Abschnitt 2

zweiter Teil


Als wir nach dreiviertel Stunden etwa wieder in das Kloster und das Krankenzimmer kamen, fanden wir zu unsrer höchsten Bestürzung nur unsers guten Oheims Leiche vor. Sobald uns die Doktoren verlassen hatten, traten einige Pfaffen hinzu und fragten mich, zu welchem Glauben sich unser Schiffskapitän bekannt habe. Ich armer Narr antwortete unbedenklich: „Ei, zum Lutherschen!“


Sowie dies unglückliche Geständnis über meine Lippen gekommen, war es, als wäre ein Blitz ins Kloster geschlagen. Alles geriet in Bewegung. Sie sprachen eifrig untereinander. Niemand wollte den Seligen berühren, und doch mußten die Ketzergebeine aus dem geweihten Bezirk geschafft werden, ehe die Sonne unterging. Man steckte uns endlich eine beschriebene Karte in die Hand. Sie war an einen Tischler gerichtet, der wohl die Särge für das Hospital lieferte. Wir sollten uns einen Sarg nach der Größe unserer Leiche aussuchen. Unsre Wahl fiel auf den längsten, weil unser Oheim von ansehnlicher Statur gewesen war. Mit diesem Sarge wanderten wir nach dem Kloster zurück.

Hier trieb man uns mit barschem Ernst an, den Leichnam unverzüglich einzusargen. Man reichte uns Hammer und Nägel, um den Deckel zuzuschlagen. Dann begannen wir, den Sarg mit den uns so teuren Überresten eine kurze Strecke auf den Flur fortzuziehen und zu schieben. Hier aber lähmte der ungeheure Schmerz plötzlich alle unsre Kräfte. Ich fiel vor dem einen Pater auf die Knie und bat ihn um Gottes willen, man möge sich unser erbarmen.

Es gab eine kurze Besprechung unter den Anwesenden. Ein Aufwärter ward fortgeschickt, und binnen einer Viertelstunde erschienen vier Männer mit einer Trage, jeder mit einem Spaten versehen. Sie packten die Leiche an, und so ging der Zug zum Tore hinaus etwa zweitausend Schritte weit und gerade auf eine Kirche zu. Wir meinten, der Leichenzug eile dem Kirchhof zu. Doch weit gefehlt! Es ging an dem Gotteshause vorbei und wohl noch tausend Schritte weiter auf ein freies Feld.

Es war ein Fleck am Wege, der nichts hatte, was einem Totenacker ähnlich sah. Hier sollten wir nun ein Grab graben. Da es aber den Kerlen damit zu lange währte, nahmen sie uns die Spaten verdrießlich aus den Händen, schaufelten selber und schimpften uns Ketzer. Wir hingegen gaben ihnen alle möglichen guten Worte; und sobald das Grab auch nur so tief gegraben war, daß der Sargdeckel unter die Erde kommen konnte, senkten wir die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein und warfen Erde darüber. Dann nahmen wir unter tausend heißen Tränen Abschied.

Später berieten wir, was wir in dieser unsrer gänzlichen Verlassenheit anzufangen hätten. Wir beschlossen, am nächsten Morgen zu unserm Schiff und unsern Kameraden zurückzukehren. Wo diese blieben, wollten auch wir bleiben und ihr Schicksal mit ihnen teilen. Unser einziger und letzter Notanker war des verstorbenen Oheims Taschenuhr. Wir hatten sie an uns genommen und gedachten sie loszuschlagen, wenn es nötig wäre. Wir wanderten wieder den Strand entlang, um unsere zurückgelassenen Unglücksgefährten aufzusuchen.

Doch wir waren kaum eine Meile gegangen, als wir unsern Schiffskoch Roloff trafen. Er berichtete uns: Die österreichischen Strandwächter hätten unsre preußische Flagge von dem zertrümmerten Schiffe am Ufer aufgefischt. Die Mannschaft sei hierauf nochmals in ein scharfes Verhör genommen worden und habe sich endlich zu ihrer wahren Landsmannschaft bekennen müssen. Von Stund an habe man sie als Kriegsgefangene behandelt. Man habe sie gezwungen, die Trümmer des Schiffes und der Ladung in angestrengter Arbeit bergen zu helfen. Dabei seien sie streng bewacht worden. Niemand habe sich ohne militärische Begleitung auch nur bis zwischen die nächsten Sanddünen entfernen dürfen. Ihm selbst sei es dennoch in der letzten Nacht geglückt, seinen Aufsehern zu entwischen. Er gedenke nunmehr nach Dünkirchen zu gehen, wo er in Sicherheit zu sein hoffe. Uns aber rate er, auf der Stelle mit ihm umzukehren.

Auch uns schien dieser Vorschlag in der Tat der beste zu sein. Daneben fiel mir ein, daß unser Schiff in Amsterdam gegen Seeschaden und Türkengefahr versichert gewesen war und daß der Kommissionär, der dies Assekuranz-Geschäft besorgt hatte, den Namen Emanuel de Kinder führte. Ich konnte demnach bitten, an diesen Agenten in Amsterdam zu schreiben und ihn in unserm Namen um einen Vorschuß von einhundert Gulden für Rechnung meines Vaters zu ersuchen. Damit konnte man dann schon hoffen, unsre Heimat wieder zu erreichen.

All dies ging auch nach Wunsch in Erfüllung. Binnen acht Tagen ging auch eine Antwort von Emanuel de Kinder ein. Er schrieb, wenn wir des Nettelbecks Kinder wären, möge man uns die hundert Gulden, oder, falls wir es verlangten, auch das Zwiefache auf sein Konto vorschießen.

Mit Reisegeld waren wir nun notdürftig ausgerüstet. Welchen Weg aber sollten wir einschlagen, um wieder zu den Unsrigen zu gelangen? Es war Winter, und die See so gut als gesperrt. Zu Lande hätten wir uns durch die österreichischen Niederlande wagen müssen, wo wir als Preußen Gefahr liefen, gleich an der Grenze in Nieuport, Ostende oder wo es sonst sei, angehalten zu werden. Bald aber bot sich uns eine günstige Gelegenheit, weiter zu kommen. Die Dünkircher Kaper hatte nämlich einen englischen Kutter als Prise aufgebracht und ihn an einen Schiffer aus Bremen namens Hindrick Harmanns verkauft. Harmanns ließ das Schiff sofort mit losen Tabakstengeln laden und wollte damit nach Hamburg gehen. Die gesamte Schiffsmannschaft bestand außer ihm selbst nur aus zwei Matrosen. Wir drei waren ihm als Passagiere um so willkommener, da wir uns erboten, gegen Kost die Wache mit zu halten.

Vier Tage vor Weihnachten gingen wir in See. Es begann hart zu frieren, und das ganze Fahrzeug sah zuletzt wie ein großer Eisklumpen aus. Da wir nur wenig auf dem Leibe hatten, wurden uns unsere Wachen herzlich sauer. Uns fror jämmerlich. Wir krochen daher, so oft die Wachzeit zu Ende war, tief zwischen die Tabakstengel. Wir kamen aber gewöhnlich ebenso erfroren wieder heraus, als wir hineingekrochen waren. Unsere Schiffsleute verfuhren auch sehr unbarmherzig mit uns. Sie nahmen uns nicht in die Schlafkojen auf, wiewohl das, während sie sich selbst auf Wache befanden, sehr gut hätte geschehen können. Ebensowenig ließen sie uns zu unserer Erwärmung das geringste von ihren Kleidungsstücken. Selbst das kärgliche Essen, das wir erhielten, wurde uns nur widerwillig und mit Brummen vorgesetzt.

So kamen wir vor die Mündung der Elbe. Da wir hier aber alles mit Eis bedeckt fanden, beschloß unser Kapitän, wieder umzukehren und an der holländischen Küste einen Nothafen zu suchen. Vor der Insel Schelling fand sich auch ein Lotse zu uns an Bord, der uns schon zu später Abendzeit zwischen die Bänke ins Vorwasser brachte. Da uns indes der Wind entgegenstand und wir nicht weiter hineinkommen konnten, warfen wir Anker. Der Lotse ging wieder an Land und versprach, zu uns zurückzukehren, sobald der Wind sich umsetzte.

Es war der 1. Januar des Jahres 1757. Abends um zehn Uhr setzte sich der Wind in Nordwesten. Er wuchs zu einem fliegenden Sturm an, und unser Schiff wurde vom Anker getrieben. Ehe wir uns dessen versahen, saß es auf einer Bank fest. Die Sturzwogen rollten unaufhörlich über das Fahrzeug hinweg und schäumten bis hoch an die Masten. Das Schiff war scharf im Kiel gebaut. So oft daher eine Welle sich verlief, fiel es so tief auf die Seite, daß die Masten beinahe das Wasser berührten. Gleichwohl wurden wir dank Gottes Barmherzigkeit nicht von Bord gespült. Diese gefährliche Lage dauerte wohl vier bis fünf Minuten, bis endlich eine besonders hohe und mächtige Welle uns hob und mit sich über die Bank schleuderte.

So gelangten wir zwar für einen Augenblick wieder in fahrbares Wasser, doch wenig später jagte der Sturm unser Fahrzeug vollends auf den Strand. Der Schiffer mit seinen beiden Leuten befand sich zufällig auf dem niedriger liegenden Hinterteile des Schiffes, während wir drei Passagiere uns vorne in der Höhe befanden und den Fockmast umklammert hielten, um nicht von den spülenden Wogen mit fortgerissen zu werden.

Die Nacht war ziemlich dunkel; auf dem Land lag Schnee, und rings um uns her schäumte die Brandung. Da aus diesem Grunde alles weiß war, ließ es sich nicht unterscheiden, wie nahe oder wie fern wir dem trockenen Ufer sein mochten. Ich nahm nun einen Augenblick wahr, wo das Verdeck nach vorne frei vom Wasser war, und kroch an dem langen Bugspriet hinan, das nach dem Strande hin gerichtet stand. Da sah ich nun deutlich, daß jedesmal, wenn die See zurücktrat, das Ufer kaum eine Schiffslänge von uns entfernt war.

Jetzt schien mir eine Rettung möglich. Ich kletterte behutsam zu meinen Gefährten zurück und teilte ihnen meine glückliche Entdeckung mit. Sobald die nächste Welle weit genug zurück sei, wollte ich mich schnell an einem Tau hinablassen. Wenn ich festen Boden unter mir fühlte, sollten sie meinem Beispiel getrost folgen. Auch dem Schiffer und seinen beiden Leuten schrie ich zu, sich auf diesem Wege zu retten. Allein das Sturm- und Wellengebrause war zu mächtig, als daß ich hätte verstanden werden können.