Kapitel 6 - Überschreiten der Grenze

Das Wort »Krieg« war uns Grenzkavalleristen zwar geläufig. Jeder wußte haarklein, was er zu tun und zu lassen hatte. Keiner hatte aber so eine rechte Vorstellung, was sich nun zunächst abspielen würde. Jeder aktive Soldat war selig, nun endlich seine Persönlichkeit und sein Können zeigen zu dürfen.

Uns jungen Kavallerieleutnants war wohl die interessanteste Tätigkeit zugedacht: aufklären, in den Rücken des Feindes gelangen, wichtige Anlagen zerstören; alles Aufgaben, die einen ganzen Kerl verlangen.


Meinen Auftrag in der Tasche, von dessen Wichtigkeit ich mich durch langes Studium schon seit einem Jahre überzeugt hatte, ritt ich nachts um zwölf Uhr an der Spitze meiner Patrouille zum erstenmal gegen den Feind.

Die Grenze bildete ein Fluß, und ich konnte erwarten, daß ich dort zum erstenmal Feuer bekommen würde. Ich war ganz erstaunt, wie ich ohne Zwischenfall die Brücke passieren konnte. Ohne weitere Ereignisse erreichten wir den mir von Grenzritten her wohlbekannten Kirchturm des Dorfes Kielcze am nächsten Morgen.

Ohne von einem Gegner etwas gemerkt zu haben oder vielmehr besser ohne selbst bemerkt worden zu sein, war alles verlaufen. Wie sollte ich es anstellen, daß mich die Dorfbewohner nicht bemerkten? Mein erster Gedanke war, den Popen hinter Schloß und Riegel zu setzen. So holten wir den vollkommen überraschten und höchst verdutzten Mann aus seinem Hause. Ich sperrte ihn zunächst mal auf dem Kirchturm ins Glockenhaus ein, nahm die Leiter weg und ließ ihn oben sitzen. Ich versicherte ihm, daß, wenn auch nur das geringste feindselige Verhalten der Bevölkerung sich bemerkbar machen sollte, er sofort ein Kind des Todes sein würde. Ein Posten hielt Ausschau vom Turm und beobachtete die Gegend.

Ich hatte täglich durch Patrouillenreiter Meldungen zu schicken. So löste sich bald mein kleines Häuflein an Meldereitern auf, so daß ich schließlich den letzten Melderitt als Überbringer selbst übernehmen mußte.

Bis zur fünften Nacht war alles ruhig geblieben. In dieser kam plötzlich der Posten zu mir zum Kirchturm gelaufen – denn in dessen Nähe hatte ich meine Pferde hingestellt – und rief mir zu: »Kosaken sind da!« Es war pechfinster, etwas Regen, keine Sterne. Man sah die Hand nicht vor den Augen.

Wir führten die Pferde durch eine schon vorher vorsichtshalber durch die Kirchhofsmauer geschlagene Bresche auf das freie Feld. Dort war man infolge der Dunkelheit nach fünfzig Metern in vollständiger Sicherheit. Ich selbst ging mit dem Posten, den Karabiner in der Hand, nach der bezeichneten Stelle, wo die Kosaken sein sollten.

Ich schlich an der Kirchhofsmauer entlang und kam an die Straße. Da wurde mir doch etwas anders zumute, denn der ganze Dorfausgang wimmelte von Kosaken. Ich guckte über die Mauer, hinter der die Kerle ihre Pferde stehen hatten. Die meisten hatten Blendlaternen und benahmen sich sehr unvorsichtig und laut. Ich schätzte sie auf etwa zwanzig bis dreißig. Einer war abgesessen und zum Popen gegangen, den ich am Tage vorher aus der Haft entlassen hatte.

Natürlich Verrat! zuckte es mir durchs Gehirn. Also doppelt aufpassen. Auf einen Kampf konnte ich es nicht mehr ankommen lassen, denn mehr als zwei Karabiner hatte ich nicht zur Verfügung. Also spielte ich »Räuber und Gendarm«.

Nach einigen Stunden Rast ritten die Besucher wieder von dannen.

Am nächsten Morgen zog ich es vor, jetzt aber doch einen kleinen Quartierwechsel vorzunehmen. Am siebenten Tage war ich wieder in meiner Garnison und wurde von jedem Menschen angestarrt, als sei ich ein Gespenst. Das kam nicht etwa wegen meines unrasierten Gesichts, sondern vielmehr weil sich Gerüchte verbreitet hatten, Wedel und ich seien bei Kalisch gefallen. Man wußte Ort, Zeit und nähere Umstände so haargenau zu erzählen, daß sich das Gerücht schon in ganz Schlesien verbreitet hatte. Selbst meiner Mutter hatte man bereits Kondolenzbesuche gemacht.

Es fehlte nur noch, daß eine Todesanzeige in der Zeitung stand.




Eine komische Geschichte ereignete sich zur selben Zeit. Ein Pferdedoktor bekam den Auftrag, mit zehn Ulanen Pferde aus einem Gehöft zu requirieren. Es lag etwas abseits, etwa drei Kilometer. Ganz erregt kam er von seinem Auftrag zurück und berichtete selber folgendes:

»Ich reite über ein Stoppelfeld, auf dem die Puppen stehen, worauf ich plötzlich in einiger Entfernung feindliche Infanterie erkenne. Kurz entschlossen ziehe ich den Säbel, rufe meinen Ulanen zu: ›Lanze gefällt, zur Attacke, marsch, marsch, hurra!‹ Den Leuten macht es Spaß, es beginnt ein wildes Hetzen über die Stoppeln. Die feindliche Infanterie entpuppt sich aber als ein Rudel Rehe, die ich in meiner Kurzsichtigkeit verkannt habe.«

Noch lange hatte der tüchtige Herr unter seiner Attacke zu leiden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der rote Kampfflieger