Erste Fortsetzung

Beim Beginn des Feldzuges war der Stab des Feldmarschalls Barklai mit außerordentlicher Gleichmäßigkeit zusammengesetzt: General Lawroff war der Chef desselben, General Muchin General-Quartiermeister, Beide — in hohem Grade unfähig. Schon in Wilna trat an Lawroffs Stelle der Marquis Paulucci, der indes auch nicht lange diesen wichtigen Posten innehatte. Er machte sich durch sein herrisches Wesen und seine Anmaßung bei Allen verhasst und wurde zum Gouverneur von Riga ernannt. An seine Stelle als Chef des Stabes trat Zermoloff und zum General-Quartiermeister wurde Toll ernannt.

Zweck und Bedeutung unseres Rückzuges erkannte weder das Publikum noch das Heer selbst, und dennoch lag gerade in dieser Maßregel unsere einzige Rettung. Als der Kaiser in Polotzk von Barklai Abschied nahm, sagte er ihm: „Erhalten Sie mir mein Heer, ich habe kein anderes." Der durch diese Worte des Kaisers innig gerührte tapfere Feldherr war unablässig bemüht, die Aufgabe zu lösen, die ihm durch den kaiserlichen Wunsch zu Teil geworden, und ertrug hierbei mit einem seltenen Grad von Selbstverleugnung die Anfeindungen von Seiten der Generale, wie die gehässigen Gerüchte, die über ihn beim Publikum im Umlauf waren. Barklai stammte aus einer schottischen Familie, die seit einem Jahrhundert in Livland ansässig ist. Er war kein Nationalrusse und das war der Grund der Anfeindung, die er zu erdulden hatte. Der Hass äußerte sich endlich in solch' einem Grade, dass der Kaiser sich gezwungen sah, zur Befriedigung des Nationalgefühls einen russischen Namen an die Spitze der Armee zu stellen; Kutusoff erhielt das Oberkommando über beide damals bei Smolensk vereinigte Armeekorps. Ich blieb bei dem Heere bis Gschatzk, da erhielt ich den oben erwähnten Befehl.


Auf meiner Hinreise nach Petersburg, die ich sogleich antrat, traf ich mit Kutusoff zusammen und musste ihm Auskunft über den Zustand des Heeres geben. Er hatte eine glänzende Laufbahn durchgemacht. Der Sieg, den er in der Schlacht an der Donau über den Großvezier erfocht, hatte den Abschluss des in dem Augenblick für Russland so wertvollen Friedens von Bucharest zur Folge. Der Friedensschluss machte es möglich, das dort befindliche Heer zur Verteidigung des Vaterlandes gerade jetzt herbeizurufen, als Napoleon an der Spitze von 400.000 Mann heranzog. Wir erhielten die Nachricht von dem Abschluss des Friedens in Wilna, kurz vor Beginn des Krieges. Dem Grafen Rumianzoff genügten die Friedensbedingungen nicht, er verlangte vorteilhaftere, ohne die obwaltenden Verhältnisse zu berücksichtigen, die den Frieden dringend erheischten. Es fehlte nur wenig, so wäre die Bestätigung nicht erfolgt. Die Ansicht des Reichskanzlers von dem Friedensschluss machte sich für den Feldmarschall Kutusoff darin fühlbar, dass sein wichtiger, dem Vaterlande geleisteter Dienst ohne alle Anerkennung blieb. Als er noch außerdem bald darauf sein Kommando an den Admiral Tschitschagoff abtreten musste, so verließ er, gewissermaßen in Ungnade gefallen, das Heer. Aus dieser Lage zog ihn eigentlich mehr die öffentliche Stimme, als das Vertrauen des Kaisers. Übrigens zweifelte der Kaiser nicht ohne Grund an der Fähigkeit Kutusoffs, Napoleon Widerstand leisten zu können. Er war altersschwach und kränklich und seiner Wunden und Leiden wegen unvermögend zu Pferde zu steigen. Seine Tapferkeit unterlag übrigens keinem Zweifel; dabei war er klug und listig, von überaus höflichem Benehmen, aber leider von mangelhafter Willenskraft und allen entscheidenden Maßregeln abgeneigt. Er langte im Heere an, als man nach der blutigen Schlacht von Smolensk die Grenzen des Moskauschen Gouvernements erreichte. Hier handelte es sich um die Entscheidung der Frage: soll die Hauptstadt des Reichs ohne eine neue Schlacht aufgegeben werden? Dies wurde für unmöglich erklärt und somit nahm man bei Borodino Stellung und errichtete in Eile Verschanzungen. Die beiden vereinigten Armeekorps wurden hier noch durch die 10.000 Mann starke Moskausche Landwehr verstärkt, so dass wir im Ganzen 210.000 Mann hatten. Napoleon griff uns an und so erfolgte denn hier der blutige Kampf. Der Feldmarschall Kutusoff leitete die Schlacht aus einer ziemlich bedeutenden Entfernung vom Kampfplatze. Der Held des Tages war Barklai. Er war durch die boshafte Verfolgung zur Verzweiflung gebracht und setzte sich der Gefahr in einer Weise aus, dass es scheinen musste, er suche den Tod. Fürst Bagration war bei Eröffnung der Schlacht gefallen. Sowohl unser, wie der Verlust des Feindes war ungeheuer. Da unsere Hauptschanzen in feindlicher Gewalt waren, so gab der Ober-Kommandeur am Abend den Befehl zum Rückzug. Napoleons Heer befand sich in solchem Zustande, dass an unsere Verfolgung nicht gedacht werden konnte.

In der Nähe von Moskau wurde Kriegsrat gehalten, um zu entscheiden, ob man wiederum eine Schlacht liefern oder ob die Hauptstadt dem Feinde preisgegeben werden solle. Die Mehrzahl entschied sich für die Unmöglichkeit eines abermaligen Kampfes. Somit zog unser Heer durch Moskau, wandte sich aber dann anstatt in der Richtung nach Petersburg, nach dem Kalugaschen Gouvernement und bedrohte dadurch nicht nur die Flanke des französischen Heeres, sondern verlegte ihm auch den Weg nach den fruchtbaren Gegenden des Reichs. Diese Maßregel und die Aufopferung Moskaus haben Russland gerettet und die Franzosen ins Verderben gestürzt. Napoleon war von seiner Umgebung vor der Gefahr, der er sich aussetze, wenn er die Grenzen des alten Polens überschreite, vielfach gewarnt worden. Aber alle diese Bemühungen waren fruchtlos geblieben; denn die Aussicht, in Moskau den Frieden zu diktieren, war für ihn zu lockend gewesen. Napoleon hatte dabei auf die Nachgiebigkeit des Kaisers Alexander gerechnet und hatte geglaubt, dass er gleich den übrigen Herrschern nach dem Verlust seiner Hauptstadt bereit sein werde, einen nachteiligen Frieden zu unterzeichnen. Ungeachtet des Brandes von Moskau, der ihn eines Andern hätte belehren sollen, rechnete Napoleon doch noch auf einen erwünschten Erfolg der Unterhandlungen, die er angeknüpft hatte, die aber von Kutusoff absichtlich in die Länge gezogen wurden, und ließ sich durch diese trügerische Hoffnung verleiten, seinen Aufenthalt in der verbrannten Hauptstadt unnützerweise zu verlängern. Als er erfuhr, welche Richtung unser Heer eingeschlagen hatte, erkannte er sogleich den Zweck der Maßregel und entsandte gegen uns ein Beobachtungskorps unter Murat. Dieser schlug unweit Tarutino ein Lager auf. Als Kutusoff die zu ausgedehnte Stellung des feindlichen Heeres bemerkt hatte, entsandte er sogleich Bennigsen an der Spitze von auserlesener Mannschaft zum Angriff. Dieser gelang vollkommen, Murat musste sich mit dem Verlust von 18 Kanonen, vielen Toten und Gefangenen zurückziehen. Der Erfolg des Kampfes wäre ein noch viel bedeutenderer gewesen, wenn nicht gleich bei Eröffnung desselben einer unserer besten Generale getötet worden wäre, in Folge dessen seine Division verhindert wurde, die feindliche Stellung zu umgehen.

Die Nachricht von dieser glücklichen Unternehmung überbrachte der Obrist Michaud nach Petersburg. Gleichzeitig lief die Nachricht ein, dass Napoleon seinen Rückzug angetreten habe. Die durch diese Ereignisse bei Hofe wie in der ganzen Stadt hervorgebrachte Wirkung braucht nicht geschildert zu werden. Der Kaiser fragte Michaud, ob dazu Aussicht vorhanden, dass das französische Heer das russische Gebiet verlassen werde. „Ich zweifle so wenig daran", antwortete der Piemontese Michaud, „dass ich Eure Majestät um die Gnade bitte, meinem König seinen Thron zurückzuerstatten." Der Kaiser versprach ihm das und hat in der Folge sein Versprechen erfüllt. —

Während der ganzen Zeit hatte ich keine andern Arbeiten zu besorgen, als nur zufolge kaiserlichen Auftrags einige Schriftstücke abzufassen. —

Der berühmte Rückzug dauerte fort; beim Übergan
g über die Beresina erreichte das Elend der Franzosen den höchsten Gipfel. Das 29. Bulletin verkündete dies Europa und Frankreich. In Molodetschno, dem Orte, wo das Bulletin erlassen worden,, verließ Napoleon, nur von Caulaincourt und dem Mameluken Rustan begleitet, sein Heer.
Die große Armee war vernichtet, doch waren noch zwei Armeekorps vorhanden, das Schwarzenbergsche und das Aorksche. Schwärzeuberg zog sich nach Galizien zurück, Aork schloß mit Diebitsch eine Kapitulation ab, der zufolge er sich von Napoleon lossagte. Russland war befreit. Da tauchte die Frage auf: soll man sich mit der Befreiung des Vaterlandes begnügen oder die für die Befreiung Europa's so günstigen Umstände benutzen? Hierbei waren die Meinungen sehr geteilt. Der Feldmarschall Kutusoff, der die Franzosen nur schwach verfolgt hatte, war der Ansicht, dass man dem abziehenden Feinde goldene Brücken bauen müsse; wollte er konsequent sein, so mußte er sich gegen die Fortsetzung des Krieges erklären. Der Kaiser jedoch folgte dem Zuge seines edeln Herzens, verwarf diesen kleinmüthigen Rath und beschloß, das Kommando über das Heer selbst zu übernehmen. Er verließ Petersburg und befahl mir, ihn zu begleiten. Diesmal hatte er den glücklichen Gedanken, sein Gefolge, das ihn im vorigen Frühjahr begleitet hatte, zurückzulassen. Fürst Wolchonski, Graf Araktschejeff und ich waren die einzigen Begleiter. An den Freiherrn von Stein erging der Befehl, sich bei uns einzustellen, sobald die russischen Heere in Preußen einrücken würden. Vor unserer Abreise trug mir der Kaiser auf, einen Aufruf an das preußische Volk zu verfassen. In Wilna stieg ich im Mühlschen Hotel ab und erfuhr hier vom Inhaber desselben, dass bei ihm auch die fremden Diplomaten logiert hätten, welche immer in großer Menge um den Herzog von Bassano gewesen wären. Unter ihnen hatte sich auch einer meiner Freunde, der Chevalier Floret, befunden, den ich im Haag kennen gelernt und später in Paris als Sekretär in der Gesandtschaft des Fürsten Metternich wiedergesehen hatte.