Abschnitt 1

zweiter Teil


Hier ging mein Oheim mit mir und noch drei anderen Matrosen in der Segelschaluppe nach Helsingör an Land, wo seine Geschäfte ihn so lange aufhielten, daß wir erst abends um neun Uhr auf den Rückweg kamen. Die See ging hoch. Unser Fahrzeug, das mit Wasser- und Bierfässern sowie anderen Provisionen schwer geladen war, hielt wenig Bord. Eben machten wir einen Schlag dicht hinter dem dänischen Wachtschiffe vorbei, als ein harter Stoßwind so plötzlich aufstieg und so ungestüm in unsere Segel fiel, daß die Schaluppe Wasser schöpfte, umschlug und im Hui den Kiel nach oben kehrte. Wir wurden samt und sonders herausgespült. Ich griff nach einem Ruderholz und war so glücklich, mich über Wasser zu halten. Wo die anderen abblieben, sah ich nicht. Indes war unser Unglück von dem dänischen Kriegsschiff bemerkt worden. Sogleich setzten sie ein Fahrzeug aus, das uns Hilfe bringen sollte. Allein es war stockfinster und von uns Verunglückten keine Seele aufzufinden. Nur die Schaluppe kam ihnen in den Wurf und ward geborgen. Freilich war die ganze Ladung davongeschwommen.


Unter uns Umhertreibenden war ich wohl der erste, der sich glücklich aus diesem bösen Handel zog. Ich trieb gegen ein vor Anker liegendes Schiff und hielt mich so lange am Ankertau fest, bis die Leute mich zu sich an Bord ziehen konnten.

Erst am Morgen fanden wir uns in Helsingör wieder zusammen. Unsere Schaluppe ward uns von dem Wachtschiffe zurückgegeben. Wir ersetzten unsere verunglückte Ladung durch neue Vorräte, versahen uns mit frischen Rudern und kehrten sodann nach unserm Schiffe zurück. Sobald Wind und Wetter wieder günstiger geworden waren, setzten wir unsere Fahrt trotz der späten und bösen Jahreszeit fort.

Am 2. Dezember warf uns ein gewaltiger Nordsturm auf die flämischen Bänke, deren Gefährlichkeit wir nur zu gut kannten. Bald auch bekamen wir mehrere heftige Grundstöße, die unser Steuerruder beschädigten und es unbrauchbar machten. Um nicht augenblicklich auf den Strand zu geraten, blieb nichts übrig, als uns auf der Stelle vor zwei Anker zu legen. Das Land war eine kleine halbe Meile entfernt. Unsere Segel, die wir nicht mehr fest machen konnten, flatterten im Winde. Welle für Welle stürzte über das Verdeck hinweg. Wir standen in einem fort unter Wasser und mußten uns am Mast festhalten. Wir befanden uns an der flandrischen Küste und eine Strandung war kaum zu vermeiden. Hier war österreichisches Gebiet. Wir waren preußische Untertanen und Preußen mit Österreich seit kurzem im Kriege begriffen. Unsere Lage war daher noch unerfreulicher. Mein Oheim verbot uns für jeden Fall, auf irgendeine Weise zu verraten, daß wir von Rügenwalde kämen und ein preußisches Schiff hätten. Wir sollten vielmehr übereinstimmend aussagen: Schiff und Ladung sei schwedisches Eigentum, komme von Greifswald und sei nach Lissabon bestimmt. Sobald es der Sturm zulasse, so setzte er hinzu, wolle er hinabsteigen, um die preußische Flagge und seine Schiffspapiere zu vernichten, und die schon bereitgehaltenen schwedischen Dokumente aus der Kajüte zu holen.

Er entschloß sich wirklich zu diesem gewagten Versuch. Doch beim Niedersteigen traf ihn ein unglücklicher Schlag des peitschenden Segels so gewaltsam, daß es ihm unmöglich wurde, sich länger zu halten. Er stürzte mit dem Rücken auf den Rand des auf dem Verdeck stehenden Bootes, von da endlich auf das Deck, welches die Sturzwellen immerfort überschwemmt hielten. So sahen wir ihn in diesem Wasser hin und her gespült werden. Ein gräßlicher Anblick. Mit noch zwei Matrosen wagte ich mich hinab. Wir zogen ihn mit Mühe auf das Kajütendeck, wo nicht jede Woge eine Überschwemmung verursachte. Der Schlag des Segels hatte das linke Auge getroffen; es hing nur noch an einer schwachen Sehne weit aus dem Kopfe. Das Blut drang aus Mund, Nase und Ohren zugleich. Aus der hohlen Brust stöhnte ein dumpfes Röcheln. Er war vollkommen ohne Bewußtsein. Ratlos schob ich ihm das hängende Auge in den Kopf zurück und band ihm ein Halstuch darüber. Neben ihm lag ich mit seinem Sohn und einem Matrosen.

Bis gegen fünf Uhr abends lagen wir dort. Dann rissen unsere Ankertaue, und wir wurden bei halber Flut unaufhaltsam gegen den Strand getrieben. Endlich stieß das Schiff auf Grund. Aber erst als die Ebbe eintrat, saß es völlig fest. Allmählich krachte der Schiffsleib in allen Fugen. Wir sahen die Stücke davon unter unseren Füßen eins nach dem anderen davontreiben. Als sich die Ebbe aber immer weiter zurückzog, ließ auch die Gewalt der Wogen nach, die uns sonst unausbleiblich in den Abgrund gerissen hätte.

Es war Mondschein. Nach unserer Schätzung waren wir zwei- oder dreihundert Schritte vom Ufer entfernt. Es wurde höchste Zeit, alles aufzubieten, um wo möglich lebend an Land zu kommen, bevor die Flut wieder stieg. Deren Gewalt konnte das Schiff ohnehin nicht mehr widerstehen, ohne gänzlich in Trümmer zu gehen. Es mußte gewagt werden! Sowie nun eine Sturzwelle nach der anderen sich zu uns heranwälzte, sprangen wir der Reihe nach über Bord und wurden sogleich mit der Brandung gegen das Ufer getrieben. Die dort stehenden Menschen fingen uns auf und brachten uns aufs Trockne. Ich, mein Bruder und der Sohn meines Oheims - wir waren die letzten. Wir lagen neben dem Verunglückten auf dem Kajütendeck und konnten uns nicht entschließen, den teuren Mann zu verlassen. Wir schrien und wußten nicht, was wir mit ihm beginnen sollten. Vom Strande her ward uns durch ein Sprachrohr unaufhörlich zugeschrien: „Springt über Bord! Springt über Bord! Wächst das Wasser mit der Flut wieder an, so seid ihr verloren! Springt! Springt!“

Angefeuert und gleichzeitig geängstigt durch dies Rufen zogen wir endlich unsern Leidenden, dessen Bewußtsein völlig geschwunden war, hart an den Bord des Schiffes, warteten auf eine besonders kräftige Sturzwelle und ließen ihn damit zum Ufer treiben. Zu unserer Freude sahen wir, wie er im Flug dem Lande zugeführt wurde. Dort fingen ihn die guten Leute auf, ehe er von der See wieder zurückgespült werden konnte. Dann sprang mein Bruder ins Wasser, danach der Sohn meines Oheims. Als letzter warf ich mich in die rollenden Wogen; und schon in der nächsten Minute umfingen mich hilfreiche Arme, die mich den Strand hinauf ins Trockne trugen.

Die Mehrzahl unsrer menschenfreundlichen Retter waren österreichische Soldaten. Seit ihre Kaiserin Maria Theresia sich auch mit England im Kriege befand, standen sie hier zur Deckung der Küste postiert und hatten alle zweitausend Schritte ein Wachthaus am Strande. In ein solches Gebäude ward nun auch unser armer Oheim von uns und den Soldaten getragen. Man deckte ihn mit allem, was sich an trockenen Kleidungsstücken vorfand, sorgfältig zu, um ihn wieder zu erwärmen.

So mochte er etwa eine Stunde gelegen haben, als er zum erstenmal nach seinem Unglück den Mund öffnete. „O Gott! Ist mir noch zu helfen?“ stöhnte er. Das war Musik in meinen Ohren. Mit freudiger Hast erwiderte ich ihm: „Ja, ja, lieber Vatersbruder! Gott kann - Gott wird Euch noch wieder helfen. Wir sind am Land.“

Früh morgens kam ein Fuhrwerk mit Stroh gefüllt und einer Leinwanddecke versehen. Nachmittags kamen wir in Dünkirchen an. Man schickte mich nach dem Klosterhospital, wo der rechte Ort für Kranke und Gebrechliche sei. Als wir dort angelangt waren und meinen Onkel vom Wagen gehoben hatten, nahmen ihn gleich mehrere katholische Ordensgeistliche in Empfang. Sie legten ihn zuvörderst auf einen langen, breiten Tisch, wo er bis auf die nackte Haut entkleidet wurde.

Darauf fand sich eine Anzahl von Doktoren und Chirurgen ein, welche nun zu einer genaueren Untersuchung seiner Verletzung schritten. Zuerst lösten sie das Tuch, welches ich dem Armen gleich nach seinem unglücklichen Falle um das Auge gebunden hatte. Jetzt war dieses mit dem geronnenen Blut an dem Verband fest getrocknet und wurde mit ihm aus dem Kopf gezogen. Da es nur noch an einem dünnen Nervenstrang in der Augenhöhle hing, war es rettungslos verloren. Man schnitt es daher ab.

Bei der weiteren Untersuchung ergab sich, daß das linke Bein oberhalb des Knies im dicken Fleische gebrochen war. Am bedenklichsten war jedoch die Zerschmetterung eines Rückenwirbels dicht unterm Kreuz. Offenbar verursachte diese Verletzung dem armen Manne die empfindlichsten Schmerzen. Während man ihn behandelte und die Gliedmaßen hin und her reckte und dehnte, hörte er nicht auf zu winseln und zu ächzen. Uns drei Jungen, die wir Zeugen von dem allen waren, schnitt jeder Klageton tief ins Herz. Wir heulten und lamentierten mit dem Oheim um die Wette. Schließlich sah man sich genötigt, uns aus dem Gemach zu weisen. Wir brachten eine schlaflose, trübselige Nacht zu und wußten nicht, wo Trost und Hilfe zu finden.

Am nächsten Morgen standen wir wiederum, von Herzen betrübt, am Bett unseres Kranken. Wir konnten aber keine merkliche Besserung an ihm feststellen. Ich beugte mich indes dicht an sein Ohr. „Lieber Vatersbruder“, fragte ich ihn, „sollen wir nach Kolberg schreiben?“ - Er hatte mich verstanden, denn er schüttelte mit dem Kopfe, als ob er Nein sagen wollte. Ein schwacher Hoffnungsstrahl! Doch er erfüllte mich mit Mut. Vielleicht konnte doch noch alles wieder gut werden. Ich glaubte darum auch, daß ich die Briefe unbedenklich abgehen lassen dürfte, und eilte mit meinen Gefährten nach dem Postkontor.