Zweite Fortsetzung

Deshalb ist es patriotische Pflicht, das Ministerium zu warnen, es an seine Erklärung vom 3. März zu erinnern, zugleich aber auch die öffentliche Meinung zu wecken, damit durch sie die Regierung unterstützt werde in der Stunde der Versuchung.

Ich werde meinesteils diese patriotische Pflicht zu erfüllen streben, sine ira et studio. Ohne Schwärmerei für Deutschland, denn diese ist gegenwärtig ziemlich abgekühlt; aber auch ohne Leidenschaftlichkeit gegen Russland, denn diese würde jetzt das Gastrecht verletzen. Ich werde die Interessen Österreichs so besprechen, wie ich die Interessen Russlands besprechen würde, wenn ich ein Russe wäre.


Wenn man bloß den äußern diplomatischen und dynastischen Verkehr betrachtet, so erscheint das Verhältnis Russlands zu Österreich als ein fast ununterbrochen und durchaus freundschaftliches! Aber das ist nur scheinbar. Von dem Augenblicke an, als Russland aus asiatischer Dunkelheit auf den Schauplatz Europas getreten, ist es der natürliche und notwendige Gegner Österreichs, und mit jedem Schritte, den es gegen West und Südwest vorwärts machte, bedrohte es die Lebensinteressen des Kaiserstaates.

Ich sage ausdrücklich: Russland ist der natürliche und notwendige Gegner Österreichs, und zeige dadurch, dass ich nicht Persönlichkeiten, deren Charaktere und Affekte im Auge habe, sondern lediglich die Sache. Im Verhältnis großer Staaten zueinander sind die Verhältnisse der regierenden Persönlichkeiten von geringem oder gar keinem Einfluss; zumal bleibt da persönliche Freundschaft, ja nicht selten sogar kindliche Liebe völlig wirkungslos. Große Völkerstaaten haben ihr Verhängnis, welches sie drängt und treibt und von dem die größten Persönlichkeiten mit fortgerissen werden. Dieses Verhängnis; nun macht Russland zum Gegner Österreichs.

Der Dämon, welcher Russland treibt, ist die rastlose Begierde, sich nach Westen und Südwesten hin zu Vergrößern und seinen Einfluss über die Grenzen hinaus zu erweitern.

Als der Genius der Geschichte Russland bestimmte, ein Kulturstaat zu werden, so war es anfangs ein Gebot der Notwendigkeit, dass die Herrscher über die wüsten Grenzen des alten Moskowiens hinausstrebten, um der befruchtenden Berührung der westlichen Kultur teilhaftig zu werden. Als dies über alle Erwartung glücklich gelungen war, erwachte zuerst die allgemein menschliche Begierde der Besitzenden, immer mehr zu besitzen. Als auch diese Begierde reichlich genährt war, loderte der politische Ehrgeiz auf, unter den zivilisierten Mächten eine ebenbürtige Rolle zu spielen. Nachdem auch dies glänzend erfüllt war, wurde Russland von einer doppelten Schwärmerei ergriffen; erstlich von der kirchlich frommen Idee, das griechische Kaisertum zu erneuern, und dann von der nationalen Phantasie, alle Slawenstämme zu einem großen Weltreich zu vereinigen. Russland aber schwärmt nicht bloß theoretisch, sondern es arbeitet mit gläubig frommer Zuversicht und darum mit unerschütterlicher Ausdauer an der praktischen Realisierung seiner Schwärmereien. Wie sehr nun durch alles, was Russland bereits aufgeführt hat, Österreich gefährdet und beschädigt ist, und wie die glückliche Lösung der großen Aufgaben, die sich Russland gestellt, notwendig zum Verderben Österreichs ausfallen müssen, das brauche ich nicht weitläufig auszuführen; wer die
Landkarte betrachtet und die Bevölkerungsverhältnisse Österreichs erwägt, wird es klar einsehen müssen.

Wenn ich hiermit in Russland den vom Verhängnis selbst heraufbeschworenen Gegner Österreichs erkenne und nenne, so will ich dadurch kein unbedingtes Verdammungsurteil über die kühnen russischen Projekte ausgesprochen haben. Ich bin im Stande, diese russische Politik auch vom russischen Standpunkt aus zu betrachten und zu begreifen, wie sie das Nationalgefühl der Russen begeistern muss. Ich weiß freilich, dass es einsichtsvolle Russen gibt, die mit dieser schwärmerischen Richtung der Regierung, mit diesem gierigen Umsichgreifen, mit diesem fortwährenden Außersichkommen Russlands gar nicht einverstanden sind und behaupten, Russland versäume darüber die Erfüllung seiner großen kulturgeschichtlichen Aufgabe im Innern. Man kann bei ruhiger Betrachtung diesem Unheil beistimmen, aber dennoch begreifen, dass die Mehrzahl der gebildeten Russen von der großartigen Machtentfaltung ihres Vaterlandes stolz begeistert und durch bisherigen glänzenden Erfolg verleitet werden können, das Gelingen auch der letzten und höchsten Pläne zu hoffen. —

In Europa und namentlich in Deutschland betrachtete man eine geraume Zeit hindurch das Heranwachsen Russlands bloß vom kulturgeschichtlichen Standpunkte aus, freute sich darüber und unterstützte es auf jede Weise. Zu spät erkannte man, dass der russische Zögling dem Lehrer über den Kopf wuchs und seine eigenen Wege ging. Mit der allgemeinen europäischen Bildung gleichen Schritt zu halten, war für Russland eine Unmöglichkeit, und sich in bescheidener Zurückgezogenheit mit sich selbst zu beschäftigen, widerstrebte dem einmal rege gewordenen politischen Ehrgeiz. Russland fand sich dadurch natürlich veranlasst, ja durch den einmal in Bewegung gekommenen Gang seiner geschichtlichen Entwicklung und durch seine eigentümlichen Interessen genötigt, das schwere Gewicht seines Einflusses als Hemmnis der staatsrechtlichen und sozialen Bildung Europas wirken zu lassen. Nun trat bei allen Völkern leidenschaftlicher Hass an die Stelle der früheren kosmopolitischen Bewunderung Russlands.

Österreich, der durch das Vordringen Russlands zunächst und unmittelbar in allen geistigen und materiellen Belangen bedrohte Staat, erkannte die Gefahr, sobald sie ihm näher gerückt war. Bewundernswert ist es, dass die große Maria Theresia wie über die Teilung Polens so auch über das Verhältnis Österreichs zu Russland die richtigste Ansicht hatte. Ihre bedeutungsvolle Äußerung, sie wolle die russische Kaiserin gern zur Freundin aber niemals zur Nachbarin haben, kann nie genug ins Gedächtnis gerufen werden. Was würde die edle Frau empfinden, wenn sie sähe, dass jetzt die größere Hälfte Österreichs von den russischen Grenzen umklammert ist, und dass russische Truppen die Madjaren unterwerfen helfen, deren Väter mit so freudiger Begeisterung für ihren König Maria Theresia zu sterben bereit waren!

Josef II. wird des Bündnisses wegen, welches er mit Russland gegen die Türkei schloss, mit Recht getadelt; aber er tat es nicht aus Verkennung der Bedürfnisse Österreichs, sondern im Gegenteil, weil er klar sah und die Russen nicht allein in den Türkenländern schalten lassen wollte. Er schrieb damals: „Die Russen sind auf dem Wege nach Konstantinopel; aber wir müssen ihnen an der Donau zuvorkommen.“ Es gelang ihm nicht; der Russenbund fiel unglücklich für Österreich aus.
Das Gleiche war der Fall mit der russischen Allianz Österreichs gegen Frankreich. Man darf nur an Suwarow, der den Namen Italinski bekam, und an die Schlacht bei Austerlitz erinnern.

In dem Befreiungskampfe gegen Frankreich, aus welchem Russland ganz unverhältnismäßige Vorteile zog, sah man zugleich, wie mächtig bei aller Verschiedenheit des Staatsprinzips und ungeachtet der heftigsten zeitweiligen Feindschaft die eroberungssüchtigen Tendenzen Frankreichs und Russlands auf ein Bündnis zwischen beiden Mächten hinarbeiten. Man weiß mit welcher Schwärmerei sich Alexander mit Napoleon alliierte, und wie er unmittelbar nach dem großen Kampfe gleich wieder als Beschützer der Franzosen gegen die gerechten Ansprüche Deutschlands auftrat, wie wesentlich er es war, der die Wiedervereinigung des Elsasses mit Deutschland hintertrieben. Napoleon aber tröstete sich dem ganzen Europa gegenüber mit der Hoffnung: „Une mission au quartier russe partagerait le monde en deux.“ Und die Erfüllung dieser Hoffnung ist noch immer nicht nur möglich sondern sogar leicht wahrscheinlich. Frankreich will über seine östliche und nordöstliche, Russland über die westliche und südwestliche Grenze vorwärts. Wenn sich beide die Hand reichen, so wird zwar nicht die Welt, aber doch gewiss Deutschland und Österreich in zwei Teile geteilt werden. Man denke dabei an die bedeutsamen Worte, welche Kaiser Nikolaus gesprochen, da er einen Napoleoniden als Schwiegersohn an seinem Hofe vorgestellt: „Die Romanow und Bonaparte sind schon dadurch verbunden, dass beiden der Ruhm ihres Vaterlandes stets das höchste Ziel ihres Strebens war.“ — Und jetzt steht ein Bonaparte an der Spitze Frankreichs!

Völlig und schmählich in Nachteil geriet Österreich Russland gegenüber durch die heillose Politik Metternichs. Dadurch, dass er im griechischen Befreiungskampfe für die Türken gegen die Griechen Partei nahm, lud er den Hass der ganzen griechischen Bevölkerung, welche bekanntlich in der Türkei die Majorität bildet, auf Österreich und drängte die Sympathien und Hoffnungen derselben zu Russland hin, Metternich handelte so, weil er fürchtete, Russland würde den Griechenaufstand zu seinem Vorteil ausbeuten; er handelte aber, als ob er von Russland bezahlt worden wäre. Russland stand als Befreier Griechenlands da, gab zwar einstweilen den Marsch nach Konstantinopel auf, nahm aber die Donaumündung und die Suprematie über die Donaufürstentümer. Nun folgte eine diplomatische Niederlage Österreichs der andern, und Russland dehnte seinen herrschenden Einfluss über Bosnien und Montenegro bis an das adriatische Meer aus.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsch oder Russisch?