Mutter S.

Um das Kleeblatt der drei befreundeten Umwohnerinnen des Spandauer Viertels voll zu machen, will ich sogleich in der Kürze die Biographie der Dritten in diesem Bunde folgen lassen.

Es ist Mutter S., geborne G., noch keine 30 Jahre alt, eine stattliche, strotzende, pompöse Figur mit einem wirklich noch schönen Gesicht, glänzendem Haar und feurigen Augen, kurz eine Gestalt, wie sie uns die alten niederländischen Maler in den verbuhlten Töchtern Loths dargestellt haben. Zur Zeit befindet sie sich „unfreiwillig und unrühmlichst abwesend“ von Berlin, wie wir später sehen werden.


Ihre Jugend hat viel Ähnliches von der Jugend der Blumencaroline, sie hat nie in Dienst oder reeller Arbeit gestanden, sondern sich von vorn herein emanzipiert. Nachdem sie früher in Fabriken gearbeitet und dort die Unsittlichkeit im vollsten Maße kennen gelernt hatte, soll sie besonders gegen Viehhändler und Schweinetreiber sehr zuvorkommend gewesen sein, was ihr damals einen sehr undelikaten Spitznamen zuzog, den ich aus Anstandsrücksichten nicht nennen mag. Später gab sie den Umgang mit jenen Beherrschern der Tierwelt auf und florierte als eine sehr gesuchte Tänzerin und Eroberungen machende Hetäre vorzüglich in dem — jetzt nicht mehr existierenden — Pariser Saal in der Oranienburgerstraße, wo ein sehr besuchtes Puppenspiel gegeben und nachher die ganze Nacht getanzt ward. Dieser Ort war damals einer der liederlichsten in Berlin und ward später von der Polizei geschlossen, nicht bloß in Folge der immer stattfindenden ungeheuren Schlägereien, sondern weil sich auch namentlich zu viele Diebe dort eingefunden hatten. Ich muss im Vorbeigehen bemerken, dass ich es für sehr kurzsichtig halte, wenn man ein Lokal darum schließt, weil Diebe dort verkehren. Werden diese etwa dadurch weniger? Im Gegenteil ist es ein Glück für die Polizei, wenn sie die Gegenstände ihrer Beobachtung an einem Orte zusammen hat, denn dort weiß sie dieselben immer anzutreffen, wenn sie den Einen oder den Andern abfangen will, und kann, bei dem heut zu Tage so beliebten Vigilantensystem, durch ihre gedungenen Späher und Aufpasser dort die Verdächtigen am besten beobachten und aushorchen, und ihre Verbindungen erforschen lassen, während es umgekehrt sehr schwierig ist, einen gleichen Zweck bei den einzeln in Privatwohnungen oder in diversen Kneipen zerstreuten Subjekten zu erreichen. Ad vocem Schlägerei aber, ist es eine Ungerechtigkeit gegen den Wirt des Lokals, wenn man dasselbe um derentwillen zumachen will, denn was kann der Wirt dafür, wenn unter Hunderten seiner Gäste sich zwanzig prügeln? Wir haben, denke ich, doch Gendarmen genug, welche bei zu besorgenden Störungen zur Erhaltung der Ruhe und des Friedens deputiert werden könnten? Dafür gibt man ja seine Abgaben!

Die Bekanntschaft, welche unsere S. — die auch Minna heißt — im Pariser Saal machte, waren für sie nachteilig, sie wurde mit Dieben bekannt, durch diese in Untersuchungen verwickelt und daher einer strengen Polizei-Kontrolle entgegengefühlt. Aus dem vorher erwähnten Grunde schritt sie daher zur Heirat. Ihre Ehe besteht noch, mit Abwechselungen, d. h. sie läuft mit ihrem Mann auf ein halbes Jahr auseinander und wohnt dann wieder vier Wochen mit ihm zusammen, weil ihre Kinder ein großer Anstoß für die Scheidung sind. Übrigens wird sie von ihrem Manne durchaus nicht mit Eifersucht geplagt.

Da ihr Hausstand viel kostet und ihr eigener Verdienst hierzu nicht ausreicht, so hat sie schon seit langer Zeit ein Absteigequartier in ihrer Wohnung, ja sie lässt unter der Firma der Aftermiete Dirnen darin einwohnen, ohne dass sie — was merkwürdig ist! — von der Polizei jemals in ihrer Winkelwirtschaft beunruhigt worden ist. Vielleicht trägt ihr planmäßiger, öfterer Wohnungswechsel hierzu Vieles bei.

Neuerdings hat sie in einer hübschen jüngern Schwester, die sich ebenfalls der Prostitution zugewendet hat, bedeutenden Succurs erhalten.

Die Liebhaber plastischer, voluminöser Formen sind für Minna S. — welche früher deshalb auch als Modellsteherin bei Malern und Bildhauern guten Verdienst gehabt haben soll — sehr eingenommen, und sollen ihre Abwesenheit nicht verschmerzen können. Damit hat es aber folgende Bewandtnis:

Im vorigen Frühjahr machten ein Schmiedegeselle und seine Geliebte ein Gewerbe daraus, Chambre-garnies zu mieten und über Nacht sich mit den Betten zu entfernen. Unzählige derartige Bettdiebstähle kamen vor, bis endlich die Täter einmal in flagranti ertappt und verhaftet wurden.

Von allen auf diese Weise Gestohlenen rekognosziert, legten sie ein offenes Bekenntnis, namentlich über den Verbleib der gestohlenen Betten, ab, welche auch — bis auf ein einziges — bei den Aufkäufern ermittelt und in Beschlag genommen wurden. Mutter S. — welche bei ihrem Geschäft natürlich viele Betten braucht — hatte ebenfalls solche und zwar so billig gekauft, dass ihr der unredliche Erwerb derselben kein Rätsel geblieben sein konnte. Sie ward daher verhaftet und wegen Diebeshehlerei zu sechs Monaten Strafarbeit rechtskräftig verurteilt, welche sie zur Zeit in Brandenburg abbüßt. Nun, nach ihrer Rückkehr — davon bin ich überzeugt — werden ihre zahlreichen Verehrer sie gewiss nicht im Stich lassen, man hat gehört, wie sie sich darauf freuen und die Zeit gar nicht erwarten können!

Was aber an Jemandem zu loben ist, muss man loben. Die S. zeichnet sich, wie ihre Freundin, die Spandauerin, und noch viel mehr als diese, durch ein äußerlich anständiges Betragen, Ordnungsliebe, durch einen im Laufe der Zeit errungenen gewissen Bildungsgrad, Friedfertigkeit, — und was bei einer Prostituierten das Allermerkwürdigste ist! — durch den Mangel jeglichen Brotneides gegen ihre Kolleginnen, endlich durch Uneigennützigkeit rühmlich aus, und hält auf ihre Kinder. Welche Widersprüche liegen doch im Charakter des Menschen, wer kann sie ergründen!