Graf Nesselrode Begleiter und diplomatischer Beirat des Kaisers Alexander 1812—1814.

Bis zum Bruch mit Frankreich erforderte meine neue Stelle fast gar keine Arbeiten. Der Kanzler Rumianzoff besorgte die diplomatischen Geschäfte und nur von Zeit zu Zeit übertrug mir der Kaiser, wenn ihm die vom Grafen Rumianzoff vorgelegte Arbeit nicht genügte, die Abfassung irgend eines Schriftstückes. Die Unterhandlungen mit Frankreich hatten unterdes ihren Fortgang, ja einmal war sogar davon die Rede, mich als außerordentlichen Bevollmächtigten nach Paris zu senden. So ging das Jahr 1811 zu Ende. Im Januar des folgenden Jahres vermählte ich mich mit der Gräfin Marie Gurjew, die mich siebenunddreißig Jahre beglückt hat.

Bald darauf fand ein Ereignis statt, das für mich die verderblichsten Folgen hätte haben können, nämlich die Verbannung meines innigen Freundes Speransky, meiner Hauptstütze beim Kaiser während der ganzen Zeit, wo er sich der kaiserlichen Gunst erfreute.


In der Nacht von Sonntag auf Montag war die Verhaftung vor sich gegangen, am Dienstag Morgen wurde ich zum Kaiser beschieden und hatte hier die Freude, von meinen Befürchtungen, die ich mir hinsichtlich meiner Korrespondenz mit Speransky machte, bald befreit zu werden. Die ganze Korrespondenz war dem Kaiser von Speransky versiegelt zugeschickt worden und lag in dem kaiserlichen Kabinett. Ich traf den Kaiser wegen des Schrittes, den er in der Meinung, dazu gezwungen zu sein, getan hatte, noch in großer Aufregung an. Hatte er sich ja dadurch von einem Manne trennen müssen, dem er innig zugetan war und dessen Gaben er hochschätzte. Speransky war offenbar Balaschoff und Armfeld zum Opfer gefallen, welche die Missstimmung, wie sie wegen der vom Kaiser projektierten und Speransky zur Ausführung übertragenen Reformen allgemein herrschte, dazu benutzt hatten, dem Kaiser vorzustellen, wie gefährlich es sei, am Vorabend eines Krieges, in dem man ganz und gar auf den Patriotismus des Volkes angewiesen sei, das patriotische Gefühl so empfindlich durch das Vertrauen zu verletzen, das der Kaiser einem Manne schenke, der allgemein für einen Verräter gelte und in geheimer Verbindung mit Frankreich stehen solle. Speransky hatte allerdings Verbindungen mit Frankreich unterhalten, aber diese hatten sich nur auf einen Briefwechsel mit dem Herzog von Bassano beschränkt, der nur zu dem Zweck eingeleitet und unterhalten worden war, um über die Napoleonischen Einrichtungen, die in Russland nachgebildet werden sollten, genaue Nachrichten zu erhalten. Diesem Briefwechsel verdankt unser Reichsrat, der dem französischen Conseil de l’empire nachgebildet wurde, seine Entstehung. Hiermit hatten die umfassenden Umgestaltungspläne Speranskys ihr Ende erreicht. Als Verbannungsort war ihm Anfangs Nischney Nowgorod, später Perm angewiesen. Von hieraus richtete er im Jahre 1813 als einen Ausdruck seiner edlen Gesinnung ein Schreiben an den Kaiser, welches nicht verfehlte, auf denselben den allergünstigsten Eindruck zu machen. Speransky wurde aus der Verbannung zurückberufen und zum Gouverneur von Pensa ernannt. Als ich mich im Jahre 1818 auf der Reise nach meinen Saratow'schen Gütern befand, war es mir vergönnt, ihn hier wieder zu sehen. Er blieb nicht lange auf diesem, im Vergleich mit dem früheren so geringfügigen Posten, der Kaiser erhob ihn zum General-Gouverneur von Sibirien und übertrug ihm die Umgestaltung der Verwaltung dieses ausgedehnten Landes. Als Speransky nach einer Anwesenheit daselbst von einigen Jahren nach Petersburg reiste, um dem Kaiser seinen Reformplan vorzulegen, trat er mit geringem Unterschiede in seine frühere Stellung zurück und wurde in Sonderheit mit der Leitung der Geschäfte der Gesetz - Kommission betraut. Die ungeheure Arbeit, eine Sichtung und vollständige Sammlung unserer Gesetze zu veranstalten, wurde erst unter der Regierung des Kaisers Nikolai beendigt. In der in Folge der Beendigung dieses Geschäfts gehaltenen Reichsratssitzung präsidierte der Kaiser in Person, nahm sich den Stern des Andreasordens von der Brust und heftete ihn Speransky an. Er genoss nicht lange diese Anerkennung seiner Verdienste, er starb ziemlich bald darauf. — Speransky war ein Mensch von umfassender Bildung, eisernem Fleiß, von milder, wohlwollender Gesinnung. An Tatkraft mangelte es ihm leider und dies war die Ursache seines Falles. —

Doch kehren wir zum Jahre 1812 zurück. Die ersten Monate vergingen in Unterhandlungen zwischen dem Grafen Rumianzoff und dem General Lauriston, dem Nachfolger des Herzogs von Vicenza. Der Hauptgegenstand derselben war der Abschluss eines Traktates, der Russland die polnischen Provinzen sichern sollte. Wir forderten als unerlässliche Bedingung die Nichtwiederherstellung des polnischen Königreichs. Napoleon wollte aber hierbei keine andere Verbindlichkeit eingehen, als nur die, sich von jeder Mitwirkung bei einer etwaigen Wiederherstellung Polens fernzuhalten. Die Unterhandlungen führten natürlich zu keinem Ziel. Napoleon wollte offenbar nur Zeit gewinnen, um seine riesenmäßigen Rüstungen zu Ende führen zu können. Im Frühjahr zog die immer mehr sich verfinsternde Gewitterwolke heran; die feindlichen Heere marschierten von allen Seiten unseren Grenzen zu und machten unweit derselben im preußischen Gebiete Halt. Verträge waren zwischen Napoleon, Österreich und Preußen abgeschlossen worden, der Krieg war offenbar unausbleiblich. Ganz Europa zog gegen Russland zu Felde; in den Reihen der Feinde befanden sich auch Spanier, Portugiesen und Italiener. Im März reiste der Kaiser zum Heere ab und nahm sein Hauptquartier in Wilna, wohin ich ihm bald nachfolgte. Ein zahlreiches Gefolge sammelte sich bald um den Kaiser: der Kanzler Rumianzoff, der Fürst Kotschubei, Graf Armfeld, der Marquis Paulucci, Graf Araktschejeff, Schischkoff, Nachfolger Speranskys in dem Amte des ersten Reichssekretärs. Je zahlreicher das Gefolge war, um so tätiger war das Ränkespiel.

Unsere Streitkräfte waren in zwei Armeekorps geteilt, das eine stand unter Barklai de Tolly, das andere unter dem Fürsten Bagration; beide zusammen mochten 250.000 Mann stark sein, während Napoleon gegen uns 400,000 Mann ins Feld führte. Zu des Kaisers Umgebung gehörte damals auch der preußische General Phull. Dieser legte einen Kriegsplan vor, gegen den die Mehrzahl unserer Generale heftigen Widerspruch erhob. Nach dem Phullschen Plane sollte sich Barklai nach der Dünn zurückziehen und bei Drissa ein verschanztes Lager beziehen, während Bagration die Flanken und den Rücken des feindlichen Heeres bedrohen sollte. Bei genauerer Prüfung ergab es sich, dass dieser Plan wegen der erforderlichen Streitkräfte nur teilweise ausführbar sei. In Folge dessen erging an den Fürsten Bagration der Befehl, sich mit Barklai zu vereinigen. Lange Zeit wurde er daran verhindert, erst bei Smolensk fand die Vereinigung statt.

Napoleon langte von Paris in Dresden an, wo er mit seinen neuen Bundesgenossen, dem König von Preußen und dem Kaiser von Österreich, zusammentraf. Um sich den Schein der Friedensliebe zu geben, sandte er den Grafen Narbonne mit einem Schreiben nach Wilna. Ich kannte diesen von Paris her sehr genau und hatte jetzt einige Unterredungen mit ihm, die mich bald davon überzeugten, dass seine Botschaft erfolglos bleiben würde. Der Kaiser empfing ihn zwar mit Freundlichkeit, gab ihm aber nur eine ausweichende Antwort. Mit der Überbringung des Erwiderungsschreibens wurde der General Balaschoff beauftragt.

Unterdes traf Napoleon in seinem Hauptquartier ein und auf dem von Bennigsen in Sakret, seinem bei Wilna gelegenen Landhause, gegebenen Balle erhielt der Kaiser die Nachricht, dass das französische Heer über den Niemen gegangen sei. Es wurde sogleich beschlossen, Wilna zu verlassen. Am folgenden Tage begann der Rückzug. Da das Vorgefallene amtlich verkündigt werden musste, man aber zur Abfassung eines Manifestes, obgleich ich dafür einige Notizen entworfen, keine Zeit hatte, so beschloss der Kaiser ein Reskript an den Präsidenten des Reichsrats, den Grafen Saltykoff, zu erlassen, der für die Zeit der Abwesenheit des Kaisers an die Spitze der Regierung gestellt war. In Eile verfasste ich dasselbe, es wurde ins Russische übersetzt und veröffentlicht. Unser Rückzug wurde ohne Aufenthalt bis Drissa fortgesetzt. Zwischen den Feinden und unserer Arrieregarde kam es manchmal zu Gefechten, die nicht immer ungünstig für uns ausfielen. Da die Besichtigung des befestigten Lagers bald die Unmöglichkeit erwies, sich darin halten zu können, so wurde der Beschluss gefasst, dass Barklai den Rückzug fortsetzen sollte; der Kaiser aber wollte nach Moskau eilen, um die Organisierung der von allen Seiten zusammenberufenen Milizen zu beschleunigen und um Alles zu dem Kampf fürs Vaterland zu begeistern. Den Kaiser begleitete nur der Chef des Stabes, Fürst Wolchonski, und einige Adjutanten. Ich bekam vom Kaiser den Befehl, beim Feldmarschall Barklai zu bleiben und die Kriegsberichte abzufassen. Der übrige Teil des zahlreichen Gefolges wurde nach Petersburg entlassen. Indem ich den Rückzug des Heeres mitmachte, hatte ich unter Anderem Gelegenheit, der Schlacht bei Witebsk beizuwohnen, indem sich mein Freund, Graf Pahlen, bei dem herrlichen Kampf der Arrieregarde auszeichnete. Einige Tage darauf überbrachte mir ein Kurier den Befehl, mich in Petersburg beim Kaiser einzustellen.