Der strenge Winter 1921/22.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: R. Mein., Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ostsee, Winter, Klima, Wetter, Frost, Temperaturen, Eiszeit
Aus allen Gegenden Deutschlands, aber auch aus dem Ausland kamen in den letzten Wochen Meldungen über außergewöhnlich niedere Temperaturen. Viele Flüsse und Seen sind teilweise oder fast völlig zugefroren. Zum ersten Male seit der Eröffnung des Nordostseekanals ist die Fahrrinne von dicken Eismassen geschlossen. Der ohnehin gedrückten Stimmung entsprechend wird jetzt schon für den kommenden Winter 1922/23 eine noch viel grimmigere Eiszeit vorausgesagt, und wie in solcher Verfassung nicht anders zu erwarten, gerne geglaubt. Gewöhnlich erinnern sich dann die „ältesten Leute“ an ähnlich kalte Winter und bringen eine recht stattliche Reihe zustande. Nun lässt sich durch meteorologische Aufzeichnungen feststellen, dass die Zahl der strengen Winter seit 1850 verhältnismäßig gering gewesen ist, und dass sie einander auch nicht in kurzen Zeitspannen folgten. Nach dem bis heute noch grimmigsten Winter von 1850 mit den niedersten Temperaturen von 33 bis 36 Grad Celsius währte es bis 1861, ehe ein abnormer Winter kam; ihm folgten 1870/71, 1879/80, 1892/93, 1916/17. Im Winter 1916/17 hielt die niedrige Temperatur am längsten an. Außer den genannten Jahren waren Kälteperioden, die bis zu einer Woche anhielten, wobei das Quecksilber auf 15 bis 20 Grad sank, häufiger.

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Nach der Verarbeitung statistischen Materials über die Winter der letzten Jahrzehnte gelangte Professor Dr. Eugen Alt von der bayrischen Landeswetterwarte zu dem Ergebnis, dass strenge Winter meist unter dem Einfluss des asiatischen Hochdrucks, also bei östlichen Winden, milde dagegen unter der Vorherrschaft ozeanischer Depressionen, also vorwiegend westlicher Strömungen, auftreten. Die Nachprüfungen meteorologisch einwandfreier Aufzeichnungen bestätigten die Richtigkeit dieser Annahme; die milden Winter der beiden letzten Jahrzehnte sind auf vorherrschend westliche Luftströmungen zurückzuführen. Die Ursache des kalten Winters 1921/22 ergibt sich daraus von selbst.

Von unseren größeren Binnengewässern friert der Bodensee selten zu, wenn auch mehr oder weniger ausgedehnte Uferstrecken fast jedes Jahr mit Eis bedeckt sind. Greift der Frost weiter um sich, dann wird zuerst der „Gnadensee“: Insel Reichenau—Hegne bis nach Radolfzell betroffen. Meist folgt dann die Strecke von der Radolfzeller Bucht bis ans gegenüberliegende Ufer nach Iznang. Anfang Februar 1922 war der erstgenannte Teil des Sees mit einer fahrsicheren Eisdecke überzogen; zwischen Land und Insel verkehrten Schlitten, die mit Pferden, Ochsen oder Kühen bespannt waren. In früheren Jahrhunderten und 1879/80 war der Bodensee völlig zugefroren, und Wochen hindurch ging der Verkehr „über Eis“.

In der ganzen Elbmündung war diesmal der Eisgang so stark wie seit 1892/93 nicht mehr. Der Schiffsverkehr ruhte, und Eisbrecher suchten einige Fahrrinnen frei zu halten. Ein dänisches Schiff, das anfänglich noch durchkam, blieb zwischen Gjedser und Warnemünde im Treibeis der Ostsee stecken. Der große Doppelschraubenschlepper „Conia“ der Hamburg Amerika Linie wurde am 14. Februar auf der Unterelbe oberhalb von Kollmar von schweren Treibeismassen überflutet und an den Grund gedrückt. Die zwanzig Mann starke Besatzung vermochte sich an Land zu retten. Der Dampfer konnte vorläufig nicht geborgen werden.

Der Schiffsverkehr in der Kieler Bucht war zur gleichen Zeit unmöglich, die ein Meter starke Eisdecke widerstand allen Durchbruchsversuchen. Das Eis erstreckte sich weit hinaus in die Ostsee. Die Arbeiter der Deutschen Werke in Friedrichsort mussten über das Eis wandern. In der Innenförde lag vom Eis eingeschlossen mit gebrochener Schraube der große ungarische Dampfer „Debriega“, der vergeblich versucht hatte, sich einen Weg in den Kanal zu bahnen. Der gleiche Unstern waltete auch über dem norwegischen Dampfer „Tordis“, der im Kieler Kriegshafen stecken blieb. Wären beide Schiffe auch weitergekommen, so würden sie doch die Fahrrinne im Nordostseekanal zugefroren gefunden haben. In den Werfthäfen sind viele Schiffe eingefroren, darunter der russische Eisbrecher „Lenin“.

Gefährlich ward den Schiffen das Packeis im Rigaischen Meerbusen. Der Kreuzer „Medusa“ befreite vier von den im Eis festsitzenden Schiffen; an die übrigen konnte er nicht herankommen. Nach Überwindung großer Schwierigkeiten gelang es, die eingeschlossene Besatzung auf Schlitten mit Lebensmitteln zu versorgen. Solchen Naturgewalten fallen nicht nur Werte, sondern leider auch Menschenleben zum Opfer. So brachen am 12. Februar vier Wagen eines Hochzeitszuges, die über die zugefrorene Theiß fahren wollten, in der Mitte des Stromes ein und versanken. Siebenundzwanzig Männer und Frauen fanden den Tod.

Die zugefrorene Ostsee — eine natürliche Brücke zwischen der Insel Rügen und dein Festlande. Am Stralsunder Lotsenturm.

Klima, Die zugefrorene Ostsee, eine natürliche Brücke zwischen der Insel Rügen und dem Festland, Am Stralsunder Lotsenturm

Klima, Die zugefrorene Ostsee, eine natürliche Brücke zwischen der Insel Rügen und dem Festland, Am Stralsunder Lotsenturm