Abschnitt 2

achter Teil


Gleich am nächsten Tage stellte sich der neue Kommandant der Garnison als ihr jetziger Anführer vor. Diese Feierlichkeit begleitete er mit einer Ansprache, die so eindrucksvoll und rührend war, wie wenn ein guter Vater mit seinen Kindern spräche. Danach machte er sie mit den Grundsätzen bekannt, nach welchen er sie befehligen werde.


Loucadou blieb noch die ganze Zeit der Belagerung hindurch in Kolberg, doch ohne sich öffentlich zu zeigen. Spötter meinten, er habe diese Zeit benutzt, um ruhig auszuschlafen.

Der Feind hatte in bewundernswürdiger Tätigkeit am Ende des Maimonats an der Ost- wie an der Westseite der Festung - dort bis hart an den Strand, um sich gegen die Angriffe von der Seeseite besser zu schützen; hier bis über Sellnow hinaus in einem großen Halbmonde nicht weniger als fünfundzwanzig große und kleine Schanzen und Batterien angelegt und miteinander verbunden. An mehr als einem Punkt hatte er Dämme aufzuschütten begonnen und Laufgräben an verschiedenen Orten gegraben.

Unsererseits bot man die größte Wachsamkeit auf, unseren Gegnern jeden kleinen Vorteil, um den sie rangen, aufs hartnäckigste streitig zu machen. Die Überschwemmungen wurden nach und nach im weitesten Umfange durchgeführt. Sie dienten trefflich dazu, uns den Feind in einer ehrerbietigen Entfernung zu halten und das Fortführen seiner Laufgräben zu verhindern. Fragte mich der Kommandant: „Wie stehts, Nettelbeck, können wir nicht noch einen Fuß höher stauen?“ - So fehlte es nicht an einem bereitwilligen: „Ei nun, wir wollen sehen!“ - Und ich sorgte und künstelte so lange, bis ich den Wasserstand noch um so viel höher brachte.

Die fast tägliche und oft ziemlich lebhafte Beschießung der Stadt war zwar noch kein eigentliches Bombardement. Trotzdem wurden viele Häuser zerstört, und immer häufiger flammten Brände auf, verunglückten Menschen oder wurden entsetzlich verstümmelt. Man war weder in den Häusern noch auf den Gassen ganz sicher. Je mehr Gebäude durch Bomben und Granaten unwohnlich gemacht worden waren, um so höher stieg auch die Zahl der Unglücklichen, denen es an Obdach wie an Mitteln zum Unterhalt fehlte.

Diese Bedauernswerten irrten nun in den Straßen umher, während die feindlichen Kugeln über ihren Köpfen schwirrten.

Eine große Not war der Mangel an klingender Scheidemünze, wodurch der Handel sehr erschwert und die regelmäßige Zahlung der Löhnungen beinahe unmöglich gemacht wurde. Das Gouvernement hatte die Bürger vergeblich zu einer baren Anleihe aufgefordert, wozu zwar die Armen willig ihr Scherflein darbrachten, während die großen Kapitalisten dermalen nicht zu Hause waren. Nun dachte man daran, dem Mangel durch eine eigne Not- und Belagerungsmünze abzuhelfen. Dazu sollte das Metall einer zersprungenen großen Kanone verwandt werden. Allein es verstand sich niemand in der Stadt aufs Prägen, und es war auch nicht die geringste Vorrichtung dazu vorhanden. Da erinnerte ich mich, vormals im holländischen Amerika eine Art von Papiergeld gesehen zu haben, das zur Erleichterung des kleinen Zahlungsverkehrs unter den Pflanzern diente. Ich empfahl, ähnliche obrigkeitlich gestempelte Münzzettel zu einem bestimmten Werte einzuführen. Der Vorschlag wurde angenommen und durch eine aus Seglerhaus-Verwandten und Bürgerrepräsentanten zusammengesetzte Kommission wirklich ausgeführt. Die Billetts, von zwei, vier und acht Groschen im Werte, waren auf der Rückseite durch den Stempel des königlichen Gouvernements autorisiert und fanden willigen Eingang. Sie sind in der Folge eingelöst worden, aber viele wurden als Denkzeichen der überstandenen Drangsale einbehalten oder, selbst über ihren Nennwert, als Seltenheit an Fremde verkauft.

Am 10. Juni brach das bereits gefürchtete Ungewitter gegen die Wolfsschanze los. In der Zeit von einer Stunde zählte man dreihunderteinundsechzig Schüsse. Dann aber begannen auch alle übrigen Batterien der Reihe nach bis zur Altstadt hinauf ein mörderisches Kanonen- und Bombenfeuer, überall regnete es Kugeln und Granaten, Schaden und Unglück waren beträchtlich. Dreimal am Vormittag und einmal nachmittags brannte es bei uns lichterloh. Das Feuer wurde jedoch immer bald wieder unterdrückt. Bei diesem Vorgehen des Feindes wurden denn auch neue Vorsichtsmaßnahmen nötig. So erging durch Trommelschlag der Befehl an die Hausbesitzer, vor den Türen und auf den Böden gefüllte Wasserfässer zum Löschen bereit zu halten.

Wiewohl wir unaufhörlich mit Kanonenkugeln in die feindlichen Kolonnen schossen, mußte die Besatzung der Wolfsschanze ihrer eigenen Tapferkeit und dem freilich nicht zureichenden Schutze der schwedischen Fregatte überlassen bleiben. Bis um fünf Uhr nachmittags hielt sie sich mit rühmlicher Entschlossenheit; dann aber waren ihre Verteidigungsmittel erschöpft. Mit harter Betrübnis sahen wir sie die weiße Fahne aufstecken, nachdem bereits eine starke Bresche geschossen und der Ausgang eines Sturmes nicht mehr zweifelhaft war. Ein fünfzehnstündiger Waffenstillstand ward abgeschlossen. Das Werk sollte dem Feinde eingeräumt werden, die preußische Besatzung aber samt ihrem Geschütz freien Abzug in die Festung erhalten.

Leider offenbarte sich besonders bei den gegenwärtigen verdoppelten Anstrengungen die Mangelhaftigkeit unsrer ganzen Festungsartillerie. Ein Transport neuen und guten Geschützes aus dem Berliner Zeughaus war für Kolberg bestimmt gewesen und im vorigen Sommer auch wirklich nach Stettin gelangt. Bevor aber die Verfrachtung ausgemacht und die Genehmigung des Kriegskollegiums erlangt werden konnte, verstrich Monat auf Monat, bis sich endlich die Franzosen Stettins und des uns zugedachten Geschützes bemächtigten. So geschah es, daß wir nunmehr zum Teil mit unsern eignen Kanonen und unsrer eignen Munition beschossen wurden.

Was wir an Kanonen und Mörsern besaßen, war reiner Ausschuß. Zudem war das Eisen von einer so spröden Gußmasse, daß gewöhnlich nach neun oder zehn schnellen Schüssen das Springen des Stückes befürchtet werden mußte. Wirklich traf nur zu viele dies Schicksal. Zugleich kostete es einer größeren Menge Artilleristen das Leben, als durch feindliche Kugeln hingerafft wurden.

Wir waren daher freudig überrascht, als am 14. Juni ein englisches Schiff in den Hafen lief, welches uns eine Anzahl neue Geschütze samt dazugehöriger Munition zuführte. Es waren fünfundvierzig Kanonen und Haubitzen, zwar eiserne, aber vom schönsten Gusse. Auch an Kugeln und Granaten war eine ansehnliche Menge mitgeschickt worden.

In der Nacht auf den 15. Juni toste der Sturm und es regnete aufs heftigste. Es war finsterer, als es in dieser Jahreszeit bei uns zu sein pflegt. All dies begünstigte ein gewagt erscheinendes Unternehmen, an welches sich dennoch große Hoffnungen knüpften. Es galt einen Ausfall, der uns die Wolfsschanze zurückgeben sollte. Das Grenadier-Bataillon von Waldenfels, welches sie sich hatte nehmen lassen, wollte sie auch wiedergewinnen. Ich folgte der Truppe mit ein paar Wagen, um für die zu erwartenden zahlreichen Verwundeten zu sorgen.

In tiefster Stille zogen wir aus und hatten das Glück, uns dem feindlichen Graben fast unbemerkt zu nähern. Jetzt aber ward plötzlich Lärm. Das Feuern begann von beiden Seiten. Überall kam es zum Handgemenge, und überall floß Blut. Unsre Leute stürmten begeistert, ihnen voran ihr edler Führer. Er war im raschen Lauf der erste auf der Höhe der feindlichen Brustwehr. Plötzlich trifft ihn eine Flintenkugel, die ihn entseelt zu Boden streckt. Allein des Führers Fall steigert die Tapferkeit der Seinen bis zur Erbitterung. Sie dringen unwiederstehlich nach, und die Schanze ist erobert. Ein Obrist, mehrere andre Offiziere und zwischen zwei- und dreihundert Franzosen werden zu Gefangenen gemacht.

Ein noch empfindlicherer Verlust aber traf das Belagerungsheer, dem bei diesem Kampfe sein Anführer, der Divisionsgeneral Teullié, getötet wurde. Wir aber hatten den Tod unseres ebenso wohldenkenden als heldenmütigen Vizekommandanten zu verschmerzen, der mit seinem edlen Vorgesetzten stets ein Herz und eine Seele gewesen war.

Erobert war die Schanze allerdings. Sie konnte aber nur wenige Augenblicke behauptet werden. Eine neue feindliche Kolonne rückte unverzüglich heran. Sie war entschlossen, den Tod ihres Heerführers zu rächen und des verlorenen Postens um jeden Preis wieder Herr zu werden. Das Gefecht begann wiederum und ward bei der überlegenen Zahl der Angreifenden bald so ungleich, daß keine andere Wahl blieb, als uns fechtend in die Stadt zurückzuziehen. Vorher und jetzt hatten wir mehr als zwanzig Tote und Verwundete gehabt. Nur mit harter Mühe war mir’s gelungen, die Verwundeten wegzuschleppen.

In der dritten Morgenstunde des 1. Juli eröffnete der Feind aus all seinen zahlreichen Batterien ein Feuer gegen die Stadt, so ununterbrochen, so mörderisch und zerstörend, wie wir es noch nimmer erlebt hatten. Die Erde dröhnte davon; es war als ob die Welt vergehen sollte. Sichtbarlich legten es unsre Gegner darauf an, uns durch ihr Bombardement dergestalt zu ängstigen, daß wir die weiße Fahne zur Ergebung aufstecken müßten.

Ich befand mich in dieser entsetzlichen Nacht neben unserm Kommandanten auf der Bastion Preußen. Von diesem höchsten Punkte auf unsern Wällen konnten wir beinahe alle feindlichen Schanzen und auch die Stadt übersehen. Höllenmäßig wütete das Aufblitzen und Donnern des Geschützes. In der Luft schwärmte es lichterloh von Granaten und Bomben. Wir sahen es hier und da und überall in lichtem Bogen in die Stadt hineinfliegen; hörten ihr Krachen sowie das Einstürzen der Giebel und Häuser; vernahmen den wüsten Lärm, der drinnen wogte und toste; sahen bald hier, bald da Flammen emporlodern. Es war so hell, als ob tausend Fackeln brannten.