr zu Hausarbeiten als zum Seifensieden verwende, doch dies wurde nicht von ihm beachtet. Auch meine Mutter hörte nicht eher auf diese Klagen, als bis es zu spät war. Das Lehrgeld war weggeworfen, und nach dreijähriger Lehrzeit ging ich als Geselle aus diesem Geschäft nicht um ein Haar klüger, als ich hingekommen war. Ich trat die Wanderschaft an, fand natürlich wegen meiner Unbrauchbarkeit nirgends lange Arbeit, und um nicht in Not zu geraten, kehrte ich in die Heimat zurück. Fürs erste blieb ich im elterlichen Hause, wo man eine wünschenswerte Unterstützung an mir fand. Dann versuchte ich es noch einmal in Eisleben als Volontär in einem Seifensiedergeschäft, doch wurde dies meinen Eltern mit der Zeit zu kostspielig, ich gab die Seifensiederei für immer auf und blieb nun fünf Jahre in meines Vaters Geschäft. Ich lebte dort in drückenden, sehr unangenehmen Verhältnissen, die vornehmlich durch meines Vaters Schwäche, mit den Dienstmädchen allzu vertraulich umzugehen, herbeigeführt wurden. Mein Vater behandelte mich sehr nachlässig, was bei meinem ohnehin reizbaren Ehrgefühl eine bedeutende Wirkung auf mich ausübte. Im Hause meiner Eltern befand sich auch meine nachherige Frau; nicht eigentlich als Ladenmamsell, sondern mehr aus Gefälligkeit gegen meine Mutter, die die ganze Last des ausgebreiteten Schmälzergeschäfts allein zu tragen hatte. Ich gewann das Mädchen lieb und wünschte sie zu heiraten. Im Grunde meines Herzens trieb mich mehr die Unerträglichkeit meiner Lage als die Sehnsucht nach der Ehe zu dem Eifer, womit ich meine Eltern um Gründung eines Haushalts für mich anging. Lange sträubten sie sich gegen die Verbindung, endlich willigten sie ein und gaben mir hundert Taler Gold zur Errichtung eines Materialladens; meine Frau brachte mir ungefähr ebensoviel dazu, und mit diesem Kapital begann ich voller Hoffnung mein selbständiges Leben und meine Ehe. Die Kaufleute gewährten mir willig und gern Kredit, so sah ich trotz des geringen Vermögens einer günstigen Schicksalswendung entgegen.

Aber wenn früher meine Verhältnisse drückend waren, so verfolgte mich jetzt ein Unglück nach dem andern. Mit dem besten Willen ging ich an mein Geschäft, doch schon im ersten Jahre wurde meine Frau nach der Entbindung krank und blieb volle fünf Vierteljahre in ärztlicher Behandlung. Sie mußte teure Bäder nehmen, und die Rechnungen für den Doktor und den Apotheker beliefen sich auf hundertzweiunddreißig Taler. Ich mußte Schulden machen und erkannte bald die Unmöglichkeit, mich in der Neustadt zu halten. Ehe noch ein Konkursverfahren eingeleitet werden konnte, wurde ich mit Hilfe meiner Mutter den Gläubigern gerecht und gab das Geschäft auf. Ich übernahm nun auf den Vorschlag meiner Eltern den Laden im Bonteschen Haus auf dem Markt, worin neben einem Schenklokal ein Handel mit Schmälzerwaren betrieben wurde. Ich sah gleich, daß diese Art von Wirtschaft nichts für mich war; zu einer Schenkstube gehörte ein anderes Wesen als das meine. Die Fleischwaren bekam ich aus dem elterlichen Geschäft und verkaufte sie eigentlich auf Rechnung meines Vaters, wobei mir nur der kleine Gewinn zufiel, den ich in der Schenkstube machte. Steuern für das Gewerbe, sowie Ladenmiete mußte ich aber bezahlen. Dazu kam, daß bei dem Laden keine Wohnung war und ich die Wohnung für meine Familie apart halten mußte. Es brach zu jener Zeit die Cholera in Magdeburg aus und raffte sogleich einen der beliebtesten Gäste meines Lokals, den Goldschmied Schladen, hinweg, die übrigen Männer bekamen Furcht und mieden meine Schenkstube, sie stand verödet, und ich mußte neue Gäste anzuwerben suchen. Es schlug fehl, und nach abermals zwei Jahren mußte ich das Geschäft mit einer baren Einbuße von sechshundertsechzig Talern auflösen.

Viele haben den Verfall meines Hauswesens meiner Vorliebe für wissenschaftliche Beschäftigung zugeschrieben, aber damit hat man mir unrecht getan. Ich hatte allerdings großes Interesse an der Literatur, las gerne historische und naturwissenschaftliche Werke, begann auch zur damaligen Zeit ein Tagebuch, worin ich eigene Ideen und gute aufgefundene Gedanken verzeichnete, muß auch gestehen, daß ich nach der Erzählung von Alvensleben „Der Racheschwur“ ein Drama zu arbeiten anfing; aber alles dies füllte nur meine Mußestunden aus, die von anderen Männern beim Kartenspiel und Biertrinken verbracht wurden.

Ich versank nun in große Not, und meine Mutter unterstützte mich ein wenig. Ich fasste den Plan, in die weite Welt zu gehen und zu versuchen, ob nicht irgendein Platz für mich zu finden sei, wo ich meinen Lebensunterhalt gewinnen konnte. Mein Blick richtete sich auf Prag, wo ein Bruder meiner Mutter, der Weißgerber Grosse, in guten Umständen lebte. Ich trennte mich von meiner Familie. Es war ein schmerzlicher Abschied, aber ich ging nicht eher von ihnen, als bis mir meine Mutter in Gegenwart meines Bruders das Versprechen geleistet hatte, mütterlich für sie zu sorgen. Man schlug mir vor, die französische Handschuhmacherei zu erlernen, und wirklich schien mir dies ein Erwerbszweig, der einträglich zu werden versprach. Mein Onkel in Prag gab das Lehrgeld her, und obwohl ich nicht mehr in den Jahren war, wo man als Lehrling in einen neuen Beruf tritt und mir die Sache sehr sauer wurde, stärkte mich doch der Gedanke an meine Familie soweit, daß ich meinen Vorsatz glücklich durchführte. Nach zehn Monaten war ich Gehilfe des Meisters, der sich redlich Mühe mit mir gegeben hatte. Wieder in der Heimat angelangt, setzte ich alles daran, ein Handschuhmachergeschäft zu gründen. Mit etwas Geldmitteln wäre es mir wohl gelungen, allein ich hatte kein Geld, mein Vater wollte mir keins geben, die Mutter gab mir fünfzig Taler. Davon mußte ich die Hälfte für Arbeitszeug verwenden, und es blieb mir nicht einmal soviel, wie zum Ledereinkauf notwendig war. Dennoch versuchte ich mein Heil und hielt mich wirklich einige Zeit. Aber schließlich ging es bergab, und mein Ruin war täglich zu erwarten. Da starb mein Vater, und ich trat jetzt in das elterliche Geschäft als Pächter ein. Anfangs machte ich gute Geschäfte, aber bald wurde der Verdienst geschmälert durch die vielen neuerrichteten Schmälzerläden. Es trat noch das Missgeschick hinzu, daß die Schweine plötzlich sehr teuer wurden, und dies ist ein harter Schlag für den Schmälzer, da die Waren noch eine Zeitlang in den alten Preisen bleiben, also bei jedem Schlachten zugesetzt werden muß. Ich blieb mit der Miete an meine Mutter rückständig, der Magistrat erhöhte die Pacht des Ladens unter dem Rathaus von sechzig auf hundert Taler, und im dritten Jahre wurde ich bankrott. Ich übergab meiner Mutter ihr Eigentum wieder, sie verkaufte das Haus und ließ mir unter Anrechnung auf mein späteres Erbteil fünfhundert Taler zum Kauf eines kleinen Hauses in der Junkerstraße, wo ich von neuem eine Schmälzerei anlegte. Ich mußte viel Geld verbauen; es wäre aber doch gegangen, wenn nicht ein Gläubiger der zweiten Hypothek mir sein Kapital gekündigt und ich einen neuen hätte erhalten können. Ich mußte wieder verkaufen und habe großen Schaden erlitten.

Jetzt war ich vollkommen herunter. Meine Mutter konnte nicht mehr helfen, mein Bruder hatte ein Gut in Lendorf gekauft und bot mir eine Freistatt. Ich ging zu ihm, als Arbeitsmann im wahren Sinn des Wortes. Fünf Monate hielt ich es aus, da trieb mich die Sehnsucht nach den Meinigen wieder zurück. Meine Frau hatte sich mit dem Schmälzerladen im Rathaus, der uns noch verblieben war, kümmerlich durchgebracht. Ich versuchte nun in Magdeburg einen neuen Erwerb und erlernte das Oblatenbacken. Meine Mutter schoss mir fünfzig Taler vor, und ich begann dies Geschäft. Aber es war, als hätte das Schicksal nur darauf gewartet, bis ich wieder Hoffnung gefaßt hatte. Kaum hatte ich einigen Vorrat liegen, so kamen die neuen Blättchen mit der Namenchiffre auf, meine Oblaten blieben als altmodisch unverkauft, und ich war wieder fertig. Da ging ich mit meiner ganzen Familie nach Lendorf zurück, und wir blieben dort ungefähr ein Jahr. Um diese Zeit verkaufte mein Bruder das Gut, und meine Mutter starb. Jetzt hatte ich freilich ein Erbteil zu erwarten, mit dem sich etwas beschaffen ließ. Ich bekam tausend Taler. Mit diesem Gelde kaufte ich ein Gehöft in Gommern, wo Gastwirtschaft betrieben wurde. Während meines Aufenthaltes in Lendorf hatte ich mich als Landwirt tüchtig geübt und Lust zum Feldbau bekommen. Die Frequenz des Gasthofs war gering, das Feld bestand nur aus zehn Morgen Ackerland, ich sah, daß nicht viel zu gewinnen sei, und da ich nach einem Jahre vorteilhaft verkaufen konnte, entledigte ich mich der Wirtschaft früh genug, um keinen Schaden zu erleiden. Damals gewann ich auch tausend Taler in der Lotterie, von denen ich die Hälfte meiner Schwägerin gab. Ich wollte mir nun ein kleines Gütchen kaufen, dazu reichten die Mittel nicht. Obwohl ungern, entschloss ich mich endlich, wieder eine Schmälzerei zu errichten, und zwar in der Sudenburg.

Ich hatte tausend Taler im Besitz. Die Herstellung des Ladens und die Anschaffung der Utensilien kosteten hundertsechzig Taler. Verdient wurde wenig. Die Schweine waren in dem Jahre sehr wohlfeil. Der Bauer hatte kein Futter für das Vieh und mußte verkaufen. Ich glaubte richtig zu spekulieren, wenn ich Schweine kaufte und steckte zweihundert Taler in den Handel, um einen ordentlichen Wintervorrat zu haben. Ich hatte mich leider verrechnet. Alle Leute hatten selbst Schweine gekauft und geschlachtet. Man holte mir nichts ab. Das Geschäft geriet ganz und gar ins Stocken. Schinken und Schlackwürste bewahrte ich für den Sommer auf. Eine entsetzliche Hitze kam und verdarb mir die Vorräte. Im nächsten Jahre stiegen die Schweine zu einem ungeheuren Preis, aber unsre Ware blieb auf dem alten Fuß. Ich hatte jetzt nur noch hundertvierzig Taler. Die Einnahme war erbärmlich; der tägliche Erlös betrug oft nur fünfzehn Silbergroschen. Wir mußten vom Kapital leben. Beim Ablauf des Jahres war ich dem Viehhändler hundertsechzig Taler schuldig. Mein Bruder erbot sich, mir vierhundert Taler zu leihen, und einer von meinen Bekannten legte hundert Taler dazu. Von diesem Gelde lebte ich mit meiner Familie, nachdem ich den Viehhändler bezahlt hatte. Ich schlachtete immer weniger. Im Jahre 1845 war alles Geld rein aufgezehrt. Es nahte der Winter, und die Not wurde bedrohlich. Abermals mußte ich meinen armen Bruder um Hilfe ansprechen. Er sendete mir zwanzig Taler, und dann wieder zwanzig Taler, und gegen Weihnachten aus freien Stücken fünf Taler zu Geschenken für meine Kinder. Meine Schuld beim Viehhändler war wieder auf anderthalb hundert Taler gestiegen.

Jetzt trat der Gedanke immer unwiderstehlicher an mich heran, mich und meine Familie schmerzlos aus der Welt zu schaffen, wo unserer nur Elend wartete, ich hatte keine Aussicht, keine Hoffnung mehr. Es blieb nur das Verhungern übrig. Ich war außerstande, die Meinen vor dem Untergang zu retten. Diese Gedanken machten mich fast krank, aber ich verriet sie nicht, und sie kehrten wie im Kreise immer wieder auf den Punkt zurück: Du bist dem Bettelstab verfallen. Vorwürfe über mein Leben und meine Geschäftstätigkeit konnte ich mir nicht machen. Ich habe immer geglaubt, richtige Maßregeln zur Verbesserung meiner Lage ergriffen zu haben, aber meine Bemühungen sind stets fehlgeschlagen. Verlust über Verlust, was ich angriff, misslang. Bei der Erinnerung an all dies Leiden wurde mein Entschluss fester, und mein Gemüt stählte sich. Die Notwendigkeit trieb mich zur Tat.“

Bei gebessertem Gesundheitszustand konnte Holzwart nach einiger Zeit in das Verhörzimmer geführt werden. Seine Erscheinung war jetzt die eines zufriedenen und ergebenen Mannes. Es schien, als betrachte er das ihm neugeschenkte Leben mit einem mitleidigen Lächeln, als wollte er fragen: wozu? Er wiederholte sein Geständnis, und es war ersichtlich, daß die Schilderung der Mordnacht ihm eine unaussprechliche Pein verursachte. Und wieder behauptete er feierlich, seine Tat sei das letzte Werk der Liebe gewesen. Auf den Einwand, weshalb er bei seiner ersten Vernehmung im Kochschen Hause nicht sogleich offen bekannt, sondern eine Lüge angegeben habe, erwiderte er, es sei diese Lüge die einzige in seinem ganzen Leben. Er habe nur den Fragen genügen, lästiges Zudringen abwehren wollen, weiter nichts. Daß er verhaftet und vor dem Gesetz verantwortlich gemacht werden könnte, daran hatte er nicht gedacht. Nach seiner Meinung war er niemand auf der Erde eine Auskunft zu geben verpflichtet, und seine Tat mußte vor Gott allein verantwortet werden.

Eine Tat, straf- und todeswürdig vom Standpunkte des Rechtes, verworfen und abscheulich von dem der Moral. Der fürchterliche Irrtum, eine Familie verloren zu glauben, wenn die Hilfsquellen der Existenz versiegen, beruhte hier auf Charakterfehlern nicht allein, sondern auf Gemütsanlagen, die mit tragischer Liebe Bande des Blutes als unauflöslich betrachten. Der Gedanke, daß die geliebten Menschen einzeln ihre Nahrung suchen sollten, überstieg die Geisteskraft des Vaters; bis dahin im Schoße der Familie vor dem Unheil geborgen, sollte er sie jetzt der Verführung und der Verderbnis preisgeben? Die älteste Tochter war schön, vorzeitig entwickelt, blühend in Gesundheit und reizend durch freundliches Betragen. „Sie würde ihre Käufer schon gefunden haben,“ warf Holzwart einst im Gespräch mit bitterem Hohne hin, „aber ich habe ihre Unschuld bewahrt und gerettet.“ Der Richter wandte ein, das Mädchen hätte ja bei seiner Schönheit eine günstige Wendung des Geschickes erleben können. Da antwortete Holzwart: „Die Möglichkeit lag ferne, denn sie war arm; jetzt ist ihr Schicksal gesicherter.“

Im Dezember des Jahres 1846 wurde Holzwart verurteilt, nach dem Richtplatze geschleift, um mit dem Rade von unten herauf vom Leben zum Tode gebracht zu werden. Mit derselben Fassung und Haltung, die er bisher gezeigt, vernahm er das Urteil. Als ihm mitgeteilt wurde, daß ihm das Rechtsmittel der Appellation zustehe, erwiderte er ohne Besinnen, er habe die Strafe erwartet und durchaus nichts dagegen einzuwenden; er wünsche in kürzester Frist zu seinem Ziele zu kommen und wolle auch nicht von seinem Rechte Gebrauch machen, des Königs Gnade um Milderung der Strafe anzurufen, um den Vollzug des Verdikts nicht zu verzögern. Bei dieser Erklärung blieb er, trotzdem sein Verteidiger ihn zu anderer Ansicht zu bringen suchte. Es blieb diesem nichts weiter übrig, als seinem Willen entgegen zu handeln und aus eigener Machtvollkommenheit sich an den König zu wenden. Damit verging Tag um Tag, Woche um Woche, und Holzwart erwartete vergeblich das Ende eines Lebens, das für ihn allen Wert und Reiz eingebüßt hatte. Er glaubte, durch seine Verzichtleistung auf jeden Einspruch alle Hindernisse am besten beseitigt zu haben, und es gewann den Anschein, als siege wieder sein altes böses Schicksal, das immer seine Hoffnungen durchkreuzt hatte. Durch die seltene Verzichtleistung wurde ein Bericht nach dem anderen nötig, eine Formalität nach der anderen; bis zum September zogen sich die Verhandlungen hin, bevor man endlich dem König das Todesurteil vorzulegen bereit war.

Während der Zeit saß Holzwart geduldig im Gefängnis und harrte auf seinen Tod. Man gestattete ihm zu lesen, zu schreiben und Schach zu spielen. Er verfertigte die Schachfiguren aus Brot und malte mit Tinte ein Schachbrett auf Pappe. Es gehörte zu seiner größten Freude, wenn der Aufseher Zeit gewann, mit ihm Schach zu spielen.

Unter den Aufzeichnungen, die er zu Papier brachte, fanden sich Gedichte wie dieses:

Ich bin belohnt, daß ich euch glücklich wähne,
Euch überhoben weiß alljeder Erdenträne.
Gibt’s ein Elysium, so ist’s für euch errungen,
Durch euer Blut hab ich es euch erzwungen.
Nichts lastete auf euch, und schuldlos, schön und rein
Gingt ihr verklärt zur ewigen Ruhe ein.
Ich bin belohnt.

Dann Tagebuchblätter.


Am 10. März.

O könnt ich dem Zauber Worte geben, der wie ein Glück meinen Schlaf durchzieht. Nicht gaukelnd beschleicht mich der Träume Spiel – nein, göttlich beglückend – o, welche Wonne, wenn mein Bruder, wenn meine Kinder, die Mutter, die Eltern erscheinen. – Vor den Richterblicken der Welt mag es unverdient heißen, doch in Träumen liegt mein Glück. Mein liebstes Kind saß mir auf meinen Knien – so war es mir heute, ich saß mit ihr bei allen Meinen. Das Kind umschlang mich süß und dicht, die andern schmiegten sich an mich – von ferne sah die Mutter dieser Teuern auf uns und sprach: „Ach, daß du diese Tat hast tun können – wie schwer muss sie dir geworden sein!“


Im April.

Bedarf es denn vor jenem Weltenrichter des Eingeständnisses der Tat? Nein! Nein! Er wußt sie ja, er braucht nun nicht zu fragen, er sah sie, kennt sie also schon genug. Rechtfertgen soll ich sie? Es blieb den Meinen nur Schmach und Elend – damit rechtfertige ich mich in Ewigkeit. Verkündet nur bald, wenn alles vollbracht, dem Lebensmüden die ewige Nacht.


Im April.

Ich will nichts glauben, will nichts denken, was die Vernunft nicht fasst. Annehmen und feststellen nichts, was gegen die Natur verstößt. Und doch komme ich immer darauf zurück – es gibt noch ein Etwas, nach welchem der Blick der Sterblichen vergeblich forschend sich richtet.


Im August.

Fünf Monate nach dem verkündeten Spruche. Himmel, diese Umstände um einen einzigen Menschen. Ich weiß nicht, ob man bei einer Frage von Krieg und Frieden so viel Zeit gebraucht, und daran hängt das Leben von Tausenden!

Es gibt ein Etwas im großen Weltenraume, das unheilvoll sein Wesen treibt, und eine dunkle Ahnung sagt mir nur: es waltet gegen dich! Es waltet unsichtbar, es waltet stumm und grausig, dies dämonische Wesen des Geisterreichs.

* * * * *

Das Jahr ging zu Ende, ohne das vom König bestätigte Urteil zu bringen. Das Gerücht von der Freigeisterei des seltsamen Verbrechers drang in die höheren Kreise und füllte manches gläubige Herz mit Entsetzen. Die entschiedene Weigerung Holzwarts, den Geistlichen zu empfangen, seine ebenso entschiedene Ablehnung einer geistlichen Begleitung zum Richtplatz, und das finstere und verschlossene Wesen, das er zeigte, wenn der Gefangenenprediger bei ihm eintrat, verbreitete ein wahres Grauen vor ihm. Es wurden Versuche gemacht, ihn zu erleuchten, aber man stieß auf klare und festgegründete Überzeugungen statt auf bösen Willen und dumpfe Verstocktheit, die man vorausgesetzt, und dagegen war aller fromme Bekehrungseifer machtlos.

Das Jahr 1848 regte seine gewaltigen Schwingen. Die Unruhen wurden stürmisch. Im Februar unterzeichnete der König das Todesurteil, und endlich wurden Anstalten zur Hinrichtung getroffen. Es gab bei Magdeburg einen Anger, wo manches blutige Haupt gesunken, mancher menschliche Leib von den Rädern zerstampft worden war. Hier sollte auch für Holzwart das Schafott errichtet werden; die königliche Gnade hatte die Strafe des Räderns in die der Enthauptung verwandelt. Der Tag wurde anberaumt, eine Truppenabteilung war schon kommandiert. Noch wußte Holzwart nichts von den Veranstaltungen zu seinem nahen Ende, aber ihm ahnte etwas. Die Nachgiebigkeit des Wärters verriet ihm zuerst die Nähe seines Endes. Aber er fragte nicht, er zagte nicht; sein Auge blieb ruhig und sein Herz stark. Alles war bereit, der Scharfrichter bestellt, da brach der Volksaufstand los. Die Bande des Gesetzes waren gelöst, und die Behörde scheute sich, eine Hinrichtung vollziehen zu lassen. Der Termin wurde vertagt.

Vielleicht war dem Gefangenen doch manches Wort zu Ohren gedrungen, das ihm den Stand der Dinge verraten hatte, und wieder wie ehedem rief es in ihm: du stirbst nicht, kannst nicht sterben. Es bemächtigte sich seiner eine schmerzliche Unruhe; seine Geduld wich zuzeiten einer kurzen aber tiefen Erregung, und seine Papiere bezeugen es, daß ihm davor bangte, das Leben noch lange ertragen zu sollen.


Im Mai 1848.

Ein Mann, der edlen Trotz besitzt, sollte der voll ruhigen Gleichmuts nicht in Freude und Leid die Grenzen wissen? Welch ewiges Schwanken zwischen Leben und Tod, von heute zu morgen, von morgen noch weiter. Armer König, immer Schach! Immer Schach! Schach bis zum matt.


Im Juni.

Sie zögern. Und ich grüble. Was hält mich? Was möchte ich noch? Das Grab der Meinen sehen, die Erde küssen, wo die Schlummernden ruhen. Unbegreiflich, daß ich mich bis jetzt ließ vertrösten.

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Es findet sich die amtliche Anzeige des Gefängnisinspektors an den Richter, daß Holzwart seit fünf Tagen die Speisen unangerührt lasse und auf alle Vorwürfe die Antwort erteilt habe, er werde sein Ziel zu erreichen wissen. Der Richter stellte ihn ernstlich zur Rede, und Holzwart scheint Reue empfunden zu haben, denn er schrieb am 4. Juli:

„Genug, genug! Ich will alles ertragen. Der Ernst in seinem Auge; das harte Wort: Wenn Sie sich der verdienten Strafe entziehen, muss ich Sie für einen Feigling halten! Ich beuge mich. Mein Leben sei ein tributpflichtiges Opfer.“

Er kehrte zu der geduldigen Gelassenheit zurück, nachdem er vergeblich den Kampf mit seinem Geschick gewagt hatte. Als im preußischen Staate die Ordnung wiederhergestellt war, wurde das Todesurteil Holzwarts in lebenswierige Zuchthausstrafe verwandelt. Es muss ihn ein ungeheurer Schrecken bei der Verkündigung dieses neuen Urteils erfasst haben; eine mit flüchtiger Schrift gemachte Aufzeichnung, die letzte, die überhaupt vorhanden ist, lautet: Am Leben bleiben, solche Gnade! Gezüchtigt durch Zuchthaus für eine solche Tat! Es kann nicht sein, es darf nicht sein!

Seit der Gewissheit seines Schicksals sprach er überhaupt nicht mehr. Eine kalte Entschlossenheit lag auf seinem Gesicht, und die freundliche Ruhe seiner Mienen war düsterem Ernst gewichen. Im Zuchthaus fügte er sich streng der Ordnung und zeigte sich im Benehmen und im Fleiß exemplarisch. Dass er still und abgeschlossen seinen Weg verfolgte, schien jedermann natürlich. Man hatte nicht verfehlt, der Direktion des Zuchthauses die Selbstmordversuche Holzwarts selbst mitzuteilen, um sich bei den jetzt vermehrten Gründen zu solcher Tat der Verantwortung zu entheben. Die Furcht schien unnütz. Ein Monat nach dem andern verlief, ohne der gesteigerten Aufmerksamkeit den geringsten Verdacht zu geben. Um so unerwarteter wirkte die amtliche Nachricht von Halle:

Der von dem Königlichen Kreis- und Stadtgericht hier eingelieferte Christian Holzwart aus Magdeburg stürzte sich am Sonntag, den 28. Januar 1850 nachmittags um drei Uhr bei Ausgang aus der Kirche von der Verbindungsbrücke des Flügels „B“ und blieb auf der Stelle tot liegen, indem er sich den Hirnschädel gespalten und fast alle Glieder zerschmettert hatte.

So war der unglückliche Mann zur ersehnten Ruhe gekommen. Mit welchen Gefühlen mag er die acht Monate im Zuchthaus in Gemeinschaft mit Menschen erlebt haben, die er als das Verächtlichste im weiten Weltenraum bezeichnet hat? Mit welchen Gefühlen mag er die Tiefe des Abgrunds ermessen haben, bevor er sich hinunterstürzte? Den Tod zu zwingen, das war vielleicht seine stärkste Regung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Charaktere und Begebenheiten