Fünfzehntes Kapitel - Sir Ratcliffe stand auf der Schwelle...

Sir Ratcliffe stand auf der Schwelle.

»Ihr ließet mich rufen, Sir Vere,« Hub er an. Dann eist sah er sich um, und bewegt setzte er hinzu:


»Miß Vere allein! und auf den Knien? in Tränen?«

»Verlaßt mich, Sir Ratcliffe!« sprach die unglückliche Dame. »Wohl ließ mein Vater Euch rufen. Aber Eure Gegenwart ist nicht mehr vonnöten,«

»Ich kann Euch jetzt nicht verlassen, Miß Vere,« versetzte Ratcliffe; »wiederholt suchte ich Zutritt bei Euch, um mich zu verabschieden, wurde aber hinweggewiesen, bis Euer Vater mich selbst rufen ließ. Zeiht mich nicht der Zudringlichkeit! wenn ich bitte, meine Gegenwart zu dulden, so geschieht es, weil es mir obliegt, eine Pflicht zu vollbringen.«

»Euch jetzt anzuhören, Sir Ratcliffe, bin ich ebenso außer stande, wie zu sprechen. Ich bitte, laßt mich allein!«

»Nur eins sagt mir, Miß Vere!« bat Sir Ratcliffe; »findet, die Euch verhaßte Heirat wirklich statt? und heute abend? Das Bedientenvolk sprach auf der Treppe davon, es hieß, die Kapelle sei zu heut abend herzurichten.«

»Schonet meiner!« sprach die unglückliche Braut, »und urteilt über die Grausamkeit Eurer Fragen nach dem Zustand, in welchem Ihr mich findet!«

»Ihr sollt Euch also noch heute abend mit Sir Langley vermählen? Das kann nicht sein, das darf nicht sein, soll nicht sein!«

»Es muß sein, Sir Ratcliffe! Denn sonst ist mein Vater zugrunde gerichtet!«

»Ha, ich verstehe!« erwiderte Ratcliffe; »um ihn zu retten, opfert Ihr Euch? Des Kindes Tugend soll des Vaters Fehltritte – sie herzuzählen gebricht es an Zeit – sühnen? Was kann geschehen? Die Zeit drängt. Ich sehe bloß ein Mittel, Miß Vere: Ihr müßt den Schutz des einzigen menschlichen Wesens anrufen, welches die Gewalt hat den Lauf der Ereignisse, die Euch fortzureißen drohen, zu hemmen!«

»Und welches Wesen besäße solche Gewalt?« fragte Miß Vere.

»Erschreckt nicht, wenn ich den Namen nenne, Miß Vere!« versetzte Ratcliffe, näher tretend, und fuhr in leiser, doch deutlicher Stimme fort, »der Mann ist es, den man Elshender, den Klausnerzwerg vom Mucklestane-Moor, nennt!«

»Ihr seid von Sinnen, Sir Ratcliffe; oder wollt Ihr meines Jammers durch unzeitigen Scherz spotten?«

»Miß Vere,« antwortete er mit strengem Anflug im Tone, »ich bin nicht minder von Sinnen als Ihr! Scherz zu treiben ist nicht Gewohnheit bei mir, am wenigsten dem Unglück gegenüber, am allerwenigsten aber, um Eurer zu spotten! ich versichre Euch, er, der ein ganz andrer Mensch zu sein scheint, als er ist, besitzt in der Tat ein Mittel, Euch von dieser verhaßten Verbindung zu erlösen.«

»Auch meines Vaters Sicherheit zu verbürgen?«

»Auch dieses,« antwortete Ratcliffe, »sofern Ihr seine Sache bei ihm vertretet! Wie aber könnt Ihr Zutritt zu dem Klausner bekommen?«

»Darum keine Besorgnis!« sagte Isabel, der jetzt der seltsame Vorfall mit der Rose einfiel; »der Klausner hat mir einst selbst den Wunsch ausgesprochen, ich solle, falls ich einmal in äußerste Not geriete, seine Hilfe suchen; zum Zeichen gab er mir diese Rose hier mit den Worten: solcher Hilfe würde ich bedürftig sein, bevor die Blume verwelkt sei. Aber sollten seine Worte wirklich aus anderer Quelle entsprungen sein als Wahnsinn?«

»Zweifelt nicht, Miß Vere, und fürchtet nicht!« sagte Sir Ratcliffe; »vor allem aber verlieret keine Zeit! Seid Ihr Herrin Eures Tuns und unbewacht?«

»Ich glaube,« antwortete Isabel – »was aber soll ich tun?«

»Verlaßt auf der Stelle das Schloß,« sagte Ratcliffe, »und eilt zu dem Manne, der auf Euer Schicksal, wenn er auch in äußerster Armut zu leben scheint, einen fast grenzenlosen Einfluß zu üben vermag. Noch sitzt alles beim Gelage oder ist in geheimer Beratung der verräterischen Plane begriffen, die gegen Recht und Staat hier geschmiedet werden – mein Pferd steht im Stalle bereit – eins für Euch will ich satteln und Euch am kleinen Gartentor erwarten. Laßt Euch durch keinerlei Zweifel an meiner Treue und ehrlichem Eifer bestimmen, den einzigen, in Eurem Bereich möglichen Schritt zu unterlassen, der Euch vor dem schlimmen Schicksale, Sir Frederick Langleys Gemahlin zu werden, bewahren kann.«

»Sir Ratcliffe,« erwiderte Miß Vere, »Ihr seid immer als Mann von Rechtlichkeit und Ehre gehalten worden, und der Ertrinkende klammert sich ja an einen Halm: ich will Euch also vertrauen und Eurem Rate folgen. Erwartet mich, bitte, am Gartentor!«

Sie riegelte, sobald Sir Ratcliffe das Zimmer verlassen hatte, die Tür ab, warf sich rasch Hut und Mantel über, bekämpfte Gedanken, die ihr kamen, die schnell gegebene Einwilligung zurückzunehmen, und eilte in den Garten. Dort standen Pferde bereit, Sir Ratcliffe war in voller Bereitschaft zur Stelle, und nach wenigen Augenblicken waren sie unterwegs nach der Hütte des Einsiedlers. So lange ihr Ritt über günstiges Terrain ging, wehrte ihnen das schnelle Tempo alle Unterhaltung. Als aber ein steiler Abhang dasselbe zu mäßigen zwang, gab Miß Vere der Besorgnis, die sie von neuem befiel, durch die folgenden Worte Ausdruck:

»Sir Ratcliffe,« sprach sie, den Zügel ihres Pferdes anziehend, »reiten wir nicht weiter! Läßt sich doch solcher Schritt von meiner Seite nur durch hochgradige seelische Erregung rechtfertigen! Es ist mir freilich bekannt, daß dieser Klausner beim großen Volk als Wesen gilt, ausgestattet mit übernatürlicher Kraft und im Verkehr befindlich mit der andern Welt; ich möchte aber über mich die Meinung nicht aufkommen lassen, daß mich dergleichen Gerede irre führen oder irgendwie bestimmen könne, im Unglück bei solchem Wesen um Hilfe anzuklopfen.«

»Mein Charakter und meine Denkweise, Miß Vere, sollten doch wohl bekannt genug sein,« versetzte Ratcliffe, »mich gegen jede Vormeinung zu sichern, als hätte mir je daran liegen können, den Glauben an solches Gerede, wie Sie es nennen, irgendwie zu fördern.«

»Wie aber soll ich mir anders die Kraft erküren, die solch elendem Wesen innewohnen soll, mir Beistand und Hilfe zu leisten?«

»Miß Vere,« erklärte nach kurzer Pause Sir Ratcliffe, »mich bindet ein feierlicher Eid zur Geheimhaltung; Ihr müßt Euch also an meinem Wort und meiner Versicherung genügen lassen, daß dem Klausner solche Kraft innewohnt, und daß er sie ausüben wird, sofern Ihr den Willen bei ihm zu erwecken vermögt! Daß dies der Fall sein wird, darein setze ich keinen Zweifel.«

»Allein des Mannes wunderliche Lebensweise, seine Absonderung, seine Gestalt, sein tiefeingewurzelter Menschenhaß, der in jedem Wort seiner Rede zum Ausdruck kommen soll, –wie soll ich mir das alles deuten, Sir Ratcliffe? und was soll ich von ihm denken, wenn er tatsächlich die Gewalt besitzt, die Ihr ihm zumeßt?«

»Im katholischen Glauben erzogen, hat ihn Abscheu vor der Welt bewogen, aus ihr zu fliehen,« berichtete Ratcliffe. »Soweit darf ich in meiner Mitteilung gehen. Der Mann war Erbe eines bedeutenden Vermögens, dessen Mehrung die Eltern durch seine Vermählung mit einer weiblichen Verwandten, die zu diesem Zweck bei ihnen erzogen wurde, im Auge hatten. Ihr habt seine Gestalt gesehen und werdet Euch über die Empfindungen, welche das Mädchen erfüllen mußten, nicht im unklaren sein; ihre Verwandten aber meinten, die Stärke seiner Zuneigung und seine umfassende Geistesbildung würden, im Verein mit seinen vielen liebenswürdigen Eigenschaften, über seine Mißgestalt bei ihr den Sieg davontragen. Er aber war sich dieser Mißgestalt nur zu scharf bewußt. Zu mir besaß er Vertrauen und besitzt Vertrauen und zu mir sprach er hierüber: All dessen ungeachtet, was Ihr mir sagen mögt, bin und bleibe ich ein armer, elender Krüppel, ein von der Natur verfehmter Wurm, dem es besser wäre, man hätte ihn in der Wiege erstickt, statt ihn aufzuziehen zu einer Vogelscheuche für die Menschheit!«

»Ihr wiederholt, was ein Wahnsinniger gesprochen!« sagte Miß Vere.

»Nein,? antwortete Ratcliffe; »es sei denn, daß man, krankhafte Empfindlichkeit für Wahnsinn gelten läßt. Freilich will ich nicht in Abrede stellen, daß sich seine Phantasie durch Überreizung seiner Vorstellungen bis auf eine krankhafte Höhe gesteigert hat. Was ihm die Natur verfügt hat, hat er nun, wie es scheint, durch übertriebene Freigebigkeit gegen seine Mitmenschen wettmachen wollen. Die Täuschungen, die er hierbei erlitt, durch Mißbrauch und Undank, wie es mehr oder weniger wohl allen ergeht, die keinen gerechten Maßstab an Wohltaten zu legen wissen, sind die erste Nährquelle seines Menschenhasses geworden, und nach und nach ist er zum ausgeklügeltsten Selbstquäler geworden, den die Erde jemals getragen haben mag, erfüllt von Mißtrauen gegen seine ganze Umgebung, gegen alles Wasser sah und hörte. Zuletzt schien er bloß zwei Personen noch der Treue und Aufrichtigkeit für fähig zu halten: die ihm verlobte Braut und einen an äußeren Gaben überreichen Freund, der ihm ernstlich zugetan schien. Ursache dazu hätte er reichlich gehabt, denn er wurde mit Wohltaten geradezu überschüttet von dem unglücklichen Menschenhasser, den Ihr jetzt zu besuchen denkt. Es traf sich, daß ihm kurz nacheinander die Eltern starben. Die Hochzeit, für die der Tag schon bestimmt war, erlitt infolgedessen Aufschub, was die Dame nicht sehr zu beklagen schien. Indessen wurde nach Ablauf des Trauerjahrs ein neuer Tag für die Hochzeit festgesetzt. Da kam es, daß der, Krüppel mit dem Freunde, der mit in seinem Schlosse wohnte, in einen Klub traten, dessen Mitglieder sich aus den verschiedensten Parteien rekrutierten. Der Freund geriet eines Abends mit einem stärkeren Mitglieds in Streit, wurde in dem Duell geworfen und entwaffnet. Der Krüppel griff nach einem Schwert, durchbohrte den Feind des Freundes, wurde in Haft genommen und vor Gericht gestellt, über die Kerkerstrafe tröstete er sich hinweg mit der Hoffnung, reichlich Dank zu ernten von Braut und Freund, wenn ihm die Freiheit wieder winken würde. Er wurde schwer getäuscht; denn bevor die Haft zu Ende ging, war aus Braut und Freund ein Paar geworden.«

»Der Arme!« rief Miß Vere.

»Die Wirkung dieses furchtbaren Schlages auf sein heißes Temperament kann ich Euch nicht beschreiben. Seine Verbitterung wuchs ins Maßlose. Es schien, als ob das letzte Tau, an welchem ein Schiff hängt, jäh risse: aller Wut des wilden Sturmes fiel er anheim. Man brachte ihn unter ärztliche Aufsicht. Sein Freunde durch das ihm in den Schoß gefallene Glück verhärtet, durch die geschlossene Ehe in nahen Verwandtschaftsgrad zu ihm getreten, tat nicht bloß nichts, ihn aus dem Irrengefängnis zu befreien, sondern schürte, um den Genuß aus den ungeheuren Einkünften länger allein für sich zu haben, die Meinung, daß der Krüppel tatsächlich verrückt sei. Nur ein Mensch war noch da, der dem Krüppel alles verdankte und ihm in Dankbarkeit und Liebe zugetan war. Ihm gelang es, durch unaufhörliche Agitation dem Krüppel die Freiheit und den Wiederbesitz seiner Güter und seines Vermögens zu erringen. Das Gleichgewicht seiner Seele ließ sich indessen nicht wiederherstellen. Abwechselnd lebte er jetzt als Einsiedler oder als Pilger, von Abscheu erfüllt gegen alles, was Mensch heißt.«

»Alles, was Sie mir von dem Manne erzählen, Sir Ratcliffe,« bemerkte Miß Vere, »rechtfertigt noch immer nicht in meinen Augen die Kühnheit, ihm zu solch später Stunde in seiner Steinhütte einen Besuch zu machen.«

»Ich darf Euch,« antwortete Ratcliffe, »wiederholt auf das feierlichste versichern, daß Ihr nicht die geringste Gefahr, weder an Leib noch an Seele, lauft. Was ich Euch aber bisher nicht sagen mochte, aus Furcht, Euch zu schrecken, darf ich Euch jetzt, da wir seinen Zufluchtsort sehen können, nicht länger verbergen: Ihr müßt jetzt allein vorwärts gehen!«

»Allein? Das getraue ich mir nicht!«

»Es muß sein,« fuhr Ratcliffe fort; »ich will hier bleiben und auf Euch warten.«

»Nicht weiter gehen wollt Ihr mit mir?« fragte Miß Vere; »aber die Entfernung ist doch noch so groß, daß Ihr mich nicht hören könnt, wenn ich um Hilfe rufen sollte.«

»Seid ohne Furcht,« sagte ihr Führer; »aber achtet, jeden Ausdruck von Furchtsamkeit zu vermeiden! Bedenkt, daß sein Übermaß von Scheu und Willigkeit aus dem Bewußtsein seiner Häßlichkeit entspringt. Ein Pfad führt in gerader Linie dort an der halbgestürzten Weide vorbei. Haltet Euch links von ihr! rechts liegt der Sumpf. Lebt jetzt wohl auf einige Zeit und seid des Unglücks eingedenk, das Euch droht und das, sollte ich meinen, Eure Furcht und Eure Bedenken beseitigen muß.«

»Sir Ratcliffe! Adieu!« sprach Isabel; »und solltet Ihr eine so unglückliche Dame wie mich getäuscht haben, dann wird mein

Glauben an Rechtlichkeit und Ehrenhaftigkeit auf immer dahin sein.«

»Bei meinem Leben und meiner Seele,« rief ihr mit lauter Stimme Ratcliffe nach, »Ihr seid in Sicherheit!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der schwarze Zwerg