Kapitel 47 - Der Auerochs

Der Fürst Pleß hatte mir gelegentlich eines Besuches im Hauptquartier erlaubt, bei ihm auf seiner Jagd ein Wisent abzuschießen. Der Wisent ist das, was im Volksmund mit Auerochse bezeichnet wird. Auerochsen sind ausgestorben. Der Wisent ist auf dem besten Wege, das gleiche zu tun. Auf der ganzen Erde gibt es nur noch zwei Stellen, und das ist in Pleß und beim Revier des ehemaligen Zaren im Bialowiczer Forst. Der Bialowiczer Forst hat natürlich durch den Krieg kolossal gelitten. So manchen braven Wisent, den sonst nur hohe Fürstlichkeiten und der Zar abgeschossen hätten, hat sich ein Musketier zu Gemüte geführt.

Mir war also durch die Güte Seiner Durchlaucht der Abschuß eines so seltenen Tieres erlaubt worden. In etwa einem Menschenalter gibt es diese Tiere nicht mehr, da sind sie ausgerottet.


Ich kam am Nachmittag des 26. Mai in Pleß an und mußte gleich vom Bahnhof losfahren, um den Stier noch am selben Abend zu erlegen. Wir fuhren die berühmte Straße durch den Riesenwildpark des Fürsten entlang, auf der wohl manche gekrönte Häupter vor mir entlang gefahren sind. Nach etwa einer Stunde stiegen wir aus und hatten nun noch eine halbe Stunde zu laufen, um auf meinen Stand zu kommen, während die Treiber bereits aufgestellt waren, um auf das gegebene Zeichen mit dem Drücken zu beginnen. Ich stand auf der Kanzel, auf der, wie mir der Oberwildmeister berichtete, bereits mehrmals Majestät gestanden hat, um so manchen Wisent von da aus zur Strecke zu bringen. Wir warten eine ganze Zeit. Da plötzlich sah ich im hohen Stangenholz ein riesiges schwarzes Ungetüm sich heranwälzen, genau auf mich zu. Ich sah es noch eher als der Förster, machte mich schußfertig und muß sagen, daß ich doch etwas Jagdfieber kriegte. Es war ein mächtiger Stier. Auf zweihundertfünfzig Schritt verhoffte er noch einen Augenblick. Es war mir zu weit, um zu schießen. Getroffen hätte man ja vielleicht das Ungetüm, weil man eben an so einem Riesending überhaupt nicht vorbeischießen kann. Aber die Nachsuche wäre doch eine unangenehme Sache gewesen. Außerdem die Blamage, vorbeizuschießen. Also warte ich lieber, daß er mir näher kommt. Er mochte wohl wieder die Treiber gespürt haben, denn mit einem Male machte er eine ganz kurze Wendung und kam in windender Fahrt, die man so einem Tiere nie zugetraut hätte, heran, genau spitz auf mich zu. Schlecht zum Schießen. Da verschwand er hinter einer Gruppe von dichten Fichten. Ich hörte ihn noch schnaufen und stampfen. Sehen konnte ich ihn nicht mehr. Ob er Wind von mir bekommen hatte oder nicht, weiß ich nicht. Jedenfalls war er weg. Noch einmal sah ich ihn auf eine große Entfernung, dann war er verschwunden.

War es der ungewohnte Anblick eines solchen Tieres oder wer weiß was – jedenfalls hatte ich in dem Augenblick, wo der Stier herankam, dasselbe Gefühl, dasselbe Jagdfieber, das mich ergreift, wenn ich im Flugzeug sitze, einen Engländer sehe und ihn noch etwa fünf Minuten lang anfliegen muß, um an ihn heranzukommen. Nur mit dem einen Unterschied, daß sich der Engländer wehrt. Hätte ich nicht auf einer so hohen Kanzel gestanden, wer weiß, ob da nicht noch andere moralische Gefühle mitgespielt hätten?

Es dauerte nicht lange, da kommt der zweite. Auch ein mächtiger Kerl. Er macht es mir sehr viel leichter. Auf etwa hundert Schritt verhofft er und zeigt mir sein ganzes Blatt. Der erste Schuß traf, er zeichnet. Ich hatte ihm einen guten Blattschuß verpaßt. Hindenburg hatte mir einen Monat vorher gesagt: »Nehmen Sie sich recht viel Patronen mit. Ich habe auf meinen ein halbes Dutzend verbraucht, denn so ein Kerl stirbt ja nicht. Das Herz sitzt ihm so tief, daß man meistenteils vorbeischießt.« Und es stimmte. Das Herz, trotzdem ich ja genau wußte, wo es saß, hatte ich nicht getroffen. Ich repetierte. Der zweite Schuß, der dritte, da bleibt er stehen, schwerkrank. Vielleicht auf fünfzig Schritt vor mir.

Fünf Minuten später war das Ungetüm verendet. Die Jagd wurde abgebrochen und »Hirsch tot« geblasen. Alle drei Kugeln saßen ihm dicht überm Herzen, sehr gut Blatt.

Wir fuhren nun an dem schönen Jagdhaus des Fürsten vorbei und noch eine Weile durch den Wildpark, in dem alljährlich zu der Brunstzeit die Gäste des Fürsten ihren Rothirsch usw. erlegen. Wir hielten noch und sahen uns das Innere des Hauses im Promnitz an. Auf einer Halbinsel gelegen, mit wunderschönem Blick, auf fünf Kilometer Entfernung kein menschliches Wesen. Man hat nicht mehr das Gefühl, in einem Wildpark zu sein, wie man sich wohl im allgemeinen vorstellt, wenn man von der Fürstlich Pleßschen Jagd spricht. Vierhunderttausend Morgen Gatter sind eben kein Wildpark mehr. Da gibt es kapitale Hirsche, die nie ein Mensch gesehen hat, die kein Förster kennt, und die gelegentlich in der Brunstzeit erlegt werden. Man kann wochenlang laufen, um ein Wisenttier zu Gesicht zu bekommen. In manchen Jahreszeiten ist es ausgeschlossen, sie überhaupt zu sehen. Dann sind sie so heimlich, daß sie sich in den Riesenwäldern und unendlichen Dickichten vollständig verkriechen. Wir sahen noch manchen Hirsch im Bast und manchen guten Bock.

Nach etwa zwei Stunden kamen wir kurz vor Dunkelheit wieder in Pleß an.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der rote Kampfflieger