Die Kutschersfrau L..... geborene H.......
Aus einem Städtchen der preußischen Provinz Sachsen gebürtig, kam sie sehr jung mit ihrer Schwester, der Witwe PH.... nach Berlin und befindet sich gegenwärtig in der Hälfte der dreißiger Jahre. Wenige Frauenspersonen in Berlin stehen bei der Kriminalpolizei so übel angeschrieben, als sie und ihre Schwester. Beide sind mit die gefährlichsten Diebeshehlerinnen, welche in Berlin existieren, Beide haben mit den gewandtesten Verbrechern Verbindungen, welche sich sogar bis in fremde Regierungsbezirke erstrecken, und überdies steht die L. in dem Rufe, dass sie eine geschickte Schlüsseldiebin ist. Ein Weib als solche ist aber gefährlicher, als zehn Männer, weil Niemand in ihr die Täterin solcher Verbrechen vermutet, wenn sie auch hier oder da einmal auf dem Flur eines Hauses getroffen wird. Es ist meine Absicht, zu erzählen, wie sie das geworden ist, was sie jetzt ist, und ich glaube, dass — bei ihrem von Hause aus nur leichtsinnigen, aber nicht schlechten Charakter — unsere sozialen Verhältnisse die Hauptschuld ihrer Versunkenheit tragen.
Bei ihrer Schwester, der Witwe Ph., hatte die L. freilich nicht viel Gutes gesehen, da Erstere bei dem frühen Tode ihres Mannes, statt zu arbeiten, sofort anfing von verbrecherischem Verkehr zu leben. Indessen die Hände der L. hielten sich rein, und da sie das Treiben ihrer Schwester verabscheute, trat sie in Dienste, worin sie mehrere Jahre zur Zufriedenheit ihrer Herrschaften aushielt. Ein Wortwechsel mit einer zänkischen Dienstfrau machte sie dienstlos, sie erhielt ein schlechtes Attest und konnte daher nicht sofort wieder ein Unterkommen finden.
Sie zog nun zu ihrer Schwester, welche damals gerade in großer Geldnot war und sie beredete, ihre Sachen zu versetzen. Ihre Schwester hielt mit der versprochenen Rückzahlung nicht Wort, die L. konnte ihr notdürftiges Zeug nicht wieder einlösen und sich also auch vor keiner Herrschaft sehen lassen. Die Not ward größer und zuletzt — im Winter 1836 bis 37 — hatten beide Frauenspersonen weder Feuerung, noch ausreichende Kleidung, noch Nahrungsmittel. Die Liederlichkeit ihrer Schwester und ihr eigener Leichtsinn hatten also die L. bis zu einem Zustande geführt, wo sie entweder der Polizei oder der Kriminaljustiz verfallen musste.
Es erfolgte, auf eingegangene Denunziation, eine polizeiliche Visitation nach gestohlenem Gute in der Wohnung der Witwe Ph. Eine Partie zum Teil wertvoller Boas, und eine neue Pelzmütze, welche der damals 14jährige Sohn der Ph. trug, — welcher, beiläufig gesagt, bereits seit vier Jahren die Strafe des zweiten gewaltsamen Diebstahls in Spandau verbüßt, — wurden in Beschlag genommen, und die PH. mit ihrem Sohne und ihrer Schwester arretiert. So kam die L. zum ersten Male in das Gefängnis und zwar in das Kriminal-Gefängnis. Die vorgefundenen Sachen hatte die Ph. mit ihrem Sohne augenscheinlich auf dem Weihnachtsmarkt gestohlen, ja man hatte „letztere Beide in der Nähe der Bude gesehen, deren Inhaber diese Gegenstände als sein Eigentum rekognoszierte; indessen alle drei Verhaftete leugneten tapfer und namentlich wollte die Ph. Nichts davon wissen, wie die Sachen in ihre Wohnung gekommen wären. Inzwischen kam gegen die L. zur Sprache, dass sie mit ihrer Schwester zusammen in einem Schlächterscharrn ein Stück Speck — von einigen Pfunden — gestohlen habe. Diesen Diebstahl räumte sie unumwunden ein, obwohl ihre abgefeimte Schwester nicht dazu bewogen werden konnte. Die L. erlitt zum ersten Male die Strafe des kleinen gemeinen Diebstahls mit vierzehn Tagen Gefängnis. Während ihrer Strafzeit dachte sie über ihr Schicksal nach. Sie sah ein, dass sie jetzt aus der gesitteten Welt ausgestoßen sei, dass Jeder die bestrafte Diebin fliehen, dass Niemand sie in Dienst oder in Arbeit nehmen werde. Ferner wusste sie von ihrer Schwester her, dass die Polizei sie jetzt verfolgen werde, dass dieselbe in jedem Augenblick, bei Tage und bei Nacht, in ihre Wohnung dringen oder ihren Broterwerb recherchieren könne. Das erbitterte ihr Herz, namentlich gegen Den, welchem sie ihre Lage Schuld gab, für den sie sich früher aufgeopfert und welcher sie nachher im Stich gelassen hatte, als sie ihm keine pekuniären Vorteile mehr zu bieten vermochte. Dies war ein Unteroffizier, welcher ihr die Ehe versprochen, aber nicht Wort gehalten hatte. Sie beschloss sich an ihm zu rächen, selbst wenn sie dabei mit untergehen sollte. Daher legte sie, aus freien Stücken ein Bekenntnis ab, dass jener Unteroffizier sie ein Jahr vorher — als sie bei dem, später nach Amerika ausgewanderten und zuletzt im hiesigen Arbeitshause eingesperrten Privatdozenten der Philosophie an hiesiger Universität, Dr. v. K., gedient — beschwängert, und dann, kurz vor der zu erwartenden Niederkunft, die Leibesfrucht mittelst eines ihr gebrachten Tees von grünen Zweigen (Juniperus Sabina) abgetrieben habe. Ihr Bekenntnis war so vollständig in sich zusammenhängend, stimmte auch rücksichtlich des Tees, welchen der Dr. v. K. in der Küche gefunden und darnach gefragt hatte, mit dessen Zeugnis so überein, dass man wirklich in Versuchung geriet, ihr auch in Bezug auf die Bezichtigung jenes Unteroffiziers — mit welchem sie erweislich in einem engen Liebesverhältnis gestanden — Glauben beizumessen. Nach dem preußischen Kriminalrecht wiegt aber bekanntlich das Geständnis nicht — wie im gemeinen deutschen Recht — die Feststellung des objektiven Tatbestandes auf, d. h. derjenigen außerhalb der Person des Täters liegenden Momente, welche es gewiss, oder doch wenigstens höchst wahrscheinlich machen, dass ein Verbrechen wirklich begangen worden sei. Im vorliegenden Fall war kein solches Merkmal vorhanden, das Gericht ging deshalb auf die, überdies aus rachsüchtigen Motiven erklärliche Selbstanklage der L. nicht ein und sie ward nach Ablauf der Strafzeit entlassen, nachdem ihre Schwester schon früher in Freiheit gesetzt und deren Sohn bloß wegen des später eingestandenen Diebstahls der Pelzmütze bestraft worden war.
Jetzt war also die L. eine bestrafte Diebin und ward — wie dies noch heut geschieht — unter strenge Polizeiaufsicht gestellt. Überdies war sie nackt und bloß, also konnte sie keinen Dienst, keine Arbeit finden, und hätte sie wirklich ein Unterkommen gefunden, so würden die Nachfragen der Polizei sie doch bald daraus vertrieben haben. Das wusste sie. Was blieb ihr übrig? Zu betteln schämte sie sich, vor dem Stehlen schreckte sie ein noch nicht ganz ersticktes Moralgefühl ab, indem sie den ersten, nur durch den Hunger herbeigeführten Diebstahl wirklich bereute. Es gab mithin nur noch eine Rettung — das Bordell. Schon am Tage nach ihrer Entlassung erschien sie, aufgeputzt und frisiert, mit der bekannten frühern Bordellwirtin, Wittwe Gl., vor ihrem gewesenen Inquirenten, um den Rest ihrer Effekten aus dem Gefängnisdepositorium abzuholen, vielleicht auch, verblendet genug, sich in ihrem erborgten Staate zu zeigen. Für die Kupplerin war sie, als eine damals nicht unansehnliche Person, gewiss rentierend.
Als sie eine Zeit lang Bordelldirne gewesen war, hatte sie das Unglück, schwanger zu werden, ohne einen Vater zu ihrem Kinde zu haben. Sie kam in der Charite nieder und ward nach Ablauf von sechs Wochen mit ihrem Kinde entlassen. Was aber jetzt anfangen? Auch ihre letzte Retirade, das Bordell, war ihr nunmehr verschlossen, da in Folge polizeilicher Bestimmungen keine Dirne, welche Kinder hatte, darin aufgenommen werden durfte.
Sie hatte gestohlen und war polizeilich eingeschriebene Lohndirne gewesen. Dies reichte aus, um für ewig von der Menschheit verachtet und zurückgestoßen zu werden! —
Tragen nun nicht unsere sozialen Einrichtungen, unsere Begriffe von Tugend und Laster, unsere Polizeigesetze die Schuld, dass die L. eine verruchte Diebin, eine Hehlerin, eine Winkelkupplerin und wer weiß, was noch Alles geworden ist? Man beantworte meine Fragen: ist das die gerühmte (Zivilisation und Moralit?t des neunzehnten Jahrhunderts, ist das etwa der kirchliche Sinn unserer Zeit? Tausende solcher Beispiele kann ich erzählen und alle Tage kommen sie vor. Schafft sich also die Gesellschaft und die Polizei nicht selbst ihre Verbrecher, anstatt die Gefallenen wieder zu heben? —
Das Kind der L. starb, wie zu vermuten stand, da sie nicht im Stande war, demselben die in dem frühesten Alter so nötige Pflege zukommen zu lassen. Findelhäuser haben wir einmal nicht und die polizeilichen Haltekinder existierten damals noch nicht, obschon dieselben eben so schlecht gehalten werden sollen, wie andere arme Kinder, wie uns neulichst die in Berliner Blättern gestandene Geschichte von der sogenannten Engelmacherin gelehrt hat, welche ihre Pflegekinder schnell zu Engeln machte, d. h., so schlecht verpflegte, dass sie bald starben.
Nun war die L. wieder frei. Nach dem Bordell ging sie aber nicht, sondern trieb die Prostitution auf eigne Hand, indem sie ganz richtig kalkulierte, dass sie das ja allein für sich verdienen könne, was sie der Kupplerin abgeben müsse. Dabei trieb sie auch Winkelwirtschaft, weshalb sie späterhin einmal, von ihrer eignen Schwester, der Witwe PH. denunziert, zur Haft gebracht und bestraft worden ist. Jetzt machte sie die Bekanntschaft des Kutschers L., eines gefährlichen Diebes, den sie heiratete und von welchem sie stehlen lernte, d. h. den Gebrauch der Nachschlüssel und übrigen Diebesinstrumente, deren Anwendung, sowie die planmäßige Ausführung von Diebstählen überhaupt ihr früher noch ein Geheimnis gewesen war. Wie ihr sittlicher Charakter nunmehr in totale Verworfenheit überging, brauche ich nicht zu schildern. Öfters wegen ihres Verkehrs mit Dieben verhaftet, ward sie zur Untersuchung gezogen, und teils vorläufig freigesprochen, teils auch bestraft, jedoch immer nur mit kurzen Freiheitsstrafen, da sie jetzt eine gewandte Lügnerin geworden war. Ihr Mann ward bei einem großen gewaltsamen Diebstahl zur Untersuchung herangezogen und mit einjährigem Zuchthaus bestraft. Hierauf gründete sie eine Ehescheidungsklage, da sie ihn jetzt los zu sein wünschte, um sich bei dem Betriebe der Prostitution nicht beschränken zu müssen. Die Ehetrennung erfolgte, da Kinder nicht vorhanden waren, und da der Grund der Gegenklage des Mannes — Ehebruch — ebenfalls erwiesen ward.
Der Kutscher L. ist jetzt wegen zweiten gewaltsamen Diebstahls auf eine lange Reihe von Jahren eingesperrt. Es gab nämlich vor zwei bis drei Jahren einen Polizeivigilanten, den Schlossergesellen B., welcher, man kann nicht anders annehmen, als mit Wissen und Auftrag einiger Polizeibeamten, gestrafte Diebe zu Einbrüchen verleitete, wobei er selbst Wache hielt und die Verführten in flagranti ergreifen ließ. Dies Manöver geschah zu oft, und zuletzt ward es bei einem Königlichen Gebäude in Potsdam versucht, wobei der Vigilant B. selbst zur Haft und Untersuchung gezogen, und von dem ersten Richter bestraft ward, in zweiter Instanz jedoch mit einer vorläufigen Lossprechung wegkam. Durch dieses verabscheuungswürdige Verfahren — welches das Königliche Ministerium des Innern der Polizei in der Folge sehr ernstlich untersagt hat — ward auch der Kutscher L. durch jenen Schlossergesellen zu einem Einbruch in der Lindenstraße verleitet, wobei er von den im gegenüberliegenden Hause aufpassenden Polizeiofficianten und Gendarmen ergriffen ward.
Nach ihrer Scheidung hielt es die L. nun ungescheut mit den gefährlichsten Dieben, wie dem Schneider Tr........m, dem Ökonomen A......., zwei höchst gefährlichen Nachschlüsseldieben, besonders aber mit dem Fuhrknecht Rh..., welcher als Kofferabschneider auf den Landstraßen fungiert, und mit dem sie sich sogar wieder verheiraten wollte. Allein dieser hat ihr abgenommen, was sie hatte, und sie sodann im Stich gelassen. In der Folge hat sie sich mit ihren Liebhabern, sowohl mit dem Schneider, als dem Fuhrknecht, auf dem Stadtgericht herumgeklagt.
So ist sie von Stufe zu Stufe des Lasters gesunken und wie es scheint, je schlechter und gemeinschädlicher Jemand ist, desto lieber ist er bei ihr gesehen. Ihre Bekanntschaft reicht aber auch durch die ganze Diebeswelt und sie hat jetzt ihre Schwester darin weit überflügelt. Vielleicht, erinnert sich mancher Leser der berüchtigten Francisca Braun, jener diebischen Amazone, welche zuerst im November 1843 aus dem Zuchthause zu Brandenburg und dann im vorigen Jahre auf dem Transporte nach der Strafanstalt zu Sagan entsprang und hier beide Male viele Verbrechen verübte. Diese ward von der L. beherbergt, welche deshalb auch verhaftet ward und, wie ihre Schwester, die Untersuchung wider die Braun mit durchgemacht hat.
Ferner erinnert sich vielleicht Mancher des jetzt in Frankfurt a. d. Oder in Haft und Untersuchung befindlichen Einbrechers, des berüchtigten Privatschreibers Bethge, welcher in Berlin, Frankfurt u. s. w. bedeutende Diebstähle ausgeführt hat. Auch dieser war ein Liebhaber der L., welche ihn im vorigen Herbst sogar in Frankfurt besuchen wollte, jedoch dort polizeilich angehalten ward.
Was unter solchen Anspielen von ihr für die Zukunft zu erwarten ist, brauche ich wohl nicht auszuführen!
Bei ihrer Schwester, der Witwe Ph., hatte die L. freilich nicht viel Gutes gesehen, da Erstere bei dem frühen Tode ihres Mannes, statt zu arbeiten, sofort anfing von verbrecherischem Verkehr zu leben. Indessen die Hände der L. hielten sich rein, und da sie das Treiben ihrer Schwester verabscheute, trat sie in Dienste, worin sie mehrere Jahre zur Zufriedenheit ihrer Herrschaften aushielt. Ein Wortwechsel mit einer zänkischen Dienstfrau machte sie dienstlos, sie erhielt ein schlechtes Attest und konnte daher nicht sofort wieder ein Unterkommen finden.
Sie zog nun zu ihrer Schwester, welche damals gerade in großer Geldnot war und sie beredete, ihre Sachen zu versetzen. Ihre Schwester hielt mit der versprochenen Rückzahlung nicht Wort, die L. konnte ihr notdürftiges Zeug nicht wieder einlösen und sich also auch vor keiner Herrschaft sehen lassen. Die Not ward größer und zuletzt — im Winter 1836 bis 37 — hatten beide Frauenspersonen weder Feuerung, noch ausreichende Kleidung, noch Nahrungsmittel. Die Liederlichkeit ihrer Schwester und ihr eigener Leichtsinn hatten also die L. bis zu einem Zustande geführt, wo sie entweder der Polizei oder der Kriminaljustiz verfallen musste.
Es erfolgte, auf eingegangene Denunziation, eine polizeiliche Visitation nach gestohlenem Gute in der Wohnung der Witwe Ph. Eine Partie zum Teil wertvoller Boas, und eine neue Pelzmütze, welche der damals 14jährige Sohn der Ph. trug, — welcher, beiläufig gesagt, bereits seit vier Jahren die Strafe des zweiten gewaltsamen Diebstahls in Spandau verbüßt, — wurden in Beschlag genommen, und die PH. mit ihrem Sohne und ihrer Schwester arretiert. So kam die L. zum ersten Male in das Gefängnis und zwar in das Kriminal-Gefängnis. Die vorgefundenen Sachen hatte die Ph. mit ihrem Sohne augenscheinlich auf dem Weihnachtsmarkt gestohlen, ja man hatte „letztere Beide in der Nähe der Bude gesehen, deren Inhaber diese Gegenstände als sein Eigentum rekognoszierte; indessen alle drei Verhaftete leugneten tapfer und namentlich wollte die Ph. Nichts davon wissen, wie die Sachen in ihre Wohnung gekommen wären. Inzwischen kam gegen die L. zur Sprache, dass sie mit ihrer Schwester zusammen in einem Schlächterscharrn ein Stück Speck — von einigen Pfunden — gestohlen habe. Diesen Diebstahl räumte sie unumwunden ein, obwohl ihre abgefeimte Schwester nicht dazu bewogen werden konnte. Die L. erlitt zum ersten Male die Strafe des kleinen gemeinen Diebstahls mit vierzehn Tagen Gefängnis. Während ihrer Strafzeit dachte sie über ihr Schicksal nach. Sie sah ein, dass sie jetzt aus der gesitteten Welt ausgestoßen sei, dass Jeder die bestrafte Diebin fliehen, dass Niemand sie in Dienst oder in Arbeit nehmen werde. Ferner wusste sie von ihrer Schwester her, dass die Polizei sie jetzt verfolgen werde, dass dieselbe in jedem Augenblick, bei Tage und bei Nacht, in ihre Wohnung dringen oder ihren Broterwerb recherchieren könne. Das erbitterte ihr Herz, namentlich gegen Den, welchem sie ihre Lage Schuld gab, für den sie sich früher aufgeopfert und welcher sie nachher im Stich gelassen hatte, als sie ihm keine pekuniären Vorteile mehr zu bieten vermochte. Dies war ein Unteroffizier, welcher ihr die Ehe versprochen, aber nicht Wort gehalten hatte. Sie beschloss sich an ihm zu rächen, selbst wenn sie dabei mit untergehen sollte. Daher legte sie, aus freien Stücken ein Bekenntnis ab, dass jener Unteroffizier sie ein Jahr vorher — als sie bei dem, später nach Amerika ausgewanderten und zuletzt im hiesigen Arbeitshause eingesperrten Privatdozenten der Philosophie an hiesiger Universität, Dr. v. K., gedient — beschwängert, und dann, kurz vor der zu erwartenden Niederkunft, die Leibesfrucht mittelst eines ihr gebrachten Tees von grünen Zweigen (Juniperus Sabina) abgetrieben habe. Ihr Bekenntnis war so vollständig in sich zusammenhängend, stimmte auch rücksichtlich des Tees, welchen der Dr. v. K. in der Küche gefunden und darnach gefragt hatte, mit dessen Zeugnis so überein, dass man wirklich in Versuchung geriet, ihr auch in Bezug auf die Bezichtigung jenes Unteroffiziers — mit welchem sie erweislich in einem engen Liebesverhältnis gestanden — Glauben beizumessen. Nach dem preußischen Kriminalrecht wiegt aber bekanntlich das Geständnis nicht — wie im gemeinen deutschen Recht — die Feststellung des objektiven Tatbestandes auf, d. h. derjenigen außerhalb der Person des Täters liegenden Momente, welche es gewiss, oder doch wenigstens höchst wahrscheinlich machen, dass ein Verbrechen wirklich begangen worden sei. Im vorliegenden Fall war kein solches Merkmal vorhanden, das Gericht ging deshalb auf die, überdies aus rachsüchtigen Motiven erklärliche Selbstanklage der L. nicht ein und sie ward nach Ablauf der Strafzeit entlassen, nachdem ihre Schwester schon früher in Freiheit gesetzt und deren Sohn bloß wegen des später eingestandenen Diebstahls der Pelzmütze bestraft worden war.
Jetzt war also die L. eine bestrafte Diebin und ward — wie dies noch heut geschieht — unter strenge Polizeiaufsicht gestellt. Überdies war sie nackt und bloß, also konnte sie keinen Dienst, keine Arbeit finden, und hätte sie wirklich ein Unterkommen gefunden, so würden die Nachfragen der Polizei sie doch bald daraus vertrieben haben. Das wusste sie. Was blieb ihr übrig? Zu betteln schämte sie sich, vor dem Stehlen schreckte sie ein noch nicht ganz ersticktes Moralgefühl ab, indem sie den ersten, nur durch den Hunger herbeigeführten Diebstahl wirklich bereute. Es gab mithin nur noch eine Rettung — das Bordell. Schon am Tage nach ihrer Entlassung erschien sie, aufgeputzt und frisiert, mit der bekannten frühern Bordellwirtin, Wittwe Gl., vor ihrem gewesenen Inquirenten, um den Rest ihrer Effekten aus dem Gefängnisdepositorium abzuholen, vielleicht auch, verblendet genug, sich in ihrem erborgten Staate zu zeigen. Für die Kupplerin war sie, als eine damals nicht unansehnliche Person, gewiss rentierend.
Als sie eine Zeit lang Bordelldirne gewesen war, hatte sie das Unglück, schwanger zu werden, ohne einen Vater zu ihrem Kinde zu haben. Sie kam in der Charite nieder und ward nach Ablauf von sechs Wochen mit ihrem Kinde entlassen. Was aber jetzt anfangen? Auch ihre letzte Retirade, das Bordell, war ihr nunmehr verschlossen, da in Folge polizeilicher Bestimmungen keine Dirne, welche Kinder hatte, darin aufgenommen werden durfte.
Sie hatte gestohlen und war polizeilich eingeschriebene Lohndirne gewesen. Dies reichte aus, um für ewig von der Menschheit verachtet und zurückgestoßen zu werden! —
Tragen nun nicht unsere sozialen Einrichtungen, unsere Begriffe von Tugend und Laster, unsere Polizeigesetze die Schuld, dass die L. eine verruchte Diebin, eine Hehlerin, eine Winkelkupplerin und wer weiß, was noch Alles geworden ist? Man beantworte meine Fragen: ist das die gerühmte (Zivilisation und Moralit?t des neunzehnten Jahrhunderts, ist das etwa der kirchliche Sinn unserer Zeit? Tausende solcher Beispiele kann ich erzählen und alle Tage kommen sie vor. Schafft sich also die Gesellschaft und die Polizei nicht selbst ihre Verbrecher, anstatt die Gefallenen wieder zu heben? —
Das Kind der L. starb, wie zu vermuten stand, da sie nicht im Stande war, demselben die in dem frühesten Alter so nötige Pflege zukommen zu lassen. Findelhäuser haben wir einmal nicht und die polizeilichen Haltekinder existierten damals noch nicht, obschon dieselben eben so schlecht gehalten werden sollen, wie andere arme Kinder, wie uns neulichst die in Berliner Blättern gestandene Geschichte von der sogenannten Engelmacherin gelehrt hat, welche ihre Pflegekinder schnell zu Engeln machte, d. h., so schlecht verpflegte, dass sie bald starben.
Nun war die L. wieder frei. Nach dem Bordell ging sie aber nicht, sondern trieb die Prostitution auf eigne Hand, indem sie ganz richtig kalkulierte, dass sie das ja allein für sich verdienen könne, was sie der Kupplerin abgeben müsse. Dabei trieb sie auch Winkelwirtschaft, weshalb sie späterhin einmal, von ihrer eignen Schwester, der Witwe PH. denunziert, zur Haft gebracht und bestraft worden ist. Jetzt machte sie die Bekanntschaft des Kutschers L., eines gefährlichen Diebes, den sie heiratete und von welchem sie stehlen lernte, d. h. den Gebrauch der Nachschlüssel und übrigen Diebesinstrumente, deren Anwendung, sowie die planmäßige Ausführung von Diebstählen überhaupt ihr früher noch ein Geheimnis gewesen war. Wie ihr sittlicher Charakter nunmehr in totale Verworfenheit überging, brauche ich nicht zu schildern. Öfters wegen ihres Verkehrs mit Dieben verhaftet, ward sie zur Untersuchung gezogen, und teils vorläufig freigesprochen, teils auch bestraft, jedoch immer nur mit kurzen Freiheitsstrafen, da sie jetzt eine gewandte Lügnerin geworden war. Ihr Mann ward bei einem großen gewaltsamen Diebstahl zur Untersuchung herangezogen und mit einjährigem Zuchthaus bestraft. Hierauf gründete sie eine Ehescheidungsklage, da sie ihn jetzt los zu sein wünschte, um sich bei dem Betriebe der Prostitution nicht beschränken zu müssen. Die Ehetrennung erfolgte, da Kinder nicht vorhanden waren, und da der Grund der Gegenklage des Mannes — Ehebruch — ebenfalls erwiesen ward.
Der Kutscher L. ist jetzt wegen zweiten gewaltsamen Diebstahls auf eine lange Reihe von Jahren eingesperrt. Es gab nämlich vor zwei bis drei Jahren einen Polizeivigilanten, den Schlossergesellen B., welcher, man kann nicht anders annehmen, als mit Wissen und Auftrag einiger Polizeibeamten, gestrafte Diebe zu Einbrüchen verleitete, wobei er selbst Wache hielt und die Verführten in flagranti ergreifen ließ. Dies Manöver geschah zu oft, und zuletzt ward es bei einem Königlichen Gebäude in Potsdam versucht, wobei der Vigilant B. selbst zur Haft und Untersuchung gezogen, und von dem ersten Richter bestraft ward, in zweiter Instanz jedoch mit einer vorläufigen Lossprechung wegkam. Durch dieses verabscheuungswürdige Verfahren — welches das Königliche Ministerium des Innern der Polizei in der Folge sehr ernstlich untersagt hat — ward auch der Kutscher L. durch jenen Schlossergesellen zu einem Einbruch in der Lindenstraße verleitet, wobei er von den im gegenüberliegenden Hause aufpassenden Polizeiofficianten und Gendarmen ergriffen ward.
Nach ihrer Scheidung hielt es die L. nun ungescheut mit den gefährlichsten Dieben, wie dem Schneider Tr........m, dem Ökonomen A......., zwei höchst gefährlichen Nachschlüsseldieben, besonders aber mit dem Fuhrknecht Rh..., welcher als Kofferabschneider auf den Landstraßen fungiert, und mit dem sie sich sogar wieder verheiraten wollte. Allein dieser hat ihr abgenommen, was sie hatte, und sie sodann im Stich gelassen. In der Folge hat sie sich mit ihren Liebhabern, sowohl mit dem Schneider, als dem Fuhrknecht, auf dem Stadtgericht herumgeklagt.
So ist sie von Stufe zu Stufe des Lasters gesunken und wie es scheint, je schlechter und gemeinschädlicher Jemand ist, desto lieber ist er bei ihr gesehen. Ihre Bekanntschaft reicht aber auch durch die ganze Diebeswelt und sie hat jetzt ihre Schwester darin weit überflügelt. Vielleicht, erinnert sich mancher Leser der berüchtigten Francisca Braun, jener diebischen Amazone, welche zuerst im November 1843 aus dem Zuchthause zu Brandenburg und dann im vorigen Jahre auf dem Transporte nach der Strafanstalt zu Sagan entsprang und hier beide Male viele Verbrechen verübte. Diese ward von der L. beherbergt, welche deshalb auch verhaftet ward und, wie ihre Schwester, die Untersuchung wider die Braun mit durchgemacht hat.
Ferner erinnert sich vielleicht Mancher des jetzt in Frankfurt a. d. Oder in Haft und Untersuchung befindlichen Einbrechers, des berüchtigten Privatschreibers Bethge, welcher in Berlin, Frankfurt u. s. w. bedeutende Diebstähle ausgeführt hat. Auch dieser war ein Liebhaber der L., welche ihn im vorigen Herbst sogar in Frankfurt besuchen wollte, jedoch dort polizeilich angehalten ward.
Was unter solchen Anspielen von ihr für die Zukunft zu erwarten ist, brauche ich wohl nicht auszuführen!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der sittliche Zustand von Berlin nach Aufhebung der geduldeten Prostitution des weiblichen Geschlechts