Deutsch oder Russisch?

Die Lebensfrage Österreichs.
Autor: Schufelka, Franz, Erscheinungsjahr: 1849

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Österreich, Polen, Deutschland, Christen, Juden, Sitten, Bräuche, Bündnisse, Europa, Türkei,
Der Wille, „dass ein freies, großes und einiges Österreich bestehen bleibe immerdar“, ist ein großartiger welthistorischer Wille. Das der österreichische Monarch und seine Räte, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung der meisten und wichtigsten Teile des Reiches von diesem Willen erfüllt sind, ist natürlich. Allein jeder unbefangene Politiker muss anerkennen, das dieser Wille ein europäischer ist. Für das Staatensystem Europas, wie es ist und wohl noch geraume Zeit bleiben wird, und eben für die zeitgemäße Vervollkommnung dieses Staatensystems ist ein großes, einiges, freies Österreich eine Notwendigkeit. Dies ist keine schwarzgelbe Schwärmerei, es ist nicht etwa bloß ein Artikel im Glaubensbekenntnis patriarchalischer Österreicher, es ist keine Schmeichelei der Freunde Österreichs; sondern es ist eine Praktisch-politische Wahrheit, welche selbst von den Nebenbuhlern und Gegnern Österreichs stets anerkannt worden ist. Nach der Schlacht von Austerlitz schrieb Tallyrand an Napoleon: „Eure Majestät können jetzt die österreichische Monarchie zerbrechen; das Dasein derselben ist jedoch für die künftige Wohlfahrt der zivilisierten Nationen unentbehrlich.“

Je aufrichtiger man aber diese Wahrheit anerkennt, desto ernster muss man dem obigen offiziellen Willensspruch die Frage entgegenstellen: „Muss nicht dem Bestehenbleiben das Bestehen vorausgehen, und besteht denn ein freies großes einiges Österreich, ja ist es jemals bestanden?“

Ein großes mächtiges Österreich bestand, aber frei und einig war und ist es nicht.

Es schien einig, so lange es die Uniform des Absolutismus trug. Als die Völker diese Zwangsjacke zerrissen und wegwarfen, wurde die Zerrissenheit Österreichs offenbar und Metternichs Wort: „Österreich kann die Freiheit nicht ertragen“, schien in Erfüllung zu gehen.

Allein warum zeigte das österreichische Staatsgebäude solche tiefe Risse, als die Eisenklammern des Absolutismus wegfielen? Weil dem Kaiserbau vom Anbeginn die feste Grundlage fehlte.

Die deutsche Kaiserstellung war die Grundlage, auf welcher die österreichische Monarchie emporgewachsen. Ungeachtet des unglücklichen politischen und kirchlichen Systems, durch welches sich Österreich mehr und mehr von Deutschland absonderte, war die historische Kaiseridee dock nach innen und außen mächtiger, als die Habsburgischen Fürsten einsahen. In der Anschauung der österreichischen wie der fremden Völker waren Deutschland und Österreich eins. Die nichtdeutschen Österreicher fühlten sich, wenn auch widerstrebend, als zum deutschen Kaiserreich gehörig, und ihre Abneigung wurde durch die Wahrnehmung in Schranken gehalten, dass sie es nicht bloß mit der Minderzahl der Deutschen in Österreich, sondern mit der ganzen großen deutschen Nation zu tun hätten. Die fremden Völker, zumal die östlichen, wagten es nicht auf die Zerrissenheit Österreichs zu spekulieren, weil dieselbe — um bildlich zu sprechen — durch den deutschen Kaisermantel verhüllt war.
Dies war die mächtige innere Bedeutung der deutschen Kaiserwürde für Österreich, aber die österreichischen Fürsten verkannten und übersahen dieselbe, weil durch ihr eigenes Versäumen und Verschulden die äußere Macht der deutschen Krone immer unbedeutender geworden war.*) Deshalb gab man sich immer mehr und mehr der Täuschung hin, Österreich sei ein selbständiger Staatsorganismus, während es doch in der Tat nur durch die Verbindung mit Deutschland organisch belebt war.

*) Joseph II. hatte zu spät die rechte deutsche Kaiseridee. Er sprach zu den Ungarn: „Ich bin Kaiser von Deutschland, und Ungarn ist eine Provinz meines Reiches.“

In dieser stolzen Täuschung löste man sich immer mehr von dem deutschen Reichsorganismus ab und versäumte es zu gleicher Zeit, durch eine freisinnig schöpferische Hauspolitik die Hausländer nach und nach zu einem organischen Staat zu machen. Die unglückliche Wirkung dieser Täuschung war es, dass Kaiser Franz voreilig die deutsche Krone niederlegte und ein selbständiges Kaisertum Österreich proklamierte. Mit dieser Proklamation war in der Tat die Existenz Österreichs in Frage gestellt. Allerdings offenbarte sich dies nicht sogleich. Noch wirkte der Nachglanz der deutschen Kaiserkrone verherrlichend auf die neue österreichische; und da das neue Staatsgeschöpf in den ersten Jahren seines Daseins durch die Kämpfe, die es für und mit Deutschland gegen Frankreich führte, gleichsam noch im Blutumlauf des Mutterleibes blieb, so zeigte es sich lebenskräftig und erkämpfte sich einen glücklichen Frieden. Aber man er, kannte die innere Ursache nicht, vielmehr steigerte sich die alte unselige Täuschung. Kaiser Franz und Metternich zählten nur die Quadratmeilen und Untertanen, und da sahen sie, dass Österreich für sich ebenso groß und größer sei als Deutschland. Sie betrachteten ferner die Vielstaaterei in Deutschland und daneben die strenge Alleinherrschaft in Österreich, und da glaubten sie, Österreich sei mächtiger als Deutschland. Sie übersahen, dass in Deutschland ungeachtet der Vielherrschaft doch nur Ein Volk und dieselbe geschichtliche Erinnerung; in Österreich dagegen ungeachtet der Einherrschaft verschiedene Völker mit widerstrebenden geschichtlichen Erinnerungen.

In dieser Verblendung blickte man hochmütig auf Deutschland hinab, und anstatt den Grundstein Österreichs fest in den deutschen Nationalbau einzufügen, gab man sich dem Wahn hin, Österreich sei die Stütze Deutschlands. Daher der hoffärtige Ausspruch: „Österreich tritt dem deutschen Bunde bei — zum Schutze der kleinen deutschen Staaten;“ daher die selbstmörderische Halbierung Österreichs in das deutsche und nichtdeutsche *); daher die wahnwitzige Unterscheidung einer deutschen und einer europäischen Stellung!

*) Man wende nicht ein, dass ja die slawisch-ungarischen Länder auch nicht zum deutschen Reiche gehört. Damals reichte, wie gesagt, der deutsche Kaisermantel auch über diese Linder. Die Bewohner der türkischen Donaulinder anerkennen dies noch heute; ihnen fängt an der Grenze Siebenbürgens und Ungarns das deutsche Reich — das Reich an.

Allein noch war nicht alles verloren; selbst die Bundesverfassung — ehrlich, freisinnig und verständig benützt — hätte Österreich wenigstens zum Teil Ersatz bieten können für die verlorene Kaiserstellung. Doch in Metternich wurde die altösterreichische Verblendung zur völligen Blindheit. Er arbeitete rastlos darauf hin, dass Österreich von Deutschland ganz und gar getrennt und abgestoßen wurde und dort keinen andern Einfluss mehr übte, als den verhassten einer feindlich fremden Macht. Dadurch verlor Österreich seine althistorische Basis, und da weder Kaiser Franz noch Metternich einen Funken schöpferischen Genies besaßen, sondern sich lediglich auf dem althergebrachten faulen Kanzleimechanismus, auf Zensur, Spione, Jesuiten und militärische Gewalt verließen, so blieb das neue Kaisertum Österreich unter ihnen ein Körper ohne Seele.
Eine Reihe von Jahren hindurch gelang es dem Gewaltsystem, Gedanken und Gefühle zu fesseln, aber sie wurden dadurch nur tiefer und zorniger, und traten beiden Madjaren und Italienern bald als entschiedene Opposition hervor, und zwar nicht als Opposition, wie sie ehrlicher Patriotismus anregt und welche jedem Staatsorganismus, der nicht in Fäulnis geraten soll, notwendig ist, sondern als Opposition gegen die Verbindung mit Österreich, also gegen die Existenz des Kaiserstaates. Noch gefährlicher für das Wesen Österreichs wurden die Bestrebungen der Slaven, die, weil sie sich in dem von Deutschland getrennten Österreich in der überwiegenden Mehrheit fanden, das alte deutsche Kaiserland in ein slawisches Reich verwandeln wollten. Alle diese das historische Österreich negierenden Bestrebungen erwuchsen während des Druckes und durch ihn zu einer solchen Leidenschaftlichkeit, dass sie, nachdem für Wort und Tat die Freiheit errungen war, in offener Feindschaft gegen Österreich auftraten.
Plötzlich hörte man nicht nur außer, sondern selbst in Österreich das Urteil: ein Kaisertum Österreich sei eine bloße Fiktion; es existiere nur büreaukratisch; es könne und dürfe nicht politisch-national existieren. Gerade die freisinnigsten Österreicher machten dieses Urteil zu ihrem Wahlspruch, und hörten damit auf, Österreicher zu sein. Was noch niemals in irgend einem Staate geschehen war, trat in Österreich hervor: der größte Teil der Opposition arbeitete für die Auflösung der Monarchie. Die Ursache davon bestand in dem Mangel eines österreichischen Staats- d. i. politischen Nationalbewusstseins. Mit Ausnahme der Bewohner des Großherzogtums fühlte sich niemand als Österreicher. Es gab eine deutsche, slawische, madjarische, italienische Begeisterung, aber keine österreichische. Die Länder der Monarchie hatten an dem Kaiserthron dieselbe Spitze, dasselbe Haupt; aber diesem Kaiserthron fehlte offenbar die politisch-nationale Basis, und so durfte man mit buchstäblicher Wahrheit sagen: da die österreichischen Länder Keinen andern Vereinigungspunkt haben als den Kaiserthron, so ist das Kaisertum als solches auf die Spitze, auf den Kopf gestellt und wird sich in dieser unnatürlichen Stellung nicht halten können.

Die Revolution gab sich viele Mühe letzteres zu beschleunigen; da ergriff endlich die Gegenrevolution das Ruder, oktroyierte ein österreichisches Staatsbewusstsein, dekretierte einen österreichischen Gesamtpatriotismus, antizipierte ein durch ein und dasselbe Grundgesetz zentralisiertes Kaiserreich.

Die Mittel und Wege der Gegenrevolution verdienen größtenteils den schärfsten Tadel; der Zweck aber, den sie in der eben bezeichneten Richtung verfolgt, muss als ein großartiger, von der Notwendigkeit gesetzter anerkannt werden. Man unternimmt, was unternommen werden muss, was längst hätte geschehen sollen. Man muss, wie gesagt, die Mittel und Wege der Regierung tadeln; aber das, was sie tut, um Österreich zusammen zu halten und organisch zu einigen, müsste und würde jede Regierung, auch eine republikanische in gleicher Lage tun. Österreich befindet sich in der Alternative des Entweder — Oder, des Jetzt — oder nie.

Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

Napoleon Bonaparte (1769-1821) französischer Kaiser

Metternich, Klemens Fürst (1773-1859) österreichischer Diplomat und Staatsmann

Metternich, Klemens Fürst (1773-1859) österreichischer Diplomat und Staatsmann

Friedrich Wilhelm III. König von Preußen (1770-1840)

Friedrich Wilhelm III. König von Preußen (1770-1840)

Empfang beim Frieden von Tilsit 1807. Napoleon, Alexander I. Zar von Russland, Luise und Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Gemälde von Nicolas Gosse (1)

Empfang beim Frieden von Tilsit 1807. Napoleon, Alexander I. Zar von Russland, Luise und Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Gemälde von Nicolas Gosse (1)

Elisabeth (1709-1762) Kaiserin von Russland

Elisabeth (1709-1762) Kaiserin von Russland

Gustaf IV. Adolf (1778-1837) König von Schweden von 1792-1809

Gustaf IV. Adolf (1778-1837) König von Schweden von 1792-1809

Kaiserin Maria Theresia und Familie

Kaiserin Maria Theresia und Familie

Peter der Große (1672-1725) Kaiser von Russland 1717

Peter der Große (1672-1725) Kaiser von Russland 1717

Haus in Wien, IV., Lambrechtsgasse 8A

Haus in Wien, IV., Lambrechtsgasse 8A

Der Volksprater.

Der Volksprater.

Der Michaelerplatz und das Burgtheater.

Der Michaelerplatz und das Burgtheater.

Kahlenberg und Leopoldsberg.

Kahlenberg und Leopoldsberg.

Das Paradeisgartel.

Das Paradeisgartel.

Das Schottentor und die Schottenbastei.

Das Schottentor und die Schottenbastei.

Russland 002. Petersburg. Der Taurische Palst (Gebäude des Reichsduma)

Russland 002. Petersburg. Der Taurische Palst (Gebäude des Reichsduma)

Russland 008. Petersburg, Teebude in einer Vorstadt

Russland 008. Petersburg, Teebude in einer Vorstadt

Russland 012. Petersburg, Die Admiralität, Erbaut von 1727 an, Architekt Sacharow

Russland 012. Petersburg, Die Admiralität, Erbaut von 1727 an, Architekt Sacharow

Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz

Russland 010. Petersburg, Isaaksplatz

Russland 037. Moskau, Die Universität (1755)

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Russland 026. Wjatka, Auferstehungskirche, 17. Jahrhundert

Russland 026. Wjatka, Auferstehungskirche, 17. Jahrhundert