Judenline

Sie ist die Tochter einer ansehnlichen Judenfamilie, welche durch Unglücksfälle ihr Vermögen verlor, und zeigt noch heut — obschon sie bereits seit länger als 16 Jahren im Dienste der Diva libidinosa steht — die Spuren einer zu ihrer Zeit so berühmt gewesenen Schönheit, wie es keine zweite in Berlin gegeben hat. Diese, in Verbindung mit einer angebornen, den Weibern ihrer Nation eigentümlichen Sinnlichkeit, war es aber auch, welche sie von der „rauen Bahn der Tugend“ auf „die grünen, verlockenden Auen der Ausschweifung und des sittlichen Verfalls“ führte. Nachdem sie, wie alle ihre Genossinnen, die noch ein gewisses Gefühl für Scham und Anstand, ihrer lockern Lebensweise ungeachtet, bewahren, Anfangs einzelnen Liebhabern gehuldigt hatte, trat sie sehr bald als flotte Tänzerin in den damals en vogue stehenden Lokalen, dem Kolosseum, dem Onkel und den Anlagen vor dem Oranienburgertore, mit Erfolg auf und ward besonders, wie ihre ebenfalls zur Prostitution übergegangene Schwester, ein Gegenstand der Flammen der Studenten. Dabei hatte sie einen speziellen Liebhaber, von dem sie sagte, dass er sie heiraten wolle, welches aber nicht geschehen ist. Dieser — kein Student, sondern ein Ouvrier — obschon er wusste, was Line für ein Gewerbe trieb, ward oft eifersüchtig und pflegte sie dann, ohne die mindeste Rücksicht, z. B. beim Onkel oder in den Anlagen, auf dem Hofe oder im Garten, so zu prügeln und an den Haaren zu zausen, dass man hätte vermuten sollen, sie würde ihm bei der ersten derartigen Maltraitierung den Abschied gegeben haben. Aber es ist merkwürdig, es passierte bei ihr, wie bei allen Prostituierten. Ganz wie die russischen Weiber, welche ihre Männer der Untreue beschuldigen, wenn sie die schönen Ehehälften nicht mindestens ein paar Mal in der Woche durchprügeln, — so schien auch die Liebe der Line zu ihrem Bräutigam zu wachsen, je mehr derbe Beweise davon er ihr mit Faust und Nägeln zukommen ließ.

Sie ließ sich taufen, vermutlich um der erwarteten Heirat jedes Hindernis zu nehmen. Als sie nun endlich sich von der Leerheit ihrer Hoffnung überzeugt hatte, suchte sie wohlhabende Männer jedes Alters und Standes in ihr Netz zu ziehen und hatte dabei Glück. Von der Polizei nicht verfolgt, weil sie sich äußerlich anständig betrug und mit liederlichem Gesindel nie in Verbindung trat, hat sie von Anfang an bis jetzt unangefochten gelebt, und man muss ihr wirklich nachrühmen, dass in der Ordnungsliebe und dem äußern Anstande sie die erste aller Mätressen und filles de joie von Berlin ist. Darum hat man ihr auch nie öffentliche Orte oder die ersten Theaterplätze verboten und sie nicht einmal wegen der ihr untersagten Beherbergung der Fritzchen Gl. zur Verantwortung gezogen. Sie ist aber auch nicht Gassendirne gewesen und hat die gemeinen Kupplerinnen nicht besucht. Ihren Hauptverkehr hatte sie früher bei der P....I in der Friedrichsstraße, wo sie aber zur rechten Zeit absprang, sodann in der bekannten, bloß für Standespersonen (o. h. Beamte, Militärs, Rentiers, junge Verschwender u. s. w.) eingerichteten Winkelwirtschaft der R....e in der D-Straße, wo Julie K..., die separierte G....s und Andere die Hauptrolle spielen, und welches Geschäft stillschweigend toleriert zu werden scheint, da man beim Betriebe desselben äußerlich jeden Eklat sorgfältig meidet. Wie oft habe ich im zufälligen Vorbeigehen Männer von Stande, welche halb Berlin kennt, „in Mantel und Kappe vermummt,“ — wie Bürger vom Junker von Falkenstein sagt, wenn er die schöne Rosette besuchte — heimlich und sich ganz unkenntlich machend oder glaubend, in die Wohnung der K. hineinschlüpfen und eben so vorsichtig das Haus verlassen sehen, wo in den eleganten Hinterzimmern, unbemerkt von dem Publikum, welches Nichts ahnend vorbei passiert, Bacchus und Venus in sittenlosen Umarmungen schwelgen, und immer von Neuem ihre Orgien wieder beginnen, gereizt und sich reizend durch die schamlosen Übertreibungen einer raffinierten Koketterie, ganz in dem Sinne, wie Juvenal in seinen Strafpredigten von den Lukubrationen der Messalina mit den ausgelassenen Libertinen und Prätorianern zu Rom spricht:


“Et lassata viris, necdum satiata recessit.”

Ich rufe mit Cicero's Worten: O tempore, o mores! Was wird aus einem solchen Geschlecht werden, wenn die sogenannten bessern Stände, — die aber selten die besten sind, — mit solchen verderblichen Beispielen, in den Kuppeleien, wie in den Boudoirs ihrer Mätressen und in dem Heiligtum der Familien selbst, — wo die Armut die Mutter zwingt, die Tochter der Sünde zu verkaufen — den sogenannten niedern Klassen vorleuchten! Betätigt sich etwa hierin der moralische Einfluss, von welchem man seiner Zeit so viel salbadert hat, und wodurch Proletariat und Verarmung, Hunger und Verbrechen, Prostitution und sittliches Elend, — jene grauenvollen Gespenster der Gegenwart und rächende Geister für die Zukunft — wieder in ihre Gruft beschworen werden sollten? Was wird an der statt geschehen? Was Horaz in der 6ten Ode des 3ten Buches den Römern prophezeit und was auch eingetroffen ist und den Untergang der alten Welt durch neue, kräftige und kühne Völker herbeigeführt hat.

Dass Judenline noch heut jene maison perdue besucht, — wo sie immer die Anständigste und Zurückhaltendste, wie Julie K. die Ausschweifendste und Zügelloseste gewesen ist, — glaube ich nicht, ich habe auch lange über ihren Wandel nichts Nachteiliges gehört. Sie lebt zurückgezogen, arbeitet fleißig, — wie sie es nebenbei stets getan hat, — und wird sich wahrscheinlich bald mit einem Bürgersmann verehelichen, wozu ihr Jeder, der sie historisch kennt, Glück wünschen wird, da ich glaube, dass sie von allen Prostituierten vielleicht die Einzige ist, für deren wahrhafte Umkehr man auf die Dauer kavieren könnte. Bemerken muss ich, dass auch ihre Schwester schon längst einen bessern Weg eingeschlagen hat.