Abschnitt 1

achter Teil


In Kolberg - das sah ich wohl - war auf keine Hilfe mehr zu rechnen. Ich entschloß mich also, in Gottes Namen unseren unglücklichen König in Königsberg, Memel oder wo ich ihn finden würde, aufzusuchen und ihm Kolbergs Lage und Not zu schildern. In dieser Zeit gerade traf der Kriegsrat Wisseling in Kolberg ein. Ein Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Er sah mit eigenen Augen, wie es hier zuging, und fühlte sich darüber nicht wenig bekümmert. Meine Reise aber mißbilligte er: „Ich begebe mich zum König und werde mein möglichstes tun. Wirken Sie derweilen hier. So Gott will, wird es uns gelingen, den Platz zu retten.“


Täglich fanden sich bei uns noch Versprengte von unseren Truppen ein. Unter ihnen befand sich auch der Leutnant von Schill, der, am Kopf schwer verwundet, nicht weiter konnte. Sobald er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, besahen wir uns den Platz und seine Umgebung. Wir waren uns darüber einig, daß es bei einer erfolgreichen Verteidigung der Festung hauptsächlich auf den Besitz des Hafens ankam. Die sogenannte Maikuhle war die Schlüsselstellung des Hafens. Dieses Lustwäldchen, das sich hart vom Ausfluß der Persante längs den Uferdünen der Ostsee erstreckt, mußte um jeden Preis gehalten werden. Bis zu diesem Augenblick aber war zur Verschanzung dieses entscheidenden Punktes noch keine Schaufel in Bewegung gesetzt worden.

Woher aber Hände nehmen, um dort auch nur einige leichte Erdwerke zustande zu bringen? Auf Schills Zureden und die Versicherung, sich für meine künftige Entschädigung eifrigst zu verwenden, entschloß ich mich, meine paar Pfennige vorzustrecken, die ich im Kasten hatte.

Demzufolge holte ich in der Gelder-Vorstadt und in den umliegenden Dörfern soviel Tagelöhner und Häusler zusammen, wie ich bekommen konnte. Ich versprach und zahlte guten Lohn und verwandte auf diese Weise gegen vierhundert Taler aus meiner Tasche. Tag und Nacht schanzten und arbeiteten wenigstens sechzig Menschen eine geraume Zeit hindurch an diesen Befestigungen nach dem von Schill entworfenen Plan. Weder der Kommandant noch sonst jemand fragte und kümmerte sich, was wir da schafften. So blieb es auch meinem Freund überlassen, diese Schanzen mit seinen Leuten zu besetzen. Allein, um sie dort zu halten, mußte auch für Löhnung und Mundvorrat gesorgt werden. Vorerst fiel diese Sorge mir anheim, solange mein Beutel vorhielt und meine Küche und mein Branntweinlager es vermochten.


Inzwischen war auch Kriegsrat Wisseling mit sehr ausgedehnten Vollmachten vom König wieder zurückgekehrt. Sein Eifer brachte sofort ein neues, wunderbares Leben. Ganze Herden Schlachtvieh, lange Reihen von Getreidewagen zogen zu unsern Toren ein. Heu und Stroh füllte in reichem Überflusse die Futtermagazine. Für diese erzwungenen Lieferungen erhielt der Landmann nach dem Taxwert Lieferungsscheine, die künftig eingelöst werden sollten und mit denen er zufrieden war. In der Stadt wurde geschlachtet und eingesalzen und die Böden der Bürgerhäuser mit Kornvorräten gefüllt. So konnte Kolberg allgemach für notdürftig verproviantiert gelten.

Neuen Trost gab das Eintreffen des Hauptmanns von Waldenfels. Ein junger, tätiger Mann, der vom König geschickt worden war, um als Vizekommandant Loucadou zur Seite zu stehen. Wenn er auch mit dem alten grämlichen Mann manchen Kampf zu bestehen hatte, so mußte er doch auch eben so oft sich seinen Launen fügen. Wir hatten also an ihm noch immer nicht den Mann, den wir brauchten.

Auch Schill, der seit dem Januar vom König zur Organisierung eines Freikorps autorisiert worden war und von allen Seiten gewaltigen Zulauf fand, war ein von Loucadou sehr ungern gesehener Gast, dem er, wo er nur konnte, Hindernisse in den Weg legte. Nun ließ sich der wackre Schill bei all seiner natürlichen Bescheidenheit nicht so leicht unterjochen. Zudem stand sein Ruhm einmal fest; und selbst als ihm sein Überfall auf Stargard mißlang, konnte er sich mit unverletzter Ehre gegen Kolberg zurückziehen.

Bis zum 13. März hatte der Feind seine Umzingelung vollendet. Dennoch war die Einschließung nicht so dicht, daß nicht immer noch Nachrichten durch flüchtende Landsleute zu uns gedrungen wären, die stärkere Zusammenziehung der französischen Truppen ankündigten. Überhaupt blieb uns auf dem Wege längs dem Strand fast die ganze Zeit der Belagerung hindurch noch manche Verbindung mit der Nachbarschaft erhalten, und auch zu Wasser ließ sich jeder beliebige Punkt der Küste heimlich erreichen.

Unsere Belagerer hatten nun auch die Anhöhen der Altstadt besetzt und waren uns dadurch in bedenkliche Nähe gerückt. Es wurde daher hohe Zeit, die Wiesen unter Wasser zu setzen, sodaß an kein Durchkommen zu denken war. Um einen haltbaren Damm zu bekommen, hatte ich mehrere hundert leere Glaskisten mit Erde füllen und neben- und aufeinander versenken lassen. Andere Dämme waren ausgebessert und die Schleusen und Wasserläufe in Ordnung gebracht worden.

Bis zum 19. März waren die Belagerer vornehmlich damit beschäftigt, ihre Lager einzurichten, sich in der Altstadt festzusetzen und eine Verbindungsbrücke über die Persante zu schlagen. Danach rückten sie vor. Das Dorf Sellnow ging verloren, und damit war der Feind Herr des Gradierwerks und der Saline. Die Schanze auf dem Strickerberge, die heftig angegriffen wurde, verteidigten die Grenadiere mit Entschlossenheit bis gegen Abend. Dann mußten sie durch eine Abteilung Freiwillige des Schillschen Korps abgelöst werden. Diese behaupteten sich noch achtundvierzig Stunden.

Scharmützel und Plänkeleien zwischen den Vorposten, kleine Ausfälle und Überrumpelungen waren mit wechselndem Glück an der Tagesordnung und kosteten uns immer einige brave Leute. Ihr Verlust wäre uns noch fühlbarer geworden, wenn wir unsre Reihen nicht hätten ergänzen können. Aber, nun die See wieder fahrbar geworden war, strömten uns von Zeit zu Zeit auf einem dänischen Schiffe und auch auf mehreren Rügenwalder Booten kampflustige ehemalige Kriegsgefangene zu Hunderten zu. Doch auch der Feind verstärkte seine Reihen von Tag zu Tag. Sein Wurfgeschütz richtete hier und da Verheerungen an; besonders machten uns seine so nahe gelegenen Batterien auf der Altstadt viel zu schaffen.

Seit dem letzten mißlungenen Angriff auf die Maikuhle geschahen nur hier und da einige Vorstöße auf unsre Vorpostenkette, um unsre Aufmerksamkeit zu beschäftigen. Dagegen wagte sich der Feind in diesen Tagen an ein Unternehmen, das kühn und groß genug angelegt war, um uns, bei geglückter Ausführung, mit all unseren bisherigen Verteidigungswerken im eigentlichsten Wortverstande aufs Trockene zu setzen. Die Franzosen wollten nämlich der Persante ein anderes Bette graben und sie in den Campschen See ableiten. Das Werk wurde groß und kräftig angefangen; aber bald stieß man auf Schwierigkeiten, die man nicht erwartete hatte. Darum ward auch die Sache wieder aufgegeben. Wir sahen uns von einer Sorge befreit, ehe sie uns noch hatte beunruhigen können.

Empfindlichen Schaden verursachten uns die feindlichen Wurfbatterien auf der Altstadt. Sie zerstörten nicht nur einen Teil unsrer Häuser, sondern nahmen auch manches Menschen Leben und Gesundheit. Und dies schlug den Mut der Menge merklich nieder. Die Geringschätzung unseres unfähigen Kommandanten ging allmählich in wirklichen Haß und Feindseligkeit gegen ihn über.

Desto sehnsüchtiger waren meine Blicke und Hoffnungen auf Memel gerichtet. In meiner Seele lebte ein unüberwindliches Vertrauen, daß mein Klagegeschrei das Ohr unseres Monarchen erreicht haben werde.

Nun rückten auch unsere langgenährten Wünsche ihrer Erfüllung immer näher. Am 26. April führten zwei Schiffe das zweite Pommersche Reserve-Bataillon, siebenhundert Köpfe stark, aus Memel unserer seither auf allerlei Weise verringerten Besatzung als Verstärkung zu. Am nächsten Tage kam auch von Schwedisch-Pommern ein Schiff mit einer guten Anzahl ehemaliger Kriegsgefangener. Diese Ermunterungen brauchten wir auch mehr als jemals, da kurz zuvor das längst erwartete schwere Belagerungsgeschütz im feindlichen Lager eingetroffen war. Jetzt erst drohte der Kampf um Kolberg seinen vollen Ernst zu gewinnen.

Ich eilte, um den Vizekommandanten aufzusuchen und ihm meine Besorgnisse ans Herz zu legen. Bereits auf der Brücke des Münder-Tores begegnete ich ihm. Neben ihm ging ein Mann, den ich nicht kannte und der mit dem Schiff gekommen zu sein schien. Da mein Anliegen an den Vizekommandanten eilig war, zog ich ihn etwas abseits. Waldenfels aber lächelte und sagte: „Kommen Sie nur; in meinem Quartier wird ein bequemerer Ort dazu sein.“

Als wir dort angekommen waren, wandte sich der Hauptmann mit den Worten zu mir: „Freuen Sie sich, alter Freund! Dieser Herr - Major von Gneisenau - ist der neue Kommandant, den uns der König geschickt hat“ ; und zu seinem Gast: „Dies ist der alte Nettelbeck!“ - Ein freudiges Erschrecken fuhr mir durch die Glieder; die Tränen stürzten mir unaufhaltsam aus den alten Augen. Ich fiel vor unserem neuen Schutzgeist in Rührung nieder und rief: „Ich bitte Sie um Gottes willen: Verlassen Sie uns nicht! Wir wollen Sie auch nicht verlassen, sollten auch all unsere Häuser zu Schutthaufen werden. In uns allen lebt nur ein Sinn und Gedanke: Die Stadt darf dem Feinde nicht übergeben werden!“

Der Kommandant hob mich freundlich auf und tröstete mich: „Nein, ich werde euch nicht verlassen. Gott wird uns helfen!“ - Und nun wurden sofort einige wesentliche Angelegenheiten besprochen, wobei sich der helle, umfassende Blick unseres neuen Befehlshabers zeigte. Dann wandte er sich zu mir und sagte: „Noch kennt mich hier niemand. Sie gehen mit mir auf die Wälle, daß ich mich etwas orientiere.“