Erste Fortsetzung

Deshalb nannte ich Eingangs dieser Schrift den organischen Grundgedanken der Verfassung vom 4. März einen großartigen; aber ebenso aufrichtig muss ich das in dieser Verfassung konstituierte Reich einstweilen noch ein bloßes Reichsprojekt nennen. Die allen Sehenden vor Augen liegenden Tatsachen rechtfertigen diese Benennung. Ungarn und Siebenbürgen müssen erst erobert, die Südslawen für die neue Reichsidee erst gewonnen werden. Italien ist noch nicht ganz bezwungen und noch viel weniger versöhnt. Galizien, obwohl tief niedergeworfen und lebensgefährlich zerrissen, ist doch und gerade deshalb kein sicherer Bestandteil des neuen Reiches. Aber auch die altösterreichischen Erbländer sind durch die Beziehung zu Deutschland in ihrem Zusammenhange mit der dynastischen Gesamtmonarchie erschüttert.

Hier kommen wir zu dem verhängnisvollen Hauptgegenstand dieser Schrift:
Während die oktroyierte Verfassung von der Beziehung Österreichs zu Deutschland keine Erwähnung macht, soll das durch diese' Verfassung projektierte Reich mit Hilfe Russlands aufgebaut werden.


Daraus entspringt die Lebensfrage Österreichs: „Deutsch oder russisch?“

Die Verfassung vom 4. März macht den großartigen Versuch, aus dem bunten österreichischen Länderkomplex einen selbstbewussten, organisch zentralisierten. Einheitsstaat zu bilden. Dieser Versuch kann gelingen, unter Einer Bedingung; er wird und muss misslingen, wenn nicht diese, sondern eine andere Bedingung eintritt.

Österreich ist als Großmacht nicht in derselben Lage wie die vier andern Mitglieder der Pentarchie.

England und Frankreich haben durch ihre günstige geographische Lage, durch die Macht ihrer geschichtlichen Erinnerungen und durch die Zentralisation ihrer politischen Kräfte eine gänzlich selbständige Stellung, sie können für sich allein ihre eigene Politik verfolgen, sie haben ihren Schwerpunkt in sich selbst.

Russland ist durch seine isolierte Weltlage und durch den Despotismus, welcher dem Genius seiner Völker entspricht, in gleicher Lage wie England und Frankreich.

Preußen ist eigentlich keine Großmacht für sich, sondern präsentiert die Großmacht Deutschlands. Es hat also unzweifelhaft seinen Schwerpunkt in Deutschland, ist mächtig weil, und bleibt mächtig, so lang es deutsch ist. Überdies hat sich Preußen durch großartige Geschichtsepochen das mächtig nützliche Staatselement eines politischen Stolzes,«n es preußischen Bewusstseins geschaffen.

Österreich ist durchaus in keiner so günstigen Lage wie die andern Großmächte. Es ist nicht zentralisiert, denn die bisherige Richtung des Volkslebens zum Mittelpunkt war keine natürliche und freiwillige, sondern eine künstlich und gewaltsam erzwungene. Es hat ferner nicht wie Frankreich und England die ethnographische Verschiedenheit der Nationalitäten durch eine gemeinsame politische Nationalität überwunden. Es kann nicht durch eine stolze Gesamtgeschichte die historische Eitelkeit der einzelnen Stämme überwältigen. Es hat das Band des Absolutismus, wodurch es zusammengehalten worden, für immer verloren. Österreich hat ferner nicht wie Preußen einen bestimmt ausgesprochenen Charakter und unverkennbar angewiesenen Platz. Österreich befindet sich endlich auch seinem Gebiete nach auf keinem gesicherten Schauplatz, sondern nimmt den höchst gefährlichen Vorposten zwischen Europa und Asien ein.

Aus diesen unleugbaren Tatsachen ergibt sich die ebenfalls tatsächlich erwiesene Wahrheit, dass Österreich auf dem Schauplatz der Weltpolitik nicht isoliert handeln kann, dass es keine streng österreichische Weltpolitik, dass es in den großen Lebensfragen Europas keinen spezifischen Austriazismus gibt. Österreich braucht Bundesgenossenschaft, es muss mit einer andern Macht eine gemeinsame Politik verfolgen.

Wo findet nun Österreich die seinen Interessen entsprechende Bundesgenossenschaft?

Dass nicht in Frankreich, ist durch die Geschichte hinlänglich bewiesen. Österreich hat zwar einige Bündnisse mit Frankreich versucht, sie haben uns aber jedes mal nur Schimpf und Schaden gebracht. Die wirklichen und eingebildeten Interessen Frankreichs fordern die Schwäche, ja den Zerfall Österreichs.

England war lange ein treuer Bundesgenosse Österreichs, aber offenbar nur solang, als Österreich in der Weltpolitik eine untergeordnete passive Rolle spielte und besonders sich's nicht beikommen ließ, die britische Seeherrschaft irgendwie zu beeinträchtigen. Wenn sich Österreich zur wahren Großmacht entwickelt und namentlich an der Donau und am Mittelmeer die Stellung einnimmt, zu der es berufen ist, so muss es auf die Feindschaft Englands gefasst sein. Ein frei mächtiges Österreich ist den Interessen Englands zuwider und die Interessen Englands sind gefräßig. Schon jetzt offenbart sich dies. Selbst im Oberhause Großbritanniens äußern sich Sympathien für die madjarische Republik, und die Times ärgert sich, dass Österreich die Lombardie wieder besitzt! —
Da Preußen auf dem Weltschauplatz nicht für sich, sondern nur mit Deutschland in Betracht kommt, so bleibt für Österreich nur die Wahl zwischen Deutschland und Russland.

Deutsch oder russisch? das ist die Frage.

Sie wird angeregt durch die beiden Hauptelemente der Bevölkerung Österreichs. Der Kaiserstaat kann seinen Schwerpunkt nicht in sich selber finden, da die beiden vorherrschenden Elemente seiner Bevölkerung zu zwei verschiedenen großen Nationen hinziehen. Österreich muss sich in seiner Großpolitik für die eine oder die andere dieser Nationen entscheiden. Geschieht dies nicht, so bleibt die Politik Österreichs jenes Schaukelsystem, welches bisher geherrscht hat. Dieses immerwährende Schaukeln würde aber den Völkern endlich unbezwingbaren Ekel erregen, ja es hat ihn bereits erregt.

Auch die Gebietslage Österreichs regt jene verhängnisvolle Frage an. Österreich liegt zwischen Deutschland und Russland, von beiden mit großen Stücken in Anspruch genommen, ja gewissermaßen besessen — von deutscher Seite sogar positiv staatsrechtlich. Eine Vermittlung zwischen Deutschland und Russland ist unmöglich; der Genius der Nationen und die Interessen der Staaten widerstreben sich. Österreich muss sich für die eine oder die andere Seite entscheiden; eine deutschrussische Zwitterpolitik kann nicht von Dauer und noch weniger von Nutzen und Ehre sein.

Das Verhängnis Europas drängt ferner unverkennbar zu einem großen Kampf des Westen gegen den Osten. Österreich kann in diesem Kampfe nicht neutral bleiben, es muss mit Deutschland oder mit Russland stehen, wenn es nicht für die eine oder die andere Partei der Kampfpreis werden will.

Österreich muss sich entschieden und offen entweder mit Deutschland oder mit Russland verbünden.

Welches Bündnis raten ihm seine Interessen?

Es wird vielleicht sonderbar oder gar lächerlich erscheinen, dass ich eine Frage theoretisch erörtere, welche praktisch bereits entschieden ist.

Allein selbst im Falle, als diese Frage wirklich schon entschieden wäre, was sie meiner Überzeugung nach keineswegs noch ist, wäre doch die Kritik in ihrem Rechte und in ihrer Pflicht. Die Wahrheit ist an und für sich berechtigt und verpflichtet, sich auszusprechen, ohne Rücksicht auf den Erfolg. Schillers Wort: „Es gibt Zeiten, wo man öffentlich reden muss“, findet gewiss die vollste Anwendung auf unsere Zeit. Und wäre diese Lebensfrage Österreichs wirklich entschieden, so könnte die Kritik, falls es ihr gelingt zu überzeugen, doch noch nützlich wirksam werden. Das Bündnis mit Russland ist nicht auf ewige Zeiten geschlossen, und wenn es dies auch wäre, so weiß man ja, dass die Ewigkeit der Diplomaten nichts ist, als eben eine diplomatische Artigkeitsphrase.

Das jetzige Bündnis Österreichs mit Russland ist vor der Hand nichts als das Produkt einer wirklichen oder vermeintlichen Notwendigkeit — eine Hilfe in der Not. Windischgrätz verdarb durch seine Fehler und Täuschungen die Sache Österreichs so sehr, dass das Ministerium in augenblicklicher Bestürzung an der eigenen Kraft Österreichs verzweifelte und die oft angebotene, ja wenn die Berichte nicht trügen, fast aufgenötigte russische Hilfe annahm. Die Sachlage widerspricht der Behauptung Russlands nicht, dass es durch seine Hilfe nichts anderes bezwecke als die Unterdrückung einer Revolution, durch die es in der Tat in seinem eigenen Bestande gefährdet ist. Dass ferner bei einer solchen Hilfe nicht notwendig das politische System in Frage kommen muss, ist dadurch bewiesen, dass die Republik Frankreich in Rom die Monarchie restauriert.

Dessen ungeachtet ist dieses Russenbündnis nicht leicht hinzunehmen, und wenn ich es leicht hinnähme, so hätte ich mich wahrlich nicht gedrängt gefühlt, gerade jetzt diese Broschüre zu veröffentlichen.

Ich sage jetzt ohne Scheu, was ich am 3. März zu Kremsier gesagt: „die Russenhilfe ist ein Unglück für Österreich.“ Das Ansehen Österreichs ist dadurch bedeutend vermindert, das Vertrauen der Völker geschwächt, die Position, welche Österreich gegen Osten einnehmen soll, verrückt und erschüttert. Am 3. März gab der Herr Finanzminister Kraus, der mich im Namen des Ministeriums zu widerlegen suchte, öffentlich und offiziell zu, dass das Einrücken der Russen in Siebenbürgen ein bedauerlicher Vorfall sei. Er versicherte in öffentlicher Reichstagssitzung, die Russen seien ohne Wissen und Willen der österreichischen Regierung eingerückt, und das Unglück sei durch die gänzlich unterbrochene Kommunikation mit Siebenbürgen veranlasst.

Ich bin nicht berechtigt, an der Wahrheit dieser öffentlichen ministeriellen Versicherung zu zweifeln. Wenn nun das Ministerium am 3. März über die Teilnahme Russlands an den inneren Kämpfen Österreichs wirklich so dachte, wie der Herr Finanzminister es aussprach, so hieße es den staatsmännischen Charakter der Minister beleidigen, wenn man annähme, sie hätten in einer so wichtigen Lebensfrage ihre Überzeugung in der kurzen Frist vom März bis Mai ins äußerste Gegenteil geändert. Man muss daher als gewiss voraussetzen, das Ministerium habe die russische Hilfe nur widerstrebend und nach dem Grundsatze angenommen: „Not kennt kein Gebot.“
Allein der einmal getane Schritt ist nicht leicht zurück zu machen; und darin liegt die Gefahr. Es ist möglich, dass dieses offenbar als bloß vorübergehend geschlossene Russenbündnis einen bleibenden Einfluss auf die Schicksale Österreichs gewinnt, und ein solcher Einfluss könnte der Natur der Sache nach nur ein verderblicher sein.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsch oder Russisch?