Der sittliche Zustand von Berlin, nach Aufhebung der tolerierten Prostitution, im Sommer 1846, mit Hinblick auf seine speziellen Ursachen

Der Verfasser „der Prostitution und ihrer Opfer“ gibt S. 77 an, dass in Berlin 11.600 Menschen auf freiem Fuße existieren, welche wegen Bestrafung oder vorläufiger Lossprechung unter Polizeiaufsicht stehen.

Die Zahl ist richtig, der Zusatz nicht. Das Einwohner-Melde-Amt weist allerdings jetzt über 11.000 Individuen nach, welche kriminell oder fiskalisch in Untersuchung waren; unter Polizeiaufsicht stehen aber nicht so viele. Denn es gehen nicht bloß über 7.000 nur fiskalisch Gestrafte oder von der Instanz Absolvierte, oder nur wegen unbedeutender Vergehen gravierte (wie z. B. Selbsthilfe, Widersetzlichkeit gegen die Beamten u. s. w.) oder endlich bereits rehabilitierte und daher der eigentlichen Polizeiaufsicht enthobene Personen von jenen 11.600 ab, sondern man muss auch die Rückfälligen subtrahieren, welche entweder in Polizei- oder Kriminalarrest, in den Zuchthäusern und Strafsektionen, im Arbeitshause und in den Landarmenhäusern, und endlich bei fremden Gerichten in Haft sind, so dass effektiv nur immer ca. 6.000 Verbrecher auf freiem Fuße sind, die der polizeilichen Surveillance unterliegen, natürlich diejenigen ungerechnet, welche noch nicht bestraft und doch Verbrecher sind, und deren Zahl ist groß! Jene 6.000 lassen sich aber auch in Rücksicht der Gefährlichkeit füglich dezimieren, so dass man regelmäßig nur annehmen kann, dass in jedem Augenblick 600 Verbrecher hier sind, welche prinzipiell und professionsmäßig der Eigentumssicherheit feindlich gegenüberstehen. Eine anderweitig von mir gegebene numerische Darstellung hat diese Angaben erwiesen, es bleibt aber immer das Fazit übrig, dass — verhältnismäßig — in den letzten 10 Jahren die Eigentumsverbrechen sich um das Doppelte, also um 200 Prozent vermehrt haben.


Die Einwohnerzahl betrug, mit der Garnison, zu Ende 1843 355.149 Köpfe. Darunter waren in der Ehe lebende Männer:
vom Zivil = 43.455
vom Militär = 1.524
Summa der verehelichten Männer: 44.979

Weiber:
vom Civil = 43,639
vom Militär = 1.476
Summa der verehelichten Weiber: 45.115.

Wie die Sitten im Ab- und die Prostitution im Zunehmen gewesen ist, beweisen Dietericis statistische Tabellen, wonach

im Jahr 1816 jede 88ste und
im Jahr 1843 erst jede 110te Person verheiratet,

im gedachten Jahre auch jedes sechste Kind — in Paris das dritte — ein uneheliches war.

In „der Prostitution und ihren Opfern“ S. 77, 78 wird angegeben, dass in Berlin regelmäßig zur Zeit 12.000 Personen latitieren, d. h. ihren Aufenthalt vor der Polizei verheimlichen, weil sie Verbrecher, Verarmte oder Liederliche seien. Dies ist eine ungeheure Übertreibung. Nach allen Erfahrungen und Ermittelungen sind es höchstens 2.000 Personen im Sommer, und 1.000 im Winter, — ich halte aber auch diese Annahme schon für zu hoch, — welche keine feste, bei der Polizei angemeldete Wohnung besitzen, und allerdings ihren Broterwerb der Behörde zu verbergen gute Gründe haben. Der Irrtum im gedachten Buche rührt wahrscheinlich daher: Zu Ende 1843 erfolgte eine Zählung der Einwohner im Weichbilde Berlins, dergestalt, dass die Polizei- und städtischen Beamten von Haus zu Haus gingen und nach einem besondern Schema die in jedem befindliche Seelenzahl aufnahmen. Die Resultate dieser Zählung, mit den Registern des polizeilichen Meldebureaus verglichen, ergaben, dass in Berlin 12 — 15.000 — oder, ich glaube, es waren noch mehr — Menschen lebten, als von denen das Meldebureau Kenntnis hatte. Dieses Manko lag aber in der Unvollkommenheit und Unrichtigkeit der Meldungen und deren Eintragung, so wie der Kontrolle des Meldebureaus mit den polizeilichen Revierbüchern, während umgekehrt keines dieser der Polizei unbekannten hier lebenden Individuen latitierte, sonst wären sie in ihren Wohnungen nicht aufgeschrieben worden. Die latitierenden Subjekte sind aber gerade dem Meldebureau am besten bekannt, weil dieses von deren Wiederanmelden besondere Anzeige zu machen verpflichtet ist.

Die Volkszählungen sind immer eine missliche Sache, sofern sie mit den bisherigen Kontrollen in Einklang gebracht werden sollen, wie wir aus 2 Samuel. 24, 10—15. von dem Zensus des Königs David wissen, welcher hierbei 70.000 Mann einbüßte.

Endlich die Anzahl der Prostituierten in Berlin — nach Aufhebung und Evaluation der Bordelle — gibt die mehrgedachte Schrift auf 10.000 bis 12.000 an, S. 62, 77, mit dem Bemerken, dass für eine bestimmte Summe eine Gewähr nicht zu leisten sei. Allerdings lässt sich ein direktes numerisches Verhältnis nicht finden, doch haben mich frühere vielfältige Kalkulationen auf eine annähernde Summe geführt, wie sie jenes Buch zu erzielen sucht. Nur das ist nicht ganz klar zu entnehmen, welche Prostituierte alle unter jener Schätzung begriffen sind. Es ist zwischen den Prostituierten ein großer Unterschied, obschon ich die Klassifikation jenes Verfassers, S. 115 u. f. w., nicht für richtig anerkennen kann. Die tolerierten Lohndirnen scheiden jetzt aus. Nun sollen noch folgende:
Tanz-,
Absteige-,
Schenk- und Bier-, auch Harfen-,
Bade-,
Straßen-,
auf eigene Hand sitzende (?),
Gelegenheitsdirnen, nämlich die sog. galanten Frauen, die weiblichen Schneidergesellen, Blumen- und Putzmacherinnen etc., so wie die prostituierten Dienstmädchen,
und
Mätressen (die sog. filles entretenue's),
also acht von einander geschiedene Klassen von Winkeldirnen, welche dieser Einteilung gemäß in besondern Kapiteln von Kopf bis Fuß beschrieben werden, in Berlin vorbanden sein. Ich wünschte zu wissen, welches Polizei-Lexikon, welcher amtliche Huren-Katalog existiert, worin diese Unterschiede durch Erfahrung oder Polizeigesetze festgestellt werden?!

Das Gegenteil dieser Nomenklatur werde ich dahin nachweisen:

Die in der zweiten Abteilung folgenden Biographien ergeben, dass das Leben der Prostituierten nicht nach Canon und Regel betrachtet werden kann. Es ist vielgestaltig, wie Proteus, und zieht sich polypenartig durch alle Windungen des Lasters hin. Die z. B., welche heut Straßendirne war, ist morgen Mätresse, am folgenden Tage von ihrem Liebhaber im Stich gelassen, zieht sie in eine Konditorei, worin sie nicht aushält, sie geht nach Hamburg in ein Bordell, und kommt in wenigen Wochen zurück, um, wie die Mehrzahl der elegantern Straßendirnen, bis 10 Uhr Abends diesem Metier wieder nachzugehen, des Nachts sich in Tanzkneipen umherzutreiben, und mit den dort gemachten Bekanntschaften, oder den auf der Straße angelockten Männern bei einer Kupplerin abzusteigen.

Die Straßendirne ist regelmäßig Tanz-, Absteige- und — nach Gefallen — Badedirne. Wenn sie einen Scheindienst in einer unsittlichen Wein- oder Bierstube erlangt, hört sie darum nicht auf, abzusteigen oder die Tanzböden und Badeanstalten zu besuchen. Der höchste Grad, wohin es die Prostituierte als solche bringt, ist das Mätressentum, welches aber selten lange dauert, und worauf die gewesenen Mätressen gewöhnlich immer noch unter die Gassendirnen herabsinken. Die auf eigene Hand Sitzenden — der Ausdruck ist zu allgemein und zu dunkel — kann aber der Verfasser der Prostitution alle Abende im Königsviertel auf der Gasse erblicken, — sie müssten denn den Anzug versetzt oder den Kredit bei der Leihfrau verscherzt haben. Nur einige ganz alte — früherhin in den sog. Invalidenhäusern der Königsmauer und Petristraße inskribiert gewesene — Dirnen, die kein Mensch von noch einem Funken Geschmack und Gefühl mehr ästimiert, gehen nicht aus, oder treiben sich nur in dunkeln, schmutzigen Gassen und Winkeln, auf Kirchhöfen u. s. w. umher, wo sie zuweilen noch das Glück haben, von einem Trunkenbolde einer Umarmung gewürdigt zu werden.

Wenn eine Unterscheidung unter den Prostituierten gemacht werden soll, so muss man vor Allen unterscheiden jene feineren Dirnen, welche sich nicht Jedem preisgeben, sondern nach ihrer Wahl verfahren, und die Classe, welche für Geld von Jedem, ohne Unterschied der Person, zu haben ist; daher würde ich, wenn einmal eine Klassifizierung belieben sollte, für die ich jedoch nicht sentiere, so diszernieren:

1) Feinere Prostituierte. Dies sind die femmes galantes, die Blumenmacherinnen, Schneiderinnen, Ladenjungfern, prostituierte Dienstmädchen, — wiewohl es unter diesen Klassen auch ganz verworfene Geschöpfe gibt, — Choristinnen, Ballettspringerinnen, Reiterinnen, und verdorbene Töchter besserer Stände, vel quasi.

2) Mätressen. Allein keine Mätresse ist ihrem Liebhaber treu, sie hält sich fortwährend Reservemannschaften, treibt auch hinter seinem Rücken die Prostitution, um Geld zu Ausgaben, die sie ihm nicht sagen darf, zu erschwingen, mit einem Wort, keine Prostituierte begnügt sich, so lange sie noch als solche dasteht, mit einem Manne. Wie selten dies aber auch im Falle der glücklichsten Heirat ist, werden die praktischen Beispiele lehren.

3) Gewöhnliche Prostituierte, wozu alle andere gehören, in welcher Form sie auch augenblicklich auftreten mögen.

4) Diebesdirnen. Diese verkehren vorzugsweise mit Verbrechern und in deren Niederlagen, helfen das unredlich erworbene Gut, dessen Ursprung ihnen nicht fremd ist, verprassen, leisten selbst Beistand bei Diebstählen oder begehen selbstständig Verbrechen, und fallen früher oder später der strafenden Gerechtigkeit in die Hände. Diese letztere Klasse, zu welcher regelmäßig alle gestrafte Frauenzimmer zu rechnen sind, ist die gefährlichste für das Publikum, wie die Mätresse die gefährlichste ist für ihren Zuhälter.

Was nun aktuell die Zahl aller dieser Dirnen in Berlin anlangt, so bin ich durch frühere vielfältige Zusammenstellungen und Berechnungen ungefähr zu dem Resultate gelangt, wie der Verfasser der „Prostitution und ihrer Opfer.“ Nur insofern weiche ich von ihm ab, dass ich alle von mir angegebenen 4 Klassen zusammen höher,
auf 15.000 Köpfe,
veranschlage, dass aber, wenn die ersten beiden Klassen wegfallen, ich die beiden letzten Klassen auf nur
10.000 Köpfe

berechne. Es ist nicht zu glauben, wie viele Prostituierte aus Klasse 1. existieren, da fast alle junge Leute, welche die Prostitution lieben, ihre Liäsons in dieser Kategorie schließen. Dagegen ist Klasse 2., die der Mätressen, am schwächsten besetzt, und rekrutiert gewöhnlich aus Klasse 1. und 3.

Die Anzahl in den einzelnen Klassen stellt sich meo voto also:

1) feinere Prostituierte 4.500
2) Mätressen 500
3) Gewöhnliche Damen 8.000
4) Diebesdirnen 2.000
Summa 15.000 Köpfe.

Die Bevölkerung von Berlin beträgt zur Zeit
ca. 360.000 Seelen,
worunter

187.000 Männer und
173.000 Weiber.

Nehmen wir nun an, dass überhaupt 15.000 Frauenzimmer hierin enthalten sind, welche lucri faciendi causa corpora offerunt, wie die Römer sagen, so stellt sich das Verhältnis so heraus, dass auf 8—9 weibliche Personen eine Prostituierte, ferner auf 6—7 Männer eine dergleichen Dirne zu rechnen ist.*)

*) Hierbei muss auf die jährlich hier anlangenden 40.000 Fremden auch Rücksicht genommen werden.

„Das ist ärger, als in Sodom und Gomorrha,“ werden meine Leser sagen, „ärger als in Babylon, in Paris, dem neuen Babylon, oder in London. Die Farben sind zu schwarz, wir merken Absicht und glauben nicht. Berlin ist nicht so schlecht, wie es gemacht wird, der alte, gute, brandenburgische Geist ist — wenigstens in seinem Bürgerstande — noch nicht erloschen, das beweist der wachsende kirchliche Sinn, das beweisen die neugebauten Tempel, das beweisen alle jene gottseligen Vereine und frommen Stiftungen, das beweist die zunehmende Bildung, und selbst der Verarmung der untern Klassen, — jener Mutter der abscheulichen Prostitution — wird, wie wir täglich sehen und lesen, durch zweckmäßige Anstalten entgegengearbeitet und mit Erfolg entgegengewirkt. Also — si lacuisses.”

Darauf antworte ich ganz einfach:
Der Schein trügt.

Ihr seht die Schlange nicht oder wollt sie nicht sehen, die unter den Blumen schläft. Jene zur Schau getragene fromme Seite ist Nichts, als ein Werk der Zeit, als ein Mittel, dadurch sich zu Kredit und Ansehen zu bringen. Es sind, um mit der Bibel zu reden, „übertünchte Gräber“, monumenta dealbata, welche Ihr vor Euch seht, äußerlich schön und lieblich anzuschauen, inwendig aber faule Gruft und Moder. Überhaupt, das Wesen unserer Zeit ist der Schein und Alles bestrebt sich, selbst mit Aufgeben seines eigentlichen Ich, nur diesen zu retten.

Die Prostitution ist in alle Bande der Gesellschaft, in alle Geheimnisse des Familienlebens eingedrungen. Nicht die verworfenen Dirnen der Straße, der Kneipe, des Diebesverkehrs sind dafür traurige Zeugen, diese kennt die Polizei und vermöchte, unter gewissen Bedingungen, wie wir später sehen werden, dagegen zu schützen. Nein, es ist die feinere Preisgebung, die raffiniertere Sinnlichkeit, in welcher ich das Hauptübel der Zeit erkenne. Ehelosigkeit führt, wie ich bereits gesagt habe, zur Prostitution. Wie viele Menschen sind aber nicht durch die Umstände zum Zölibat verdammt! Der Beamte, der regelmäßig vor dem 30sten Jahre nicht soviel Gehalt bekommt, um für seine Person davon leben zu können, der Offizier, welchem das Vermögen abgeht, um eine Familie standesgemäß ernähren zu können, der Künstler, der angehende Gewerbsmann, welchen das Fabrikwesen und die Konkurrenz zu Boden drückt, sie sind alle gleichmäßig zu einem langen Hagestolzenleben verurteilt, wenn nicht der Goldsack ihre väterliche Mitgift ist. Hierzu tritt nun noch bei nicht zu einander passenden Gemütern die in Folge der neuen Gesetze so sehr erschwerte Ehescheidung, und es ist klar, dass mit jedem Jahre die Anzahl der Ehen eben so abnimmt, als die Menschenmenge sich vermehrt. In England, wo bekanntlich in Folge der dort in der Hochkirche vorherrschenden puritanischen Ansichten die Ehescheidung so beschwerlich gemacht ist, dass die Interessenten lieber eine Parlamentsakte nachsuchen, als den Gerichtsgang schneckenartig durchwandern, ist der allgemeine Ruf nach Erleichterung der Ehetrennungen, als einem notwendigen Bedürfnis, schon längst ergangen, und wird in jenem Lande der Freiheit nicht umsonst verhallen: während wir, abgehend von den weisen Grundsätzen der wahrhaft philosophischen Redaktoren des Landrechts, die Ehetrennung möglichst beschränken!

Hierdurch wird nicht die Sittlichkeit der Ehen, nein, das Konkubinat und die Prostitution, und in ihrem Gefolge die uneheliche Zeugung befördert. Es ist erschrecklich, wie die Anzahl der Konkubinate in Berlin zunimmt. Mit jedem Jahre, in Ständen, wo es sonst nicht der Fall war, wachsen jene wilden Ehen an, hauptsächlich auch darum:

1) weil die Kontrahenten die Kosten der kirchlichen Trauung mit allen ihren Gebühren für Prediger, Küster, Kirchendiener, Kalkanten, Pulsanten, Decken, Blumen, Lichter, und Gott weiß was Alles, in diesen nahrungslosen Zeiten nicht erschwingen können;

2) weil es ihnen oft an schicklicher Kleidung fehlt, um vor den Altar treten zu können;

3) weil Jahresrenten, Witwenpensionen, Alimentegelder u. s. w. für die Witwen mit der Wiederverheiratung — aber nicht mit dem Konkubinat und der Prostitution! — wegfallen.

Was wird aus Kindern, im Konkubinat, außer der Ehe, in der Prostitution gezeugt, ich brauche nicht zu beschreiben, wie sie physisch und sittlich verwahrlost in die Welt hineingeschleudert und dem Verbrechen und der Prostitution zum Raube werden.

Die Verarmung ist also die Quelle der Prostitution. Aus der Verarmung folgt Sittenlosigkeit, schlechte Jugenderziehung, schlechtes Beispiel, zu denen die Verführung wie eine Schlange heranschleicht, und bei dem allerwegen angereizten Hang zu sinnlichen Ausschweifungen und luxuriösen Genüssen eine willkommene Aufnahme findet.

Der Entstehungsgrund der Prostitution ist daher gewöhnlich der:

l) Kinder niederer Stände werden von den Eltern früh zum Brotverdienst angehalten. Sie hausieren, arbeiten in Fabriken oder auf Woll- und Tabaksböden, und kommen hierdurch mit altern verderbten Genossen in Berührung. Kaum oder noch nicht einmal zur Pubertät gelangt, werden sie durch sinnliche Triebe oder durch Geld verführt, defloriert und verfallen der Prostitution.

Der Damm hiergegen: Familienerziehung, gutes Beispiel der Eltern, Schulzucht, Einprägung guter Grundsätze für das ganze Leben, ist bei der Armut der Eltern nicht vorhanden.

Ich bestreite nicht, dass in unserer Zeit zu viel geschulmeistert wird, anstatt den Sinn auf das Praktische zu richten. Die höhern Stände, die Beamten u. s. w. werden zeitlebens geschulmeistert, und mancher Mensch bedarf die zweite Hälfte seines Lebens dazu, um den unnützen Kram zu vergessen, welchen man ihm in der ersten Hälfte eingetrichtert hat.

Allein der Primär-Unterricht der armen Jugend ist immer noch zu schlecht, nicht nachhaltig für das Leben, und wird, obschon alle Jahre große Summen auf dem Armenschuletat stehen, doch nur als ein Werk behandelt, was man um Gotteswillen tun muss. Das macht aber, die Jugend wird zu früh und zu viel mit Glaubensansichten und Glaubens-Kontroversen gequält, und darüber die praktische Moral vergessen. Wie steht es jedoch in den bessern Ständen? Da ist die Erziehung noch schlimmer. Wie kann durch Polkabälle, Tanzstunden, unsittlichen Schmuck, frühgeweckte Koketterie, Anlernung zur Scheintugend und zum Scheinanstand, Vergnügungsjagd u. s. w. ein Geschlecht herangebildet werden, welches dem sittlichen Ideal entspricht, welches Tacitus von den Frauen und Mädchen der alten heidnischen Germanen entwirft? O ihr scheinheiligen Kirchgängerinnen, denkt ihr, wir wissen es nicht, dass ihr nur in diese oder jene Kirche geht, um von Diesem oder Jenem gesehen zu werden in dem neuen Putz, um durch das scheinbar fromme Niederschlagen der Augen zu kokettieren, oder um unangefochten den Seladon zu treffen, mit dem ihr sonst nicht unbewacht zusammenkommen dürft? —

2) Die Eltern verkuppeln die Tochter, um von ihrem Körper Gewinn zu ziehen.

Dieser Fall ist zu häufig, zu gewöhnlich, als dass es vieler Worte bedarf. Vor einiger Zeit bestand in der G......straße eine förmliche Anstalt, wo reiche Männer unreife Mädchen zur Befriedigung ihrer Lüste von der Mutter zugeführt erhielten. Solcher gibt es mehrere. Aber nicht bloß, dass die Mutter die Tochter verkuppelt, Beide treiben in einem und demselben Zimmer die Prostitution gemeinschaftlich, höchstens, dass die Eine sich Hinter dem Bettschirm versteckt oder zum Fenster hinaussieht. Eben so wie die Mutter Liebhaber für die Tochter anlockt oder diese auf die Straße, auf den Tanzboden führt, so lassen umgekehrt feile Dirnen die eigenen Kinder vor der Tür Wache halten und die Männer anrufen, damit nicht die Mutter etwa mit den Nachbarn oder der Polizei in Konflikte gerät. Für die Handlung der in ihre Mysterien eingeweihten Tochter hält sie sich nicht für verantwortlich. So existiert z. B. eine oft bestrafte, alte Winkeldirne, die unverehelichte H...k hier, deren buckliges, verwachsenes Mädchen sehr in diesem Schandgeschäft routiniert ist.

3) Der in den höhern oder reichern Ständen herrschende Luxus wirkt auf die ärmere, besonders weibliche Volksklasse nachteilig und reizt zur Nacheiferung. Dieser Hang zu Putz, diese Vergnügungssucht, dieses Streben nach einem trägen, wollüstigen Leben bemächtigt sich mit unwiderstehlicher Gewalt der geblendeten Sinne, und da Arbeit und Dienst nicht die Mittel hierzu hergeben, so bleibt Nichts übrig, — als sich der Prostitution in die Arme zu werfen. Namentlich ist dieses Streben nach Luxus und Wohlleben — abgerechnet die. Verführung der männlichen und weiblichen Hausbewohner — der Grund, warum so viele von Fremd her gekommene Dienstmädchen fallen, und zuletzt — zum schweren Kummer rechtlicher Eltern, die sie mit den besten Vorsätzen ausgerüstet hierher sandten — die ärgsten Dirnen werden, und dann von der Polizei aufgegriffen und bestraft zwangsweise in die Heimat geschafft werden, oder, wie in den meisten Fällen, sich zur Erwerbung des hiesigen Domizils mit einem ehrlosen Kerl verheiraten, von welcher Sorte Berlin einen großen Überfluss hat.

Hier trifft die Schuld die wohlhabenderen Stände vorzüglich. So lange diese nicht anfangen, das Beispiel eines ernstern, dem Luxus, wie der Ausschweifung gleich fremden Lebens zu geben, wie soll man da erwarten, dass die geringere Klasse, die nun einmal gewohnt ist, staunend und nacheifernd zu der höhern hinaufzublicken, ihrerseits dem Hange zu übertriebenen Sinnengenüssen entsage und eine edlere, sittlichere Lebensrichtung verfolge?

4) Tritt nun zu diesen vorhandenen Grundlagen zum Entstehen der Prostitution noch die Verführung, sowohl von Seiten der Männer, — und die Mehrzahl derselben strebt wegen des ehelosen Standes, wozu die Verhältnisse oder Hang zur Ungebundenheit verurteilen, nach einer sträflichen Befriedigung der Geschlechtstriebe, — als von Seiten der weiblichen Jugend, von welchen immer Eine die Andere zu korrumpieren bemüht ist, sowie jene abscheulichen Kupplerinnen, so glaube ich, ist das Rätsel sehr leicht zu lösen, weshalb Berlin eine so enorme Anzahl feiler Dirnen, welche ich auf 15.000 Köpfe berechnet habe, in seinen Mauern birgt.

Daher ist aber auch der sittliche Zustand von Berlin sehr getrübt. Mag der Pietismus hier und da sein Haupt erheben, — denn die Extreme berühren sich überall im Leben, — durch Kontraste wirkt das Gemälde nur um so drastischer, schlagender. Daher sehen wir aber auch überall, wohin wir treten, — die Prostitution. Es gibt keinen öffentlichen Ort oder Garten, leine öffentliche Gesellschaft oder Vergnügen, wo nicht prostituierte Frauenzimmer in Menge angetroffen würden, ja die Hauptrolle spielen.

Jene Wüstlinge, deren Vermögen gestattet, sich eigene Mätressen zu halten, führen jene öffentlich vor dem großen Publikum, in Theater und Vergnügungen, zur Schau, als ob sie recht geflissentlich bemüht wären, ihre Unsittlichkeiten möglichst publik zu machen. Infamie, bürgerliche Infamie müsste Den treffen, der sich nicht scheut, die eigene Schande dem großen Publikum so ostensible darzustellen! Häufig sind freilich jene Männer Fremde, die jene Dirnen und ihren Charakter nicht richtig kennen und daher von ihnen angeführt werden! —

Man betrachte Abends unsere Straßen, namentlich wo eine große Passage statt findet, also die Königs- mit den sie durchkreuzenden Nebenstraßen, die Friedrichs-, Leipziger Straße, die Linden u. s. w., — es ist nicht möglich, nur einige Schritte zu machen, ohne von den Dirnen durch unverschämte Blicke oder Reden angelockt zu werden! Ja, in der Königs-, Spandauer Straße u. s. w. ist das Gedränge derselben oft so groß, dass sie im Wortsinne die Passage hemmen und den Bürgersteig vertreten. Das ist Alles um so ärger geworden, seitdem die Bordelle aufgehört haben, aus dem sehr natürlichen Grunde, weil der Verdienst der Bordelle auf die Straßendirnen übergegangen ist.

Damals — als die tolerierte Prostitution bestand — konnte die Behörde noch einigen Schein der öffentlichen Sittlichkeit aufrecht erhalten, indem die sinnlichen Triebe auf die Bordelle in der abgelegenen Königsmauer angewiesen wurden. Jetzt kann die Behörde es nicht mehr. Der Geschlechtstrieb — bei einer so großen Anhäufung unverheirateter Männer im kräftigsten Lebensalter — fordert gebieterisch seine Rechte und sprengt alle unnatürlichen Banden. Ihm kommt die Prostitution willfährig entgegen, und die ärgsten Strafgesetze werden hiergegen Nichts vermögen, — so wenig, wie gegen Essen und Trinken, — nach dem Grundsatze:

Naturam expellas furca: tamen usque recurrit.

So wie man daher sagt: es gibt kein Haus ohne Rauch, so wird man auch sicher nur wenige Häuser in Berlin finden, wo sich nicht Prostitution unter irgend einem Gewande — namentlich Klasse 1. meiner Einteilung — eingeschlichen hätte. Sie ist das ärgste Gift des bürgerlichen Lebens und die Quelle unendlichen Unheils, welches nicht immer von ihr hergeleitet wird. Im Gefolge der Prostitution und als stete Begleiterin derselben erscheint die Syphilis. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, dass die früher wöchentlich zwei Mal vorgenommenen ärztlichen Visitationen der öffentlichen Dirnen von den heilsamsten Wirkungen auf die Abnahme dieser Krankheit gewesen sind. Ja, die Berichte der Ärzte ergeben, wie innerhalb der letzten zwanzig Jahre die syphilitischen Krankheiten intensiv und extensiv fast fortwährend abgenommen haben, während die Bevölkerung umgekehrt im Steigen war und noch ist, also die Ursachen sich vermehrten, von denen die Ausbreitung der Prostitution und der Syphilis abhängig ist. Freilich, wenn man glaubte, durch Aufhebung der tolerierten Prostitution auch die Prostitution selbst aufzuheben, so war man in einem Irrtum. Die Toleranz hat aufgehört, aber die Prostitution ist, — und wie wir sehen, viel ärger geblieben, als sie es war. Daher die Syphilis auch jetzt viel reißendere Fortschritte macht, seitdem die öffentlichen Häuser eingegangen sind und mit ihnen jene ärztlichen regelmäßigen Visitationen selbstredend aufgehört haben, — da es ja keine prostituierten Frauenzimmer mehr geben soll.

Man höre aber, was jetzt die Ärzte im Betreff der Syphilis im Gegensatz zu der Beschaffenheit dieser Krankheit vor dem 1. Jan. 1846 sagen. Die syphilitischen Stationen in jedem Krankenhause, in jedem Militärlazarett sind überfüllt, und eine unverhältnismäßige Anzahl Kranker wird in ihren Privatwohnungen behandelt. Das ist aber natürlich, sobald die feilen Weiber ohne gesundheitspolizeiliche Kontrolle ihr Gewerbe fortsetzen, verhüllen sie — wie die Erfahrung lehrt — die Ansteckung so lange als möglich, und nehmen ihre Zuflucht zu Winkelquacksalbern, weil sie, wenn sie sich zur Heilung in den Pavillons der Charite melden, nach Beendigung der Kur von dort zum Polizeiarrest geschickt werden, oder weil, wie jedoch in selteneren Fällen, wenigstens der Polizei eine Erkrankungsanzeige gemacht wird. Um nun dieser nicht in die Hände zu fallen, setzen sie ihr Gewerbe, der Infektion ungeachtet, fort, bis zuletzt die schlimme Beschaffenheit des Übels sie endlich doch dazu zwingt, sich in die Charite aufnehmen zu lassen. Dass hiernach die Aufhebung der öffentlichen Häuser und der damit verbundenen Kontrollen der Ausbreitung der Syphilis Tor und Türen geöffnet hat, bedarf wohl keines Beweises.

Ich bin weit entfernt, ein vollkommenes Bild und eine umfassende Schilderung aller der Formen und Masken zu geben, unter welchen die Prostitution auftritt. Dies ist bekannt und es hat sich den verschiedenartigen Stufenfolgen in der neueren Zeit besonders ein Genus beigesellt, — die baierschen Bier- und Weindirnen, jene Kellnerinnen der Polkakneipen, welche teils in Sporen und in Jockeijacken, oder in andern phantastischen Aufzügen dort dem Laster der feilen Unzucht frönen und dadurch Gäste für die Unternehmer jener saubern Etablissements anlocken. Wie lange die Polizei diesem Treiben, welches durch den damit verbundenen Verkauf der Spirituosen doppelt verderblich wirkt, wohl nachsehen wird, ist nicht zu bestimmen, jedoch ist sie bis jetzt sehr duldsam gewesen.

Ich kann dieses Kapitel nicht schließen, ohne vorher noch auf eine traurige Physische und moralische Verirrung unserer Zeit aufmerksam zu machen, — ich meine die fleischlichen Verbrechen (die delicta carnis), welche, wie die Erfahrung der Kriminalisten und Polizeibeamten ergeben hat, sehr im Steigen begriffen sind und in den verschiedenen Formen des Inzests, Ehebruchs, der Notzucht und der unnatürlichen Sünden sich gar zu häufig darstellen. Auch sie liegen in dem allgemeinen Leiden der Zeit, dem Proletariat, der Demoralisation, der Ehescheu, gleichmäßig wie die Prostitution begründet, und ihre Abnahme ist auch nur von jener radikalen Reform unserer sozialen Zustände, welche ich oben angedeutet habe, zu erwarten.

Den Beweis für alle meine Behauptungen über die Ausschweifungen der Prostitution glaube ich in der zweiten Abteilung, in der Schilderung des Lebensganges jener einzelnen Verdorbenen am besten zu führen.