Kapitel 10 - Joachim Nettelbeck - nach seiner Autobiographie.

Als Sohn eines Brauers und Branntweinbrenners wurde Joachim Nettelbeck am 20. September 1738 zu Kolberg geboren. Seine Mutter war aus dem Geschlecht des Schiffers Blanken; seines Vaters Bruder war ebenfalls Schiffer. Seine größte Kinderfreude bestand darin, auf Schiffen herumzuspringen, und sobald er lallen konnte, war sein Sinn auf die Schifferei gestellt. Sein Hang war so groß, daß er aus jedem Span, aus jedem Stück Baumrinde, das ihm in die Hände fiel, kleine Schiffe schnitzelte, sie mit Segeln von Federn oder Papier ausrüstete und damit auf Rinnsteinen und Teichen oder auf der Persante hantierte. Kein größeres Vergnügen gab es für ihn, als wenn seines Onkels Schiff im Hafen lag; da hatte er zu Hause keine Ruhe und bat immerfort, man möchte ihn nach der Münde lassen.

Nicht geringere Liebe zeigte er zum Gartenwesen. Sein Großvater war ein großer Gartenfreund, nahm ihn oft in seinen Garten mit und schenkte ihm sogar ein Fleckchen Land. Da legte er Obstkerne, pflanzte, verpfropfte und okulierte.


[Illustration: Joachim Nettelbeck, nach einer Zeichnung von Ludwig
Heine.]

Er mochte etwa sechs Jahre alt sein, da entstand eine Hungersnot im Lande. Es kamen viele arme Leute nach Kolberg, um Korn zu holen, weil man Getreideschiffe im Hafen erwartete. Als endlich ein Schiff mit Roggen auf der Reede anlangte, stieß es gegen den Hafendamm und sank in den Grund. Um es wieder emporzuwinden wurden zwei Schiffe benutzt, deren eines von seinem Onkel geführt wurde, und der Knabe war beständig zugegen. Das Fahrzeug wurde gehoben, doch das Korn war durchnässt; bald waren alle Straßen mit Laken und Schürzen überdeckt, auf denen das Getreide der Luft und Sonne ausgesetzt wurde. Endlich kam ein zweites Kornschiff, und es konnte der Not gesteuert werden.

Im nächsten Jahre schickte der Große Friedrich von Preußen eine Wagenladung mit Kartoffeln nach Kolberg. Diese Früchte waren aber damals noch völlig unbekannt, und die Bürger berieten hin und her, was wohl damit anzufangen sei. Sie warfen sie den Hunden vor, die sie beschnupperten und verschmähten. Was sollen uns die Dinger? hieß es; sie riechen nicht, sie schmecken nicht, und nicht einmal die Hunde mögen sie fressen. Man glaubte, sie wüchsen auf den Bäumen und man müsse sie herunterschütteln wie die Äpfel. Alles dieses ward auf dem Markte, vor seiner Eltern Tür, verhandelt. Erst als der König im andern Jahr eine zweite Sendung von einem Landreiter begleiten ließ, der des Kartoffelbaues kundig war, gewann die neue Frucht das Wohlwollen der Bürger.

Der Knabe war auch ein großer Liebhaber von Tauben, und er sparte sich von seinem Frühstücksgeld so viel ab, daß er sich ein paar Tauben kaufen konnte. Seine Spielereien hielten ihn vom Lernen und von der Schule ab, und erst die dringenden Ermahnungen seines Paten weckten seinen Ehrgeiz. In seinem achten Jahre schenkte ihm der Pate zu Weihnachten eine Anweisung zur Steuermannskunst, und bald ging sein Eifer für diese Sache soweit, daß er oft im Winter bei strenger Kälte des Nachts, wenn klarer Himmel war, heimlich auf den Wall ging und mit seinen Instrumenten die Entfernung der Sterne vom Horizont oder vom Zenit maß und danach die Polhöhe berechnete. Kam er des Morgens erfroren nach Hause, so verwunderte sich alles, erklärte ihn für einen überstudierten Narren, und der Vater schlug ihn.

Da ein Seemann sich auf die Kletterkunst gut verstehen mußte, übte er sich in Gemeinschaft mit dem Sohn des Glöckners im Balkenwerk der großen Kirche in dieser Fertigkeit. Sie krochen überall herum, und oft verirrten sie sich in der gewaltigen Verzimmerung dergestalt, daß einer vom andern nichts mehr wusste, und wenn sie wieder zusammenkamen, war des Erzählens kein Ende, wo sie gewesen waren und was sie gesehen hatten. In dem inwendigen Holzverband krochen sie auch bis zur Spitze des Turmes hinauf, bis sie sich in dem beengten Raum nicht mehr rühren konnten. Diese Gewandtheit und Ortskenntnis kam ihm viele Jahre später wohl zustatten, als ein Wetterstrahl im Turm gezündet hatte und das Feuer gelöscht werden mußte.

Als er elf Jahre alt war, nahm ihn sein Onkel als Kajütenwächter mit auf sein Schiff, und seine erste Fahrt ging nach Amsterdam. Dort sah er die großen Indienfahrer und verspürte eine unbezwingliche Sehnsucht, auf einem solchen Schiff zu dienen. Bei Nacht und Nebel floh er auf einer Jolle, betrat eines der Schiffe, das er sonderlich ins Auge gefaßt, und wurde nach vielen Verhandlungen als Seemannsjunge geheuert. Das Schiff war für den Sklavenhandel nach Guinea bestimmt. Einundzwanzig Monate später kam er nach Amsterdam zurück, schrieb an seine Eltern, die, froh erstaunt, ihn noch am Leben zu wissen, ihn nach Kolberg riefen; dort blieb er nun bis zu seinem vierzehnten Jahr. Länger vermochte er aber seinem Abenteuer- und Tätigkeitstrieb nicht zu widerstehen: er entfloh neuerdings und verdingte sich auf einem Schiff, das nach Surinam bestimmt war. Auf der Heimfahrt fiel der Steuermann über Bord und ertrank, und Nettelbeck wurde zum Untersteuermann gemacht.

Im Jahre 1756 nahm er Dienst bei seinem Oheim, der eine Schiffsladung mit Holz von Rügenwalde nach Lissabon zu bringen hatte. Sein jüngerer Bruder, ein Knabe von vierzehn Jahren, und des Oheims junger Sohn waren ebenfalls auf dem Schiffe bedienstet. Sie erlitten an der flandrischen Küste Schiffbruch und wurden von österreichischen Soldaten gerettet. Der Oheim hatte aber eine tödliche Verletzung erlitten und starb in einem Kloster, wohin man ihn in Eile transportiert hatte. Als Ketzer und Preußen verdächtigt und gemieden, mußten sich die drei jungen Burschen durch das feindliche Land schlagen, und erst nach schrecklichen Mühsalen gelangten sie wieder nach Kolberg. Kaum hatte sich Nettelbeck von der überstandenen schweren Zeit erholt, so brach der Krieg aus, und die Werber des Königs kamen in die Stadt, um alle jungen Leute zum Soldatenstand zu pressen. Es war eine wahre Hetzjagd, der Schrecken für alle Eltern jener Zeit und für alles junge Volk, das eine Flinte schleppen konnte und nicht mochte.

Die entschiedene Abneigung des Bürgers gegen den Soldatenstand hatte ihre Rechtfertigung in der unmenschlichen Art, womit die jungen Leute von den Unteroffizieren behandelt wurden; so sagt Nettelbeck selbst, und er fügt hinzu: unter den Fenstern der Eltern wurden sie von den rohen Menschen aufs Grausamste misshandelt, und es war ein kläglicher Anblick, wenn bei solchen Auftritten die Mütter in Haufen daneben standen, weinten und schrien und von den rauhen Barbaren abgeführt wurden.

Nettelbeck ergriff die Flucht. Bei Nacht, in Sturm und Schneegestöber wanderte er zu einem Bauern, welcher ihm genannt worden war, und mußte sich im Stadtholz eines Rudels Wölfe erwehren. Endlich erreichte er die Freistatt, hielt sich zwölf Tage dort verborgen, aber er ertrug es nicht, untätig zu sitzen, und er begab sich wieder nach der Münde. Eines Nachts erweckte ihn ein Klopfen an den Fensterladen des Kämmerchens, wo er schlief, und die bekannte Stimme einer getreuen Frauensperson rief ihm zu: „Joachim, auf! auf aus den Federn! Die Soldaten sind wieder auf der Münde!“ In der Bestürzung griff er nach einem Bund Kleider, stahl sich im Hemd auf die Straße und bemerkte, als er sich anziehen wollte, daß er Frauenkleider mitgenommen hatte. Er warf einen roten Friesrock über die Schultern, da wurde er von den Soldaten gestört, er rannte zum Hafen, sprang in ein Boot und ruderte hinaus. Jenseits ging er an Land, wanderte so gut als nackend in der bitterkalten Märznacht vor mehrere Türen, wurde jedesmal abgewiesen und flüchtete endlich in einen alten Schiffsrumpf, der im Sommer als Bierschank benutzt wurde. Er kletterte in das Rauchfangloch und duckte sich vor der Kälte in einen Winkel zusammen. Am Morgen suchte er sein verlassenes Boot wieder auf und ruderte sich zu einem Schiffe heran, das einem Königsberger Schiffer gehörte. Der Mann nahm ihn auf und hielt ihn lange bei sich verborgen. Zwei Wochen später fuhr er mit einem anderen Schiffer nach Danzig, und dort wurde er Steuermann auf einer kleinen Jacht, die eine Ladung Hanf nach Westschottland bringen sollte. Die Schifffahrt in den Gewässern der Hebriden war der Klippen und starken Strömungen wegen sehr gefährlich, das Schiff irrte lange herum, geriet im Kanal mit sieben englischen Kapern zusammen, und alle diese Schnapphähne, so nennt sie Nettelbeck, stiegen an Bord seines Schiffes und nahmen mit, was nicht niet- und nagelfest war, Kessel und Pfannen, Tauwerk und Segel, Karten und Kompass. Die Aufregung und das beständige Elend machten Nettelbeck krank. Er mußte in Metemblick zurückbleiben und begab sich zu einem Kompassmacher in die Lehre; was er von ihm lernte, war ihm in der Folge von großem Nutzen.

Bald darauf rief ihn sein Vater nach Kolberg zurück, und er war noch nicht vier Wochen in der Heimat, so begann die Belagerung Kolbergs durch die Russen. Durch die Entschlossenheit der Bürgerwehr blieben die feindlichen Anstrengungen fruchtlos, und nachdem die Russen eine Menge Pulver unnütz verschossen hatten, mußten sie wieder abziehen. Nettelbeck begab sich nach Amsterdam, traf dort mit seinem alten Kapitän Blanken zusammen und fuhr mit ihm neuerdings nach Surinam; von dort heimgekehrt, hielt es ihn wieder nicht lange, und er fuhr mit einem andern Schiff nach Sankt Eustaz. Als er dann in seine Vaterstadt zurückgekehrt war, wurde diese zum zweitenmal von den Russen belagert, aber der Notstand dauerte nur drei Wochen. Während der Zeit des Siebenjährigen Krieges blieb den preußischen Schiffern, wenn sie Erwerb finden wollten, kaum etwas anderes übrig, als unter der neutralen Danziger Flagge zu fahren. In solcher Weise ging Nettelbeck von Danzig nach Königsberg und von Königsberg mit einem Getreideschiff nach Amsterdam.

Es ist nicht erforderlich, alle diese Fahrten und die späteren im einzelnen zu verfolgen; diese Begegnungen mit Freund und Feind, dieses Hin und Her in allen Zonen der Erde, diese Kämpfe mit allen Gefahren und allen Elementen. Sie bilden ein Leben voll beständiger Unruhe und beständiger Tätigkeit. Die Kaufleute im fremden Land sind listig und verschlagen; ihrer Tücke Herr zu werden, gegen ihre Vorteilssucht nicht des eignen Vorteils verlustig zu gehen, verlangt viel Klugheit, ja beinahe Weisheit und unendliche Selbstverleugnung. Immer wieder Stürme, immer wieder Schiffbruch; kaum ist ein kümmerlicher Verdienst in Sicherheit gebracht, so geht er durch Wagnis oder Unglück wieder verloren. Bei einer Fahrt in der Nordsee wird der Kapitän wahnsinnig und trifft Verfügungen, die den Untergang des Schiffes herbeiführen müssen. Eines Morgens stürzt er vom Steuer in die See und ertrinkt. Nettelbeck nimmt ein Verzeichnis seiner Habseligkeiten auf, versiegelt die eingepackten Waren und wirft vor den Augen der Matrosen das hierzu gebrauchte Petschaft ins Meer. Zu seiner Verwunderung kann er nirgends die Gelder und Barschaften des verunglückten Schiffers finden, die Taschenuhr, die silbernen Schuh- und Knieschnallen, die goldenen und silbernen Galanteriewaren nicht, die er vordem bei ihm gesehen. Als er mit dem Schiff in den Hafen gelangt, taucht trotz eidlicher Erhärtung der Verdacht auf, daß er das Gut des Schiffers veruntreut habe. Lästerung und Verleumdung heftet sich an seine Fersen, und der Kummer, den er darüber empfindet, raubt ihm allen Mut. Erst viele Jahre später wurde das Eigentum des toten Schiffers zufällig in einem Verschlag der Kajüte entdeckt, die Witwe und die Verwandten leisteten Nettelbeck Abbitte, und die ihn geschmäht und bezichtigt hatten, erhoben ihn in den Himmel, aber man muss nicht eben Nettelbeck sein, um den von Zufalls Gnaden gereinigten Schild der Ehre mit bitterem Gefühle zu betrachten. Allmählich reifte er in der Schule des Lebens zur Resignation heran; doch seine Kraft, zu handeln, seine wunderbare Kraft, zu helfen, erlahmte dabei mitnichten. Während des großen Brandes in Königsberg rettete er auf einem Boote viele Menschen vor dem sicheren und schrecklichen Tod. Einige Zeit nachher geriet auf dem Pregel ein holländisches Schiff in Brand. Alle Menschen, so viel deren herbeigekommen, waren damit beschäftigt, Löcher in das Verdeck zu hauen, um von oben Wasser in den brennenden Raum zu gießen. Dadurch gewann aber das Feuer nur um so größeren Zug, und Nettelbeck, der ein so widersinniges Verfahren nicht gelassen mit anschauen konnte, schrie ihnen zu, sie arbeiteten sich ja zum Unglück, sie müßten das Schiff versenken. Es lief aber alles verwirrt durcheinander, und niemand wollte auf ihn hören. Da griff er einen von seinen Zimmerleuten auf, sprang mit ihm in das Boot, das zum brennenden Schiff gehörte, und zeigte ihm eine Planke dicht über dem Wasser, wo er ein Loch ins Schiff hauen sollte. Das lasse er wohl bleiben, war die Antwort des Mannes, da könne er schlimmen Lohn dafür haben. Nettelbeck riß ihm die Axt aus den Händen, schlug selber das Loch, eilte spornstreichs auf das Verdeck, wo sich Hunderte von Menschen drängten, und schrie: „Herunter vom Schiff, was nicht ersaufen will, in der Minute wird’s sinken.“ Und das Schiff sank. Die holländischen Kaufleute aber verklagten ihn bei der Admiralität und forderten von ihm den vollen Ersatz des Schadens. Er wurde vor das Kollegium zitiert und sollte sich verantworten.

Seine Rede war die: „Tausend Augen haben es mit angesehen, wie das Schiff in hellem Feuer stand. Hätte das nur noch eine halbe Viertelstunde so gedauert, so nahm die Flamme dergestalt überhand, daß es kein Mensch auf dem Schiff aushalten konnte und es mitsamt der Ladung preisgegeben werden mußte. Und wie sollte es dann fehlen, daß nicht die Taue mit verbrannten, die es am Bollwerk hielten; daß die flammende Masse stromabwärts und unter die vielen andern Schiffe trieb und diese mit ins Verderben zog? Jetzt ist großes und gewisses Unglück mit um so geringerem Schaden abgewandt, als Schiff und Ladung wohl wieder zu bergen sein werden. Ich bin daher auch des guten Glaubens, daß ich in keiner Weise strafbar gehandelt, sondern nur meine Bürgerpflicht erfüllt habe.“

Die Sentenz lautete, daß der Schiffer Nettelbeck vollkommen recht und löblich gehandelt habe und das Kollegium sich vorbehalte, ihm seine Zufriedenheit und Dankbarkeit durch feierlichen Handschlag zu bezeugen. Der Kollegiumsdirektor stand von seinem Sitze auf, schüttelte ihm treuherzig die Hand, dankte ihm im Namen aller Schiffer und im Namen der Stadt und hieß ihn einen wackeren Mann. Kaufleute, Schiffer und Advokat sahen einander verlegen an, dann traten sie einer nach dem andern zu ihm und gaben ihm ebenfalls die Hand. Der Direktor fragte ihn zum Schluss, ob er nicht, wie er im vorigen Jahr mit dem Bording der Witwe Rollof getan, das versunkene Schiff aus dem Wasser zu heben versuchen wolle. Und Nettelbeck sagte zu. Die Hebung gelang unter großen Schwierigkeiten, und da er von den holländischen Kaufleuten außer dem Ersatz seiner Auslagen nichts annehmen wollte, machten sie ihm ein Geschenk von hundert preußischen Gulden samt zehn Pfund Kaffee und zwanzig Pfund Zucker. Er seinerseits schenkte davon fünfundzwanzig Gulden den Armen, damit sie auch einmal einen guten Tag haben sollten.

Es war das Sonderbare seines Geschicks, daß es ihn immer wieder zwang, gegen die Elemente in den Kampf zu treten und er dem Wasser wie dem Feuer gegenüber stets die gleiche streitbare Rolle spielt. Als er nach vielen und gefährlichen Reisen, nach vielen und ermüdenden Versuchen, da und dort seinen Lebensunterhalt zu erwerben, als beinahe Vierzigjähriger 1777 wieder in seiner Vaterstadt saß, schlug eines Tages im April der Blitz in den Kirchturm, und im Nu brannte der Turm lichterloh. Die helle Flamme spritzte bei der Wetterstange gleich einem feurigen Springbrunnen empor, aus den Schallöchern sprühten die Funken wie Schneeflocken und fielen bereits in die Domstraße hinüber. Nettelbeck, dies sehend, rannte nach der Kirche und die Turmtreppe hinan. Im Hinaufsteigen überdachte er, wie groß das Unglück werden müsse, da es wohl schwerlich jemand unternehmen werde, bis in die höchste Spitze zu klimmen, wo er in den finstern Winkeln nicht so bekannt sei wie er selbst, der sie in seiner frühen Jugend oft mit Lebensgefahr durchkrochen hatte. Er wusste, daß auf dem Glockenboden stets Wasser und Löscheimer bereitstanden, aber an einer Handspritze, die hauptsächlich nottat, mochte es fehlen. Er machte auf der Stelle kehrt, drängte sich an den vielen Menschen vorüber, die alle hinauf wollten, eilte ins nächste Haus, dann ins zweite und ins dritte, bis er endlich eine Spritze bekam. Jetzt wieder, die Angst und der Eifer gaben ihm Flügel, zum Turm hinauf. In der sogenannten Kunstpfeiferstube, dicht unter der Spitze, fand er mehrere Maurer und Zimmerleute mit ihren Meistern, aber keiner wusste, was zu tun sei. „Liebe Leute,“ sprach er, unter sie tretend, „hier ist nichts zu beginnen, wir müssen höher hinauf.“ – „Leicht gesagt, aber schwer getan,“ antwortete einer, „wir haben es schon versucht, doch es geht nicht. Sobald wir die Falltür über uns haben, fällt ein Regen von Flammen und glühenden Kohlen herunter und setzt auch hier die Zimmerung in Brand.“ Nettelbeck aber ließ sich die Falltür öffnen, stieg hindurch, gebot, daß man ihm einen Eimer und die Spritze reiche und die Falltür wieder schließe, denn das Feuer durfte von unten keinen Zug bekommen. Er mußte sich den Kopf mit Wasser aus dem Eimer anfeuchten, damit seine Haare nicht in Brand gerieten, und um die Hände frei zu bekommen, schnitt er vorn in seinen Rock ein Loch, durch das er die Spritze steckte. Den Bügel des Eimers nahm er in den Mund und zwischen die Zähne; so klomm er empor. Die Holzriegel im Innern des Turms mußten ihm als Leitersprossen dienen, allein wohin er griff, um sich emporzuhelfen, fand er alles voll glühender Kohlen, nur hatte er nicht Zeit, an den Schmerz zu denken. Endlich hatte er sich so hoch verstiegen, daß ihm in der engen Verzimmerung kein Raum blieb, sich noch weiter hinauf zu winden, und hier sah er den rechten Mittelpunkt des Feuers acht oder zehn Fuß über sich zischen und sprühen. Er klemmte den Wassereimer zwischen die Sparren fest, sog die Spritze daraus voll und richtete sie gegen den Feuerkern. Wasser, Feuer und Kohlen prasselten ihm ins Gesicht, aber das Feuer verminderte sich alsbald merklich. Nun war aber auch der Eimer geleert. Aus Leibeskräften schrie er nach Wasser; einer der Zimmermeister hob die Falltür und rief: „Wasser ist hier, aber wie bekommst du es hinauf?“ Er sagte, sie sollten es ihm nur bis über den Glockenstuhl schaffen, da wolle er sichs schon selber langen. Jene wagten es, und er kletterte ihnen von Zeit zu Zeit entgegen, um die vollen Eimer in Empfang zu nehmen, von denen er dann auch so fleißigen Gebrauch machte, daß er endlich das Glück hatte, den Brand zu überwältigen und völlig zu löschen. Und es war hohe Zeit, mit jeder Minute wurde ihm übler: das zurückspritzende Wasser hatte ihn bis auf die Haut durchnässt, und zugleich war eine unerträgliche Hitze im Turm. Er eilte hinunter, und in der schneidenden Luft bei den Schallöchern vergingen ihm die Sinne. Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Kirchhof, ihm zur Seite standen zwei Chirurgen, die ihm an beiden Armen die Adern geöffnet hatten, und eine Menge neugieriger Menschen schaute zu. Seine Hände waren überall verletzt, die Haare auf dem Kopf abgesengt, der Kopf selbst wund und voller Brandblasen; an diesen Stellen wuchsen die Haare nie wieder, und zwei Finger an der rechten Hand blieben ihm zeitlebens verkrüppelt.

Zehn Jahre lang befuhr er noch die Meere, von Danzig bis Lissabon, von Amsterdam bis Norwegen, von London bis Westindien; bald im eignen Interesse, das aber nie ein Gelingen bescherte, bald im Auftrag fremder Reeder. Seine Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit, soviel sie ihm auch Achtung und Sympathie erweckten, konnten ihm doch nicht zu großem Geld und Gut verhelfen. Und er war zu unruhig, zu leidenschaftlich und zu wenig kühler Rechner, um aus geringen Vorteilen mit der Zeit und viel Geduld bedeutende zu machen. Um das Jahr 1787 wurde er in Kolberg sesshaft, und seine Mitbürger erwiesen ihm die Ehre, ihn als Verwandten des Seglerhauses aufzunehmen, welches ein Kollegium war, vor dem alle Schiffahrtssachen in erster Instanz entschieden wurden. Auch ernannten sie ihn zum Schiffsvermesser, dessen Amt es war, die Tragkraft der Fahrzeuge zu berechnen, und wieviel Lasten sie laden und über See führen konnten. Es gab auch in Kolberg ein Kollegium, die Fünfzehnmänner geheißen, das die Gerechtsame der Bürgerschaft beim Magistrat zu vertreten hatte. In dieser Körperschaft waren große Missstände bemerklich geworden; die Fünfzehnmänner hatten angefangen, ihr Ansehen mehr zu ihrem Privatnutzen als zum allgemeinen Besten geltend zu machen, und es war eine enge Verbrüderung daraus entstanden, die sich einander zu allerlei heimlichen Praktiken verhalf. Da waren Depositenkassen angegriffen, Scheinkäufe vorgenommen, Gemeingut widerrechtlich verschleudert und andere Greuel mehr begangen worden. Furchtlos trat Nettelbeck in den Sumpf und machte eine lange Reihe von Ungebührlichkeiten, Veruntreuungen und krummen Schlichen vor Gericht anhängig. Es kam darüber zu einem langen und verwickelten Prozess, und keine Art von Ränken und Rabulistereien blieb gegen ihn unversucht. Beinahe vier Jahre lang schleppte sich der Rechtsstreit hin, und so wie er sich die Sache zu Herzen nahm, hatte er während der ganzen Zeit keine ruhige Stunde. Er gesteht, daß er oft mit Feuer und Schwert hätte dreinfahren mögen, wenn das heillose Gezücht immer ein neues Mäntelchen für seine aufgedeckte Bosheit zu erhaschen suchte. Endlich kam die unsaubere Geschichte doch zu einem leidlichen Schluss; das Kollegium wurde aufgelöst und durch ein anderes ersetzt, und man bewies ihm das Vertrauen, ihn in die Zahl der neuen Repräsentanten zu wählen.

Ergreifend sind die wenigen Seiten seiner von ihm selbst erzählten Lebensgeschichte, wo er von seinen häuslichen und ehelichen Verhältnissen erzählt und die Bemerkung macht, daß ihm als Ehemann und Vater sein besserer Glücksstern erst spät erschienen sei. Nur der Anschein war günstig, als er sich im Jahre 1762 in Königsberg zu heiraten entschloss. Er war ein flinker und lebenslustiger Bursche von vier- oder fünfundzwanzig Jahren, sein junges Weib war sechzehn, und solange er dort lebte und als Schiffer ab- und anfuhr, war die Ehe ganz glücklich. Von drei Kindern, die ihm die Frau gebar, blieb indessen nur ein Sohn am Leben, der ihn auf seinen letzten Seereisen als unzertrennlicher Gefährte begleitete. Nach siebenjähriger Ehe entdeckte er, daß ihn die Frau betrog; er verzieh ihr, aber sie zeigte sich unverbesserlich, da ließ er sich von ihr scheiden, und sie verkam im Elend. Der Sohn, den er sehr liebte, starb ihm in jungen Jahren, und er stand nun verlassen in der Welt und wusste nicht, für wen er sich’s noch sauer werden lassen sollte. Es fehlte am festen Kern im inneren Haushalt, und so wollte er es noch einmal mit der Ehe versuchen. Als Fünfzigjähriger warf er seine Augen auf eine Schifferswitwe in Stettin, die er als eine ordentliche und rechtliche Frau zu kennen glaubte. Die Verbindung kam zustande, aber nun erst gingen ihm die Augen auf. Die fromme Witwe hatte gern ihr Räuschchen und hielt es eifrig mit mancherlei andern Dingen, die den Ehefrieden stören mußten. An ein Zusammenhalten des ehrlich Erworbenen war länger nicht zu denken, vielmehr sah er den unvermeidlichen Untergang seines kleinen Wohlstands vor Augen, und was blieb ihm übrig, als eine abermalige Scheidung? Mit trüben Blicken schaute er in die Zukunft. Er gehörte keinem Menschen an, war nachgerade ein alter Mann geworden, und fühlte er gleich sein Herz noch frisch und seinen Geist lebendig, so wollten doch die stumpfgewordenen Knochen nicht mehr gut tun. Die paar Jahre, die noch übrig waren, dachte er wohl noch hinzustümpern, und wenn nur noch der Sarg ehrlich bezahlt werden konnte, mochte man ihn hintun, wo seine Väter schliefen. Jedoch das Geschick meinte es besser mit ihm. So klang- und trostlos sollte sein Leben nicht enden.

Das Jahr 1806 war herangekommen. Joachim Nettelbeck, dem feurigen Patrioten, der die alten Zeiten und des großen Friedrichs Taten noch im Sinn hatte, blutete gleich so vielen das Herz bei der Zeitung von den entsetzlichen Tagen bei Jena und Auerstädt und ihren Folgen. Er hätte kein Preuße und abtrünnig von König und Vaterland sein müssen, wenn ihm jetzt, wo alle Unglückswellen über sie zusammenschlugen, nicht so zu Sinn gewesen wäre, als müsste er Gut und Blut und die letzte Kraft seines Lebens für sie aufbieten. So lautet sein eigenes Geständnis; nicht mit Reden und Schreiben, dachte er, aber mit der Tat sei hier zu helfen; jeder auf seinem Posten, ohne sich erst lange, feig und klug, vor- und rückwärts umzusehen.

Als nun Magdeburg und Stettin gefallen waren und die ungestüme französische Windsbraut sich immer näher und drohender gegen die Weichsel heranzog, da ließ sich’s voraussehen, daß bald genug auch die Feste Kolberg an die Reihe kommen mochte, und wirklich erschien im November ein französischer Offizier als Parlamentär in der Stadt und forderte die Übergabe. Diese wurde zwar verweigert, allein mit allem, was zu einer rechtschaffenen Verteidigung gehörte, sah es trübselig aus. Wall und Graben waren verfallen, von Palisaden keine Spur. Nur drei Kanonen standen in einer Bastion auf Lafetten und dienten bloß zu Lärmschüssen, wenn Ausreißer von der Besatzung verfolgt werden sollten; alles übrige Geschütz lag am Boden, hoch von Gras überwachsen, und die dazu gehörigen Lafetten vermoderten in den Remisen. Die Besatzung war gering an Zahl, entmutigt durch die Unglücksbotschaften, und der Kommandant, Oberst von Loucadou, ein alter abgestumpfter Mann, der seit dem bayrischen Erbfolgekrieg den Ruf eines tüchtigen Offiziers genoss und dessen Geist so blind an altem Herkommen hing, daß er sich in der neuen Zeit und Welt nicht mehr zurechtfinden konnte. Während alles, was Militär hieß, den trägen Schlummer mit ihm zu teilen schien, fühlte sich die ganze Bürgerschaft von der lebhaftesten Unruhe und Besorgnis ergriffen, und Nettelbeck wurde als einer der ältesten Bürger ausgewählt, sich mit dem Kommandanten über die Maßregeln zur Verteidigung zu verständigen. Dem Obersten erschien dies anmaßend, und er wusste nicht oder wollte es nicht wissen, daß von ältester Zeit her die Bürger von Kolberg sich als die natürlichen und gesetzlich berufenen Verteidiger ihrer Wälle und Mauern betrachteten. Vormals hatte jeder seinen Bürgereid mit Ober- und Untergewehr geschworen, hatte geschworen, daß diese Armatur ihm eigen angehöre, geschworen, daß er die Festung verteidigen helfen wolle mit Gut und Blut. Die Bürgerschaft war in fünf Kompanien eingeteilt, mit einem Bürgermajor an der Spitze, und wo es im Ernst gegolten, hatte der Kommandant sie nach seiner Einsicht gebraucht und wesentlichen Nutzen von ihrem Dienst gezogen. Nettelbeck eröffnete dem Obersten, daß die Bürger mit Gott entschlossen seien, in diesen bedenklichen Zeitläuften mit dem Militär gleiche Last und Gefahr zu bestehen, daß sie sich in ein Bataillon mit vollständiger Rüstung organisieren wollten und bäten, sich vor ihm aufstellen zu dürfen, damit er Musterung halte und jedem seinen Posten anweise, sie würden ihre Schuldigkeit tun. Als die Bürgerschaft sich versammelt hatte, kam der alte Oberst und sagte: „Macht dem Spiel ein Ende, ihr guten Leutchen! Geht in Gottes Namen nach Hause. Was soll mir’s helfen, daß ich euch sehe?“ Und da Nettelbeck neuerdings Vorstellungen machte und sich und seine Leute zu den nötigen Arbeiten anbot, erwiderte der Kommandant mit einem höhnischen Lachen: „Die Bürgerschaft und immer wieder die Bürgerschaft! Ich brauche die Bürgerschaft nicht.“

Eine solche Geringschätzung erregte Murren und Unwillen, aber Nettelbeck ließ sich nicht abhalten, zu tun, was ihm Pflicht schien. Er machte den Oberst darauf aufmerksam, welch gute Dienste in früheren Belagerungen eine Schanze auf dem hohen Berg, eine Viertelmeile außerhalb der Stadt, geleistet hatte, und er und seine Freunde seien bereit, die Schanze wiederherzustellen. Der Oberst antwortete, was außerhalb der Stadt geschähe, kümmere ihn nicht, die Festung innerhalb werde er schon zu verteidigen wissen. Und so baute Nettelbeck die Schanze, und es halfen ihm die Bürger, ihre Gesellen, ihre Lehrjungen und Dienstmägde; als die Arbeit noch immer zu langsam vonstatten ging, warb er Leute am Hafen und bezahlte sie aus seiner Tasche. Er sorgte für die Anschaffung von Lebensmittelvorräten und nahm bei Bäckern, Bauern und Branntweinbrennern ein Verzeichnis der Bestände auf. Er ging in die umliegenden Dörfer und sah nach, was an Korn und Schlachtvieh vorhanden war. Mit all seinen Papieren ging er nun zum Kommandanten, um ihn zu bewegen, daß er die Vorräte in die Stadt schaffen lasse. Der Oberst aber, als hätte die Pest an den Papieren geklebt, drückte sie ihm eilig wieder in die Hand und sagte, er brauche den Plunder nicht und damit Gott befohlen.

Der Oberst hatte auch eine alte Köchin, und die war jedesmal zugegen, wenn Nettelbeck kam, und gab ihren Senf mit drein. Auch dieses Mal schimpfte und maulte sie, bis Nettelbeck die Galle überlief und er dem unverschämten Weibsbild die Meinung sagte, wodurch er aber den Obersten nur noch mehr gegen sich in Zorn setzte.

Um den Magistrat und seine Anstalten stand es auch kläglich, der Untergang der Stadt schien nicht aufzuhalten, und so entschloss sich Nettelbeck, der winterlichen Jahreszeit zum Trotz, den König selbst in Königsberg oder in Memel aufzusuchen und ihm Kolbergs Lage und Not vorzustellen. Da traf aber der Kriegsrat Wissening von Treptow in Kolberg ein, ein Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Der machte sich gegen Nettelbeck erbötig, selber zum König zu gehen und sein möglichstes zu tun, um den Platz zu retten. Unter den von den Truppen Versprengten, die täglich in Kolberg Zuflucht suchten, befand sich auch der Leutnant von Schill; Nettelbeck gewann ihn bald zum Freund, und der junge Offizier erklärte sich bereit, in Kolberg zu bleiben, um bei der Verteidigung zu helfen. Er stimmte mit Nettelbeck darin überein, daß vor allem die Maikule, der Schlüssel zum Hafen, um jeden Preis festgehalten werden müsse, und doch war zur Verschanzung dieses entscheidenden Punktes bis jetzt noch keine Schaufel in Bewegung gesetzt worden. Es waren keine Hände da, um auch nur einige Erdaufwürfe zustande zu bringen, und Nettelbeck trieb unermüdlich in der Geldervorstadt und in allen umliegenden Ortschaften Tagelöhner und Häusler zusammen, versprach und zahlte guten Lohn und verwandte gegen vierhundert Taler aus seiner Tasche. Tag und Nacht arbeiteten etwa sechzig Menschen nach dem von Schill entworfenen Plan an den Befestigungen; weder der Kommandant noch sonst jemand fragte und kümmerte sich, was da geschafft wurde. Indessen war der Kriegsrat Wissening mit ausgedehnten Vollmachten vom König zurückgekehrt. Seine Hilfe brachte neues Leben in die Verwaltung; ganze Herden Schlachtvieh, lange Reihen Getreidewagen zogen zu den Toren ein, und Heu und Stroh im Überfluss füllte die Futtermagazine. In der Stadt wurde geschlachtet und eingesalzen und die Böden der Bürgerhäuser mit Korn beschüttet.

Um die Mitte März hatten die Franzosen die Umzingelung der Festung beendet. Die Schanze auf dem hohen Berg ging unter blutigen Kämpfen verloren, auch die Anhöhen der Altstadt waren besetzt. Es war nun dringend geboten, die Überschwemmung des Geländes rings um die Festung zu bewirken, eine Absicht, die auf den hartnäckigen Widerstand der Grundeigentümer stieß. Auch der Kommandant wollte nichts davon wissen, bei der darüber geführten Unterredung mischte sich wieder die Köchin in ihrer gewohnten Weise ein. Nettelbeck schob sie ohne viel Federlesens zur Türe hinaus, der Oberst geriet in Hitze, griff nach seinem Degen und würde ihn gegen Nettelbeck gezogen haben, wenn ihm nicht dessen Begleiter, der Hauptmann von Waldenfels, mit den Worten in den Arm gefallen wäre: „Beruhigen Sie sich, Nettelbeck hat recht getan.“

Die Franzosen schickten indessen einen Parlamentär, den der Oberst in aller Freundlichkeit empfing und mit dem er hinter verschlossener Tür verhandelte. Nettelbeck argwöhnte Verrat, und in der Fülle seines beklommenen Herzens schrieb er an den König: Wenn Euere Majestät uns nicht bald einen andern und braven Kommandanten zuschicken, sind wir unglücklich und verloren.

Die Belagerer schritten zum Angriff, die Geldervorstadt geriet in Gefahr, Loucadou erteilte den Befehl, sie niederzubrennen, aber Schill stellte ihm das Unnützliche und Übereilte dieser Maßregel mit solchem Gewicht vor, daß er nachzugeben gezwungen war; dadurch konnten Hunderte von Menschen die beweglichen Trümmer ihres Besitzes in Sicherheit bringen, und erst als dies geschehen war, fand die Zerstörung statt. Der Kommandant aber bezichtigte Schill der Insubordination und ließ ihn in Arrest setzen. Soldaten und Bürger vernahmen mit Unwillen, was ihrem Liebling geschehen war. Es entstand ein Gemurmel, ein Reden, Fragen und Durcheinanderlaufen, das mit jeder Minute lauter und stürmischer wurde. Man wollte Schill mit Gewalt befreien und den Kommandanten zur Rechenschaft ziehen. Nettelbeck, lebhaft bestürzt und das Unselige dieser Volksbewegung erkennend, warf sich unter die Menge, bat sie, Vernunft anzunehmen und vor allen Dingen Schills eigene Meinung zu hören. Dies ward angenommen, und Nettelbeck ging zu Schill. Als der vernahm, wie die Sachen standen, erschrak er heftig, und Nettelbeck an beiden Händen ergreifend, rief er: „Freund, ich bitte Sie um alles, stellen Sie die guten Menschen zufrieden. Aufruhr wäre das letzte und größte Unglück, das uns begegnen könnte. Sagen Sie ihnen, ich sei nicht arretiert, ich sei krank, sagen Sie, was Sie wollen, wenn sich nur die Leute zur Ruhe geben.“ Nettelbeck begab sich wieder auf den Markt, hielt eine Ansprache, die Leute kamen zur Besinnung und gingen friedlich auseinander. Schills Arrest blieb ein leeres Wort, das stillschweigend zurückgenommen wurde.

Die feindlichen Granaten schlugen in die Stadt, und der Oberst befahl, daß die Dächer mit Dünger belegt und das Pflaster aufgerissen werden sollte, um die Geschosse unschädlicher zu machen. Nettelbeck äußerte Zweifel über das Förderliche dieses Befehls; da die Dächer eine Neigung von mehr als fünfundvierzig Grad besaßen, meinte er, der Dünger werde wohl nicht haften bleiben, auch würden die Bomben vor den so bedeckten Dächern nicht sonderlich viel Respekt zeigen; das Aufreißen des Pflasters sei aber bei den engen Gassen sogar gefährlich, weil dann bei entstandener Feuersgefahr weder Spritzen noch Wasserkufen einen Weg durch die Steinhaufen und den umgewühlten Boden finden würden. Während des Gesprächs fuhr in der Nähe eine Bombe nieder und zersprang. Der Oberst sah sich mit etwas verwirrten Blicken um und stotterte: „Meine Herren, wenn das so fort geht, so werden wir müssen doch noch zu Kreuze kriechen.“ Mehr konnte er nicht hervorbringen. Nettelbeck, alle Selbstbeherrschung verlierend, fuhr auf und schrie: „Halt! Der erste, wer er auch sei, der das verdammte Wort wieder ausspricht, von zu Kreuz kriechen, stirbt des Todes von meiner Hand.“ Dabei riß er den Degen aus der Scheide, sein Nebenmann faßte ihn von hinten und zog ihn von Loucadou zurück. „Arretieren,“ knirschte der Oberst mit schäumendem Mund, „gleich arretieren! In Ketten und Banden.“ Alles drängte sich um den Oberst zusammen; Nettelbecks Freunde schoben ihn zurück, und er ging, wenig zufrieden mit sich selbst und seinem Zorneifer, still nach Hause. Nachmittags berief der Kommandant den Landrat zu sich und teilte ihm mit, er werde Nettelbeck vor ein Kriegsgericht stellen und auf dem Glacis der Festung erschießen lassen. Der Landrat erschrak, machte eindringliche Vorstellungen, jedoch der Oberst beharrte auf seinem Sinn. Als die Bürger vernahmen, was im Werke war, geriet alles in die größte Bewegung, alles ergriff Nettelbecks Partei; der Haufen sammelte sich und ward mit jeder Minute größer, wälzte sich zu Loucadous Wohnung, umringte ihn, und die Wortführer bestürmten ihn so lange im guten und im bösen, bis sie seine Entrüstung einigermaßen milderten oder vielleicht ihn ahnen ließen, daß er kein so leichtes Spiel haben werde. „Gut, gut,“ sagte er endlich, „so mag der alte Bursche diesmal laufen. Hüt er sich nur, daß ich ihn nicht wieder fasse.“ Nettelbeck hatte von seinem Fenster aus den Auflauf des Volkes bemerkt, hatte aber kein Arg, daß es ihn so nahe angehen könne. Erst andern Tags erfuhr er, wie schlimm es auf ihn und sein Leben gemünzt gewesen.

Die Belagerung nahm ihren Fortgang, und Not und Elend stiegen von Woche zu Woche. Es war am 1. Juli, als die Franzosen endlich letzten Ernst zu machen schienen. In den Morgenstunden eröffneten sie ein furchtbares Bombardement auf die Stadt. Bald gab es nirgends ein Plätzchen mehr, wo die zagende Menge vor dem drohenden Verderben sich hätte bergen können. Überall zerschmetterte Gewölbe, einstürzende Böden, krachende Wände und aufwirbelnde Säulen von Dampf und Feuer; überall die Gassen wimmelnd von ratlos umherirrenden Flüchtlingen, die ihr Eigentum preisgegeben hatten und unter dem Gezisch der kreisenden Feuerbälle sich verfolgt sahen von Tod und Verstümmelung. Geschrei von Wehklagenden, Geschrei von Säuglingen und Kindern, Geschrei von Verirrten, die ihre Angehörigen verloren hatten, Geschrei der Menschen, die mit dem Löschen der Flammen beschäftigt waren, Lärm der Trommeln, Rasseln der Fuhrwerke, Geklirr der Waffen, es war herz- und ohrenzerreißend. Im Laufe des Tages erstürmten die Franzosen die Maikule, und mit dem Verlust dieses wichtigen Punktes war die Verteidigung gelähmt, und das Münderfort war nun zur Beschützung des Hafens nicht mehr ausreichend, was sich zeigte, als das englische Schiff, das den Belagerten zu Hilfe gekommen war, beim Vordringen der Franzosen die Ankertaue kappte, um wieder das offene Meer zu gewinnen.

Zu spät hatte der König Unterstützungsmannschaften geschickt, zu spät den unfähigen Kommandanten durch den Major von Gneisenau ersetzt; es schien, daß die Stadt nicht mehr zu retten war. Inmitten der ringsum drohenden Gefahr erzeugte sich allmählich eine Gleichgültigkeit bei vielen, die nichts mehr zu Herzen nahmen. War auch nicht der Mut, so war doch die Natur erschöpft; Anstrengung, Schlaflosigkeit, immerwährende Spannung des Gemüts und Sorgen für Weib und Kind und Eigentum fielen auf die meisten mit einem solchen Gewichte, daß sie sich in den Trümmern ihrer Wohnungen ein noch irgend erhaltenes Plätzchen ersahen, um den bis in den Tod ermatteten Gliedern einige Ruhe zu gönnen.

Da geschah es, daß eine Bombe, verderblicher als alle andern, in das Rathaus fuhr, und ein hell aufflackerndes Feuer war die Folge ihres Zerspringens. Als naher Nachbar sprang Nettelbeck hin, um schnelle Anstalten zur Brandlöschung zu betreiben, aber ringsum regte sich keine menschliche Seele. Er lief zu Bekannten, braven und wackeren Männern, um sie zur Hilfe aufzurufen, doch schlaftrunken und ohne Gefühl beachteten sie sein Bitten und Ermuntern ebensowenig, wie sein Toben und Schelten. In steigender Angst rannte er auf die Brandstätte zurück und packte jeden an, der ihm begegnete. Ein vierschrötiger Kerl, dem er einen gefüllten Löscheimer aufdrängte, nahm ihn und schlug das Gefäß mit seinem nicht eben sauberen Inhalt Nettelbeck geradezu um die Ohren, so daß er fast die Besinnung verlor und von Schmutz und Ruß bedeckt eine jämmerliche Figur machte. Ohne sich darum zu kümmern eilte er in das nächste Wachhaus auf dem Walle und stürmte wild in das halbdunkle Wachzimmer. Auf der hölzernen Pritsche regte sich eine Gestalt. „Bester Mann, zu Hilfe, das Rathaus steht in Flammen!“ schrie Nettelbeck. Der Offizier erhob sich, schlug die Hände zusammen und rief aus: „Ach, du armer Nettelbeck!“ Jetzt erst erkannte ihn Nettelbeck; es war Gneisenau. Nun wurde die Lärmtrommel gerührt, die Soldaten erschienen, Patrouillen durchzogen die Stadt, und die Löschanstalten kamen in Bewegung. Zu gleicher Zeit hatten die Gefangenen im Stockhaus die allgemeine Verwirrung benutzt, um auszubrechen, und hatten in den Häusern zu plündern begonnen; auch Nettelbecks Haus wurde von diesem Schicksal betroffen. Durch den tätigen Eifer des Militärs wurde die Rotte wieder eingefangen und unschädlich gemacht.

So besonnen, wo es zu handeln galt, so allgegenwärtig gleichsam, wo eine Gefahr nahte, und so beharrlich, wo nur die unabgespannte Kraft zum Ziele führen konnte, hatte sich der Kommandant Gneisenau immer und überall seit dem ersten Augenblick seines Auftretens erwiesen. Wochen hindurch war er so wenig in ein Bett als aus den Kleidern gekommen. Vater und Freund des Soldaten wie des Bürgers, hielt er beider Herzen durch den milden Ernst seines Wesens und durch teilnehmende Freundlichkeit gefesselt. Jeder seiner Anordnungen folgte das unbedingteste Zutrauen.

Der Morgen des 2. Juli brach an. Not und Elend, Jammergeschrei und Auftritte der blutigsten Art, einstürzende Gebäude und prasselnde Flammen, das war das einzige, was bei jedem Schritt den entsetzten Sinnen sich darstellte. Gneisenaus scharfes Auge hatte mitten im grässlichsten Tumult erkannt, daß der Feind Vorbereitungen traf, sich von der Wolfsschanze aus über das Münderfort herzustürzen. Es war drei Uhr nachmittags. Gegenanstalten wurden getroffen, Befehle flogen, alles war in der lebendigsten Spannung, plötzlich schwieg das feindliche Geschütz auf allen Batterien. Auf das Krachen eines Donners wie am Tage des Weltgerichts folgte eine lange, öde Stille. Jeder Atem stockte, niemand begriff den schnellen Wechsel, das schauerliche Erstarren so gewaltiger losgelassener Kräfte. Da nahte ein feindlicher Parlamentär, neben ihm ein preußischer Offizier, und alsbald stürzte dieser mit den atemlos hervorgestoßenen Worten in den Kreis seiner Bekannten: „Friede! Kolberg ist gerettet.“

* * * * *

Als im Jahre 1809 der König von Memel nach Berlin zurückkehrte, hieß es zuerst, er werde seinen Weg über Kolberg nehmen; aber die Strenge der Jahreszeit gebot die kürzeste Richtung, und da es bekannt wurde, daß das königliche Paar einen Rasttag in Stargard machen wollte, schlug Nettelbeck den Kolbergern vor, eine Abordnung der Bürgerschaft dorthin zu senden. Alles war seiner Meinung, aber alles glaubte auch, daß es dafür zu spät sei, denn um rechtzeitig an Ort und Stelle zu kommen hätte man sich noch den nämlichen Abend auf den Weg machen müssen. „Und warum nicht schon in der nämlichen Stunde?“ fragte Nettelbeck. „Ich bin dazu bereit, aber ich bedarf noch eines Gefährten. Wer begleitet mich?“ Schweigen und Kopfschütteln ringsherum, und schon wollte der Alte im feurigen Unmut auflodern, als ihm der Kaufmann Gölckel die Hand reichte, sich ihm zum Gefährten erbot und in einer Stunde reisefertig zu sein versprach. Sie kamen nach Stargard so früh am Morgen, daß sie noch alles in Finsternis und Schlaf begraben fanden. An einem Haus stiegen sie ab, klopften an und verlangten Herberge. Die Antwort lautete, alles sei dicht besetzt und kein Unterkommen mehr möglich. „Aber liebe Leute, den alten Nettelbeck werdet ihr doch nicht auf der Straße stehen lassen!“ „Nein, wahrhaftig nicht,“ scholl eine weibliche Stimme dagegen, „tausendmal willkommen! Da muss sich schon ein Winkelchen finden.“

Im königlichen Quartier wurde Nettelbeck von einem General erkannt und in das Empfangszimmer geführt. Der große Raum war voll von Offizieren, Damen und Standespersonen. Alles blitzte von Ordenszeichen, und es gab eine feierliche Stille, als der König und die Königin eintraten.

Vor Nettelbeck und seinem Begleiter stehend, sagte der König gegen die glänzende Versammlung hin mit bewegter Stimme: „Wenn jeder so seine Pflicht getan hätte wie die Kolberger, dann wäre es uns nicht so unglücklich ergangen.“

Nach einiger Wechselrede brach aus des alten Nettelbecks Munde das glühende Wort: „Verflucht sei, wer seinem König und Vaterland nicht treu ist.“ Und dann: „Wir hoffen, Eure Majestät werden uns nicht sinken lassen.“ Der König antwortete und streckte Nettelbeck die Hand entgegen: „Nein, nicht sinken lassen, nicht sinken lasse ich euch.“

Diese Stunde war vielleicht die schönste in Nettelbecks Leben, und keine empfand er dankbarer als Lohn für alle Opfer und Mühen. Er begann nun seine Hantierung wieder und fand auch ein notdürftiges Auskommen. Doch fiel es ihm immer schwerer aufs Herz, daß er so abgesondert und verlassen dastand. Er war nun fünfundsiebzig Jahre alt und sorgte sich doch noch um die Zukunft. Zuerst lachend, dann in wohlgemeintem Ernst rieten ihm seine Freunde, es noch einmal mit dem Ehestand zu versuchen, und nach vielem Bedenken und Zögern folgte er ihrem Rat und heiratete eine uckermärkische Pfarrerstochter, an deren Seite er noch ein spätes Glück fand und die ihm sogar im nächsten Jahr eine Tochter schenkte.

Sein rastloser Geist konnte nicht ruhen. Am Abend seines Lebens beschäftigte ihn noch ein Projekt, das er schon Jahrzehnte zuvor gehegt, der Lieblingswunsch, Preußen auch jenseits der Weltmeere groß, geachtet und blühend zu sehen. Er verfasste eine Denkschrift, worin er den Lenkern des Staats den Vorteil auseinandersetzte, der mit dem Erwerb von Kolonien verbunden war, ja, er machte sich trotz seiner sechsundsiebzig Jahre erbötig, das erste preußische Schiff, das solchem Zweck dienen würde, selbst zu führen. Aber wie leicht zu denken, erweckte sein Vorschlag zu jener Zeit keine ernstliche Beachtung.

Im Jahre 1824, sechsundachtzig Jahre alt, endete der wunderbare Mann sein reiches Leben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Charaktere und Begebenheiten