Elftes Kapitel - Es ist notwendig, in dem Verlauf unserer Erzählung um einige Tage ...

Es ist notwendig, in dem Verlauf unserer Erzählung um einige Tage zurückzugreifen, damit die Umstände dem Leser verständlich werden, durch welche Miß Isabel Vere in die Gefangenschaft im Turm von Westburnflat geriet, aus der sie durch Earnscliff und Elliot, ohne daß dieselben irgendwelche Kenntnis von ihrer Gegenwart und den Gründen derselben hatten, so unvermutet befreit wurde.

Am Morgen vor jener Nacht, in welcher Hobbie von Westburnflats Räuberschar heimgesucht wurde, ließ Ellieslaw, der alte Laird, seine Tochter Miß Isabel Vere zu einem Spaziergang in die Umgegend entbieten. Schweigend gehorchte das Mädchen; schweigend begleitete sie den Vater auf den rauhen Pfaden, die dicht am Flußufer, oft über Klippen und Blöcke hinweg, führten. Ein einziger Diener bildete ihre Begleitung. Isabel erschien es kaum zweifelhaft, daß ihr Vater die einsame Gegend gewählt habe zu dem Zweck, sich mit ihr über Sir Frederick ins reine zu setzen, dessen Huldigungen sie nach wie vor ihre Ohren verschlossen hielt; sie hielt es im Gegenteil für so gut wie ausgemacht, daß er mit sich zu Rate ginge über die einfachsten Mittel und Wege, sie seinem Willen gefügig zu machen. Aber eine Zeitlang schien es, als seien ihre Befürchtungen unbegründet. Alle Worte ihres Vaters beschränkten sich auf die Schönheiten der Landschaft, die ihr Aussehen bei jedem Schritte änderte und sich fortwährend in anderem Lichte zeigte. Unter solchem Gespräch gleichgültiger Art gelangten sie in einen Wald hinein, dessen Baumbestand sich aus hohen Eichen, Birken, Eschen, Haselgesträuch und Stechpalmen nebst allerhand anderm Unterholz zusammensetzte. Die Zweige der Bäume schlossen sich zu einem Dache über dem engen Pfade, den sie durch dichtes Gestrüpp hindurch verfolgten. Auf einem freieren Platze blieb Ellieslaw stehen.


»Isabel,« nahm er das eine Zeitlang ausgesetzte Gespräch wieder auf, »weißt du, was mich hierher führt? Einen Altar der Freundschaft möchte ich hier errichten.«

»Der Freundschaft einen Altar?« wiederholte das Mädchen, »warum lieber an solch finsterem, entlegenem Orte als anderswo?«

»Die Örtlichkeitsfrage ist leicht klar gestellt,« versetzte mit spöttischem Lächeln der Vater. »Soviel ich weiß, Isabel, bist du in alter Geschichte wohlbewandert. Mithin weißt du, daß die Römer sich nicht daran genügen ließen, jede Tugend, die sich benennen ließ, zu verkörpern, sondern sie noch in allerhand Nuancen zu verehren; so z. B. die Freundschaft, der ich, wie gesagt, hier einen Tempel errichten möchte: nicht jener Freundschaft unter Männern, welche Zweideutigkeit, List und Verstellung verachtet, sondern jener Freundschaft unter Weibsvolk, die in kaum etwas anderm als finsterm Betrug und kleinlicher Intrige und gegenseitigem Aufwiegeln besteht.«

»Ihr seid streng, Vater,« bemerkte Miß Vere.

»Streng weniger als gerecht,« versetzte der Vater, »ein Naturmaler dritter, vierter Güte, bloß mit dem Vorteil an der Hand, daß ich ein paar geschickte Modelle zu meinen Studien habe, dich und Lucy Ilderton.«

»War ich so unglücklich, Euch zu kränken, Vater, so kann ich doch mit gutem Gewissen Miß Ilderton als frei von jeglicher Schuld erklären.«

»So? Was du sagst!« spottete Herr Vere, »und wie kam es, daß du Sir Frederick letzthin durch deine spitze Zunge solche Kränkung antatest und mir so großen Anlaß zu Verdruß gabst?«

»War ich so unglücklich, durch meine Aufführung Euer Mißfallen zu ernten, so kann ich niemals tief genug bereuen, kann ich mich niemals ernst genug entschuldigen; Euch gegenüber, Vater, wohlverstanden; nicht aber kann und will ich das Gleiche gelten lassen Sir Frederick Langley gegenüber, weil ich ihm höhnischen Bescheid erteilte, als er mich auf rohe Weise bestürmte. Wenn er vergaß, daß er sich einer Dame gegenüber befand, so war es an der Zeit ihm wenigstens zu verstehen zu geben, daß ich ein Weib bin und kein Stallknecht!«

»Behalte deine Spitzfindigkeiten für solche, Isabel, die denselben ihr Ohr leihen!« beschied sie ihr Vater mit Kälte. »Was mich anbetrifft, so bin ich solcher Sache müde und mag Worte darüber nicht länger mehr aus deinem Munde hören.«

»Das lohne Euch Gott, Vater!« sprach Isabel, indem sie seine widerstrebende Hand ergriff; »den Befehl ausgenommen, mich diesem Menschen zu fügen, wird mich kein Wort aus Eurem Munde als Härte oder als unerfüllbar bedünken!«

»Sehr gütig, meine Tochter, daß es dir endlich belieben will, gehorsam zu sein!« sprach Laird Ellieslaw stolz und entwand sich dem liebevollen Druck ihrer Hand; »indessen will ich hinfort jeglicher Mühe enthoben sein, dir in irgendwelchem Falle unliebsamen Rat zu erteilen. Ich wünsche vielmehr, daß du hinfort für dich selber sorgest!«

In diesem Augenblick brachen vier maskierte Männer durch das Unterholz. Laird Ellieslaw und sein Knappe zogen die Hirschfänger, die sie damaligem Brauche gemäß trugen, und suchten sich und Miß Isabel zu schützen. Aber während auf jeden von ihnen einer der Feinde kam, blieben zwei andern derselben die Hände frei, und im Nu war die Dame im Gestrüpp verschwunden, auf ein Pferd gehoben und über Tal und Hügel, durch Heide und Moor unterwegs nach Westburnflat zum Turme. Dort wurde sie unter Obhut der Greisin gestellt, deren Sohn über diesen einsamen Wohnsitz gebot. Weder durch Bitten noch durch Drohungen hatte die junge Dame Bescheid über den Zweck ihrer Entführung und Einsperrung erlangen können. Aber Earnscliffs Erscheinen mit seinen Mannen setzte den Räuber in Schrecken. Da er schon Sorge dafür getragen, Grace Armstrong ihren Verwandten wieder auszufolgen, war er nicht auf den Gedanken gekommen, daß Earnscliffs unwillkommener Besuch ihr gelte, umsoweniger als ihm nicht unbekannt war, daß dieser für Miß Vere schwärmte.

Als die mit dem Laird und seinem Knappen im Kampf befindlichen maskierten Männer das Stampfen der fliehenden Rosse hörten, brachen sie auf der Stelle den Kampf ab und wandten sich zur Flucht. Der Laird lag am Boden, am Fuß einer Birke. Dort fand ihn seine Knappe, nicht allein am Leben, sondern auch unverwundet. Ein heftiger Streich seines Gegners hatte ihn dorthin gestreckt. Seine Verzweiflung über das Verschwinden seines Kindes kannte keine Grenzen. Er selber jedoch war durch den Kampf so erschöpft, daß er geraume Zeit brauchte, bis er seinen Wohnsitz erreicht hatte und seine Mannen auf Verfolgung ausschicken konnte.

»Kein Wort, Sir Frederick,« sprach er zu dem Freunde, den er als Schwiegersohn in Aussicht genommen, »kein Wort – Ihr wißt nicht, was es heißt, Vater zu sein! Sie war mein Kind, mein einziges, wenn auch, wie ich mit Schmerzen besorge, undankbares Kind! Wo ist Miß Ilderton? Sie muß um den Überfall wissen! Es deckt sich mit dem, was ich von ihren Plänen weiß. Geh, Dickson, und rufe mir Ratcliffe! Er soll ohne Zögern kommen!«

Der Genannte war eben in das Zimmer getreten. Flugs schlug Herr Vere einen andern Ton an.

»Ich lasse Herrn Ratcliffe, hörst du, Dickson, ersuchen, sich auf der Stelle zu mir zu bemühen: es handle sich um eine Angelegenheit von unaufschieblicher Natur ... ach! Sir Ratcliffe! Lieber, teurer Herr!« rief er, als bemerke er ihn erst jetzt. »Euren Rat kann ich in diesem schrecklichen Augenblicke nicht missen!«

»Was hat Sie so außer Fassung gebracht, Sir Vere?« fragte mit ernster Miene Sir Ratcliffe; und während der Laird von Ellieslaw ihn unter Gebärden des Grams und Unwillens von dem Überfall im Walde unterrichtete, wollen wir den Leser in Kürze über das Verhältnis unterrichten, in welchem die beiden Männer zu einander standen.

Der Laird Vere von Ellieslaw war in seiner Jugend durch verschwenderisches Leben in üblem Rufe gewesen. Im vorgerückten Alter hatte er dasselbe mit finsterm Ehrgeiz vertauscht. Beiden Leidenschaften hatte er gefrönt ohne irgendwelche Rücksicht auf seinen Vermögensstand, während er sonst für einen höchst geizigen Herrn galt. Zufolge solcher ständigen Ausgaben für unproduktive Dinge war es kein Wunder, daß er in Vermögensverfall geriet. Die Folge hiervon war, daß er Schottland mit England vertauschte. Jahrelang blieb er von seinem Familiensitz abwesend. Wie es hieß, hatte er in England eine Geldheirat geschlossen. Völlig unerwartet kehrte er nach Schottland zurück, als Witwer, mit einer Tochter im Alter von etwa zehn Jahren.

Von dieser Zeit an war sein Leben, nach Ansicht der schlichten Gebirgsbewohner seiner Heimat, im höchsten Maße verschwenderisch. Niemand glaubte anders, als daß er tief in Schulden stecken müsse. Nichtsdestoweniger setzte er sein Leben in gleich verschwenderischer Weise fort, bis durch das Auftreten Sir Ratcliffes und seinen Aufenthalt im Schlosse Ellieslaw kurz vor dem Beginn unserer Erzählung die Gerüchte über den schlechten Vermögensstand des alten Laird greifbare Gestalt gewannen. Vom ersten Tage an nahm es den Anschein, als übe Sir Ratcliffe, freilich nicht zur besonderen Freude des alten Schloßherrn, auf die Vermögensverhältnisse wie auch auf alle Privatangelegenheiten einen stillen, aber nachhaltigen Einfluß.

Sir Ratcliffe war ein ernster, gesetzter Mann in vorgerücktem Alter. Wer sich über Geschäftssachen mit ihm unterhielt, gewann den Eindruck, als habe er es mit einem äußerst gewandten Manne zu tun. Mit andern als Geschäftsleuten pflegte er geringen Verkehr. Kam aber die Rede zufällig auf andre Dinge, so zeigte er sich nicht minder als ein Mann von Umgang und Bildung. Längere Zeit schon vor seiner Übersiedlung ins Schloß hatte er in bald längeren bald kürzeren Pausen Besuche bei dem alten Laird abgestattet und war von demselben immer, im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten des Schloßherrn Leuten geringeren Ranges gegenüber, nie anders als mit Aufmerksamkeit und Achtung begrüßt und behandelt worden. Bloß schien es, als wenn ihn der Schloßherr trotz allem lieber gehen als kommen sähe. Nichts schien denselben auch mehr zu verdrießen als Anspielungen auf sein scheinbar abhängiges Verhältnis von diesem Mitbewohner seines Schlosses, der seit seiner Übersiedlung in dasselbe in allen Angelegenheiten nicht bloß zu Rate gezogen wurde, sondern das entscheidende Wort sprechen durfte.

Dies war der Mann, der in dem Augenblicke in das Zimmer trat, als ihn der alte Laird durch Dickson, seinen Knappen, zu sich entbieten lassen wollte und dem jetzt das seltsame Abenteuer von Isabellas Entführung erzählt wurde, mit einer Hast, die ihm dasselbe bloß um so seltsamer erscheinen lassen mußte. Kein Wunder, daß er mit auffälligen Zeichen von Unglauben zuhörte.

Der alte Laird schloß seinen Bericht mit einer Aufforderung, ihm in solcher Notlage mit allem Beistand und Rat als Standesgenossen und Landsmann zu helfen.

»Satteln wir unsre Rosse! Bieten wir unsere Knappen und Reisigen auf und veranstalten wir Streifen durch das Land nach den Schurken,« rief Sir Frederick.

»Habt Ihr auf niemand Verdacht,« fragte Ratcliffe, »Beweggründe zu solch verbrecherischem Tun zu haben? In der Zeit der Romantik leben wir nicht mehr. Bloß ihrer Schönheit wegen werden junge Damen heut nicht mehr geraubt.«

»Leset hier dieses Schreiben,« sprach Sir Vere, »das mir, wie ich besorge, die Untat zu erklären scheint. Es stammt von Miß Lucy Ilderton und ist an den jungen Earnscliff gerichtet, den ich laut ererbtem Recht als Freund und Kameraden betrachten darf und betrachte. Sie schreibt ihm, wie Ihr seht, vom Standpunkt als Freundin und Vertraute meiner Tochter, erklärt ihm, daß sie seiner Sache sich sehr annehme, weist aber auf einen guten Freund in einer Garnison hin, der ihm noch wirksamer dienen könne. Hauptsächlich, lieber Ratcliffe, möchte ich hinweisen auf die mit Bleistift eingefügten Stellen, in denen durch diese Intrigantin mit richtiger Unverfrorenheit auf kühne Maßregeln hingewiesen wird, die über den Grenzen der Baronie Ellieslaw unzweifelhaft von Erfolg gekrönt sein dürften.«

»Und aus diesem Briefe stark romantischen Anstrichs, verfaßt von einer ohne Frage stark romantisch angehauchten jungen Dame, Herr Vere, wollen Sie den Schluß ziehen,« fragte Sir Ratcliffe, »daß Earnscliff Ihre Tochter entführt habe? daß Earnscliff ohne jedweden anderen Rückhalt und Rat als solchen von Miß Lucy Ilderton, sich solcher verbrecherischen Gewalttat schuldig gemacht habe?«

»Was kann ich mir sonst für Gründe denken?« versetzte Ellieslaw.

»Was könnt Ihr Euch sonst für Gründe denken?« fragte Sir Frederick Langley Sir Ratcliffe.

»Wäre dieses der einfachste Weg, jemand die Schuld zuzuschieben,« erwiderte mit Ruhe Sir Ratcliffe, »so ließen sich wohl leicht noch andere Leute finden, deren Charakter auf solche Gewalttat weit eher noch schließen ließe, und denen es an ausreichenden Beweggründen dazu wohl auch nicht fehlen dürfte. Angenommen, es würde für ratsam erachtet, Miß Vere an einen Ort zu bringen, wo man besser in der Lage sei, bis zu einem gewissen Grade die Richtung ihrer Neigungen zu beeinflussen, auf sie ungezwungener als hier im Schloß Ellieslaw einen gewissen Druck auszuüben? ... Was möchte Sir Frederick Langley zu solcher Auffassung der Situation meinen?«

»Meine Meinung zu solcher Auffassung der Lage wünschen Sie zu hören?« fragte spitz Sir Frederick, »nun, sie lautet, Sir Ratcliffe: wenn es auch Sir Vere für geraten ansehen mag, sich durch Sie mancherlei bieten zu lassen, was mit seinem Rang und seiner Stellung im Leben nicht völlig im Einklang stehen dürfte, so werde ich mir doch Gleiches weder in Winken oder Blicken, noch auch nur in Andeutungen unter keinen Umständen bieten lassen!«

»Und wenn Ihr meine Meinung hören wollt,« mischte sich der junge Mareschal auf Mareschal-Wells, auch ein Gast im Schlosse, in die Unterhaltung, »so laßt Euch sagen, daß Ihr alle miteinander von der Tarantel gestochen sein müßt, um hier zu hadern, statt hinter den Strolchen herzusetzen.«

»Ich habe bereits Befehl erteilt,« nahm Sir Vere das Wort, »daß meine Diener sich auf die Verfolgung begeben und zwar in der Richtung, in welcher die Räuber wahrscheinlich geflohen sind ... wollt Ihr uns begleiten und helfen, Mareschal?«

Alle Anwesenden schlossen sich dem Laird an, dessen Bemühungen aber ergebnislos verliefen, da sie in der Richtung nach Earnscliff-Tower zu, in dessen Eigentümer Sir Vere den Entführer vermutete, unternommen wurden, statt in der entgegengesetzten, wo derselbe zu suchen gewesen wäre.

Abends kehrte die Gesellschaft mutlos und müde zurück. Unterdes waren andere Gäste im Schloß eingetroffen, und Diskussionen über die politische Lage, in welcher stündlich umwälzende Änderungen zu erwarten waren, drängten die Angelegenheit, die nur den Vater und nicht den Patrioten anging, in den Hintergrund.

Manche der Herren, die an der nun stattfindenden Beratung teilnahmen, waren Katholiken, durch die Bank aber waren es Männer streng jakobitischer Richtung, deren Hoffnungen zur Zeit an Zuversicht gewannen, seit zugunsten des Prätendenten täglich von Frankreich aus ein feindlicher Einfall erwartet wurde, für den die Chancen insofern nicht ungünstig standen, als Schottland von Garnisonen ziemlich entblößt war, so gut wie keine festen Plätze hatte und in seiner Bevölkerung sehr viel Elemente barg, die solchem Einfall weit mehr freundlich als feindlich gesinnt waren.

Ratcliffe suchte zu diesen Verhandlungen weder Anschluß, noch erhielt er Aufforderung zur Teilnahme daran, und hatte sich auf sein Zimmer zurückgezogen.

Während Miß Lucy Ilderton tags darauf auf ihre väterliche Besitzung zurückgebracht wurde, gewann im Schlosse Ellieslaw die Verwunderung darüber, daß man sich mit der Abwesenheit der Tochter vom Hause so leicht und schnell abzufinden wußte, immer weiteren Boden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der schwarze Zwerg